Ronny Meyer

2100- Ein Blick in die Zukunft

Ein Blick. Nur ein kleiner Blick. Ein kurzer, verträumter Blick aus dem Fenster war genug um mich aus dem Halbschlaf zu reißen. Nur grauer Himmel, nur bunte Werbung. Das war es, was sich in mein Gehirn einbrannte. Ich sah riesige Betonklötze, die unaufhaltsam in den Himmel ragten, tunnelartige Gebilde verbanden sie untereinander. Es sah mehr aus wie ein riesiger Termitenbau denn eine Stadt. Ich sah Werbung, groß wie Fußballfelder, die darauf wartete, dass jemand an ihr vorbei lief um denjenigen dann mit Werbebotschaften, visuell sowie in Form von Geräuschen zu bombardieren. Und ich sah das Gitter vor meinem Fenster.
Ich schaltete den Fernseher mit dem dazugehörigen Befehl ein. Er flammte auf, zeigte das Gesicht einer jungen Frau, blond, attraktiv. Sie begrüßte mich freundlich, erkundigte sich nach meinem Wohlbefinden. Ich ignorierte sie, hatte gelernt, sie als das anzusehen, was sie eigentlich war, nicht das, was sie vorgab zu sein.
Sie fragte nach dem Programm, das ich wünschte. „Nachrichten!“ sagte ich. Kein Danke und kein Bitte. Keine Höflichkeitsfloskeln, war sie doch nur eine Maschine, programmiert, einem Menschen ähnlich zu sein.
Der Bildschirm, mehr eine getönte Glasscheibe, wurde kurzzeitig schwarz, flammte dann weiß auf. Die Firmenlogos von CNN und CNBC leuchteten oben in der linken und rechten Ecke auf und ein junger Mann laß aus den neuesten Nachrichten vor. Die attraktive Frau von eben tauchte wieder auf, ein nettes, gutmütiges Lächeln auf den Lippen. „Entschuldigen Sie. Dieses Programm wird auf multilingualer Ebene gesendet. Welche Sprache wünschen Sie? Esperanto? Englisch? Russisch? Deutsch? Hebräisch?“ Sie zählte noch hunderte weitere Sprachen auf. Im Endeffekt wäre es egal gewesen, welche Sprache ich wählte, denn mittlerweile beherrschte ich alle fließend.
Ich wählte Deutsch, war sie doch meine Muttersprache.
Der junge Mann bewegte die Lippen, doch die Worte, die mehr in einem metallischen Tonfall gesprochen wurden, passten nicht zu den Bewegungen der Lippen.
Er redete etwas von Provokation durch den Aggressor, neue Verhandlungen mit Botschaftern aus den Blockstaaten, und derlei politische Dinge mehr.
Es war mir egal. Diese Worte hatte ich schon so oft gehört. Nicht die gleichen Worte, doch der Sinn blieb immer unverändert. Angriff auf Afghanistan vor vielen Jahrzehnten, Angriff auf den Irak, Golfkrieg III, Invasion Kubas. Alles dies hatte ich schon gehört. Immer wieder wurden verschönernde Worte für Grausamkeit gegen Unschuldige gefunden.
Zuerst erschreckten mich diese Vorgänge. Doch mit immer zunehmender Häufigkeit wurde ich beschämt, ignorierte sie am Ende sogar ganz.
Diese Welt war mir egal, bedeutete mir nichts mehr. Nicht nach dem, was sie mit mir gemacht hatten.
Eingesperrt in diese Wohnung über den Wolken Berlins hatten sie an mir herumexperimentiert, haben mir die Pulsadern aufgeschnitten und mich ausbluten lassen. Haben mir Gift gegeben, in Mengen die eine Herde Elefanten außer Gefecht gesetzt hätte. Ich war eine Ratte für sie.
Jede Woche kamen sie, nahmen Haarproben, Speichelproben, DNS- Proben in allen Formen und Farben. Sie schnitten mich von Zeit zu Zeit auf, implantierten mir Geräte, manchmal auch Dinge, die andere Menschen getötet hätten. Sie schnitten Stücke aus meinen Organen aus, beobachteten, wie mein Körper reagierte. Sie nahmen mir das Herz raus. Volle zwanzig Minuten, setzten es mir danach wieder ein. Durchtrennten mein Rückenmark und deckten alle ihre Machenschaften unter dem Mantel der Wissenschaft.
Zu Anfang war immer noch ein Psychiater hier. Er redete mit mir, wollte wissen, wie es zu diesem Umstand kam. Wie es dazu kam, dass ich nicht sterben konnte. Dass ich unsterblich war.
Ich weiß es bis heute noch nicht, habe keine Erklärung dafür. Vor siebzig, achtzig Jahren hatte ich mir einmal gewünscht, nie zu sterben. Und ab dem vierzigsten Lebensjahr alterte ich nicht mehr. Die Ärzte meinten, es sei eine Laune der Natur, irgendwann werde ich sterben und aussehen, als wenn ich nur vierzig geworden wäre. Das war vor fünfzig Jahren. Ich alterte nicht, konnte nicht sterben. Ich stürzte mich einmal aus dem Fenster. Viel zweihundertfünf Stockwerke. Ich entspannte mich, dachte, dass endlich alles vorbei sei. Doch ich kam unten auf, brach mir sämtliche Knochen. Doch ich starb nicht. Deswegen war mein Fenster jetzt vergittert. Sie hatten Angst, dass ich flüchten könnte.
Es interessierte niemanden, was ich wusste, was ich konnte. Ich war Objekt 2313 ALPHA. Ich war eine Nummer in einem Archiv. Ein Objekt an dem man Mittel testete, in dem man den Code für Unsterblichkeit suchte. Früher hatte ich eine Frau. Wir hatten Kinder. Eine Familie. Meine Frau ist tot. Meine Kinder teilweise auch. Oder vegetieren in Altersheimen vor sich hin. Ihre Enkel haben mich nie gesehen. Ich kenne nur einen von ihnen. Er arbeitet hier im Labor, in dem ich regelmäßig seziert werde. Er kennt mich nicht, weiß nicht, wer ich bin.
Mein Wunsch war ein unendliches Leben.
Nicht unendliche Qual.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.01.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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