Stephan Lill

Oskar und Napoleon

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Oskar und NapoleonOskar und Napoleon

Oskar starrte auf den Eingang des kleinen Fußgänger-Tunnels. Ein Dackel saß davor. »Willst Du mich nicht vorbeilassen?«
Der Dackel sah zu ihm empor und sagte: »Ich bin der Torwächter. Der Hüter und Bewacher dieses Tunnels. Er ist ein Portal. Wenn du hier durchschreitest, dann kommst du verändert heraus: Jugend, Kraft und Harmonie erwarten dich auf der anderen Seite. Aber nur, wenn du mit der richtigen Geisteshaltung durch diesen Tunnel marschierst.«
Oskar kratzte sich am Kopf. Dann sah er auf die Schnapsflasche, die er in einer kleinen Papiertüte trug. »Na, da gönne ich mir erst mal einen Schluck, bevor ich mit dir weiterdiskutiere. Du scheinst ein ausgesprochen kluger Dackel zu sein. Apropos ausgesprochen: du sprichst völlig akzentfrei. Wo hast du das gelernt? Ein wenig erinnert mich dein Tonfall an mich selber. Kann es sein, dass du dir meine Stimme ausgeliehen hast? Aber dann hätte ich jetzt selber keine Stimme, um dich genau das zu fragen.«
Oskar ließ sich auf eine der Parkbänke niedersinken und blickte hinüber zum Ententeich. »Kannst du nicht einfach ein paar Enten jagen? So wie jeder anständige Dackel? Wieso treffe ich immer Leute, hohe Tiere, kleine Tiere, die mir den Weg versperren?«
Der Dackel setzte sich zu ihm auf die Parkbank. »Du könntest mir ein bisschen von deinem Schnaps abgeben. Bestechung ist immer gut. Und wenn ich beschwipst bin, dann verrate ich dir vielleicht die großen Geheimnisse des Lebens.«
Oskar goss sich Schnaps in seine hohle Hand und hielt seine Hand vor die Schnauze des Dackels. »Hast du keinen Becher? Was für einen Lebensstil pflegst du eigentlich?«
Oskar sah hinüber zu dem Tunnel. »Ein Tunnel für Fußgänger. Früher, da hatte ich einen Sportwagen. Da hättest du neben mir fahren können auf dem Beifahrersitz, das Fell zerzaust vom Fahrtwind. Damals. Willst du wissen, was passiert ist?«
Der Dackel leckte den Schnaps aus der Hand von Oskar und sagte: »Nein. Ich gehe jetzt lieber Enten jagen. War ein guter Vorschlag. Ich fühle mich beschwingt. Pass bloß auf, dass dich der Tierschutzbund nicht erwischt: Kleine Dackel mit Schnaps abfüllen. Völlig unmoralisch. Und lecker. Gibst du mir noch einen aus?«
»Erst wenn du mir das Geheimnis dieses Tunnels verrätst. Wieso ist das ein Portal? Welches wäre denn die richtige Geisteshaltung, um dort triumphierend hindurchzumarschieren?«
»Das fragst du einen besoffenen Dackel? Dir scheint es wirklich an kompetenten Gesprächspartnern zu mangeln.«
»Dafür habe ich Zeit. Jede Menge. Nichts zu tun, als das eigene Gewicht zu tragen. Ich trage schwer an meiner Person. Obwohl meine Person am Verschwinden ist. Die Leute sehen mich schon beinahe kaum noch. Sie sehen durch mich hindurch. Früher, da war ich stattlich, hatte Macht.«
»Früher, da war ich ein Welpe. Und die großen Doggen haben mich gejagt. Ich hatte mir so gewünscht schnell groß zu werden, um es dann im Kampf mit ihnen aufnehmen zu können. Doch ich wuchs leider nur in die Länge, nicht in die Höhe. Aber weißt du was? Ich bin gerne Dackel. Und darauf kommt es doch an: gerne das zu sein, was man ist.«
»Das erscheint mir momentan als das Schwerste auf der Welt.«
»Tja, aber genau diese Geisteshaltung brauchst du für diesen Tunnel. Dann erwarten dich am anderen Ende Jubel, Trubel, Seligkeit.«
Eine Ente spazierte dicht an ihnen vorbei. Oskar warf ihr einige Brotkrumen zu. Die Ente verneigte sich und sagte: »Danke. Das sah doch nicht aus, als würde ich betteln, oder? Ich mag es nicht, wenn man denkt, ich sei aufdringlich. Ich bin nicht so ein aufdringliches Federvieh. Aber ich bin hungrig.«
Die Ente schnappte sich einige Brotkrumen und watschelte dann hinter einen Baum. Von dort schaute sie zu ihnen hinüber. »Ente komm wieder hervor. Ich bin ein sittsamer Dackel. Zumindest bis ich Oskar erklärt habe, was Sache ist. Muss meine Mission doch erst getreulich erfüllen.«
Die Ente kam wieder zögernd näher. »Wieso weißt du, dass ich Oskar heiße?«
Der Dackel legte seinen Kopf in Oskars Schoß. »Wenn du in die Welt hinausschaust, dann siehst du beständig nur dich selbst. Sogar die Ente ist ein Teil von dir – zumindest aus deiner Sicht. Aus der Sicht der Ente, bist du ein Teil von ihr. Wir stecken alle einer in dem anderen. Sind Eines.«
Oskar blickte ratlos zu der Ente hinüber. »Verstehst du den Dackel? Mir scheint, ich bin es selber, der sich artikuliert mit Hilfe dieses Dackels. Somit wäre dieses ein Selbstgespräch. Aber ich verstehe mich selber nicht. Irgendwie müssen die Worte sich verdreht haben auf dem Weg in das Dackel-Gehirn.«
Der Dackel drehte seinen Kopf und blickte zu Oskar empor. »Das war völlig verständlich, was ich dir sagte. Aber du musst ein Philosoph sein, um es würdigen zu können.«
Die Ente watschelte zu der Parkbank und sagte: »Ich bin eine hochphilosophische Ente und kann dir das mal erklären. Pass auf, Oskar.«
Oskar hielt sich die Ohren zu. »Ich will nicht belehrt werden von einer Ente, die angeblich etwas von Philosophie versteht. Ich trinke noch einige Schlucke Schnaps und dann könnt ihr beiden nicht mehr sprechen, weil mein Gehirn dann nicht mehr zu eurer Verfügung steht.«
Der Dackel gähnte. »Ist es das, was du willst? Deine Ruhe haben vor dir selbst? Du fürchtest nicht so sehr die Welt, sondern du fürchtest dich vor dir selbst. Schon mal etwas von dem himmlischen Zwilling gehört? Den hat jeder. Das ist dein Idealbild, dein Selbst, so wie du sein könntest, wenn du deine Möglichkeiten nutzen würdest. Du nutzt keine Möglichkeiten.«
Oskar seufzte. »Vielleicht sollte ich dir zuhören, auf dich hören. Entweder werde ich dann weise oder wahnsinnig.« »Prima. Ich habe eine unendliche Menge an Tipps für dich. Ich bin der Dackel, der aus dem Unterbewusstsein kam.«
»Da oben, die Möwen; werden die auch gleich allesamt zu mir sprechen?«
»Wenn du sie darum bittest.«
»Ich warte erst Mal ab, wie sich unser Gespräch entwickelt. Eigentlich bin ich froh, dass du dir Zeit für mich nimmst. Kann ich für euch auch etwas tun?«
Die Ente sagte: »Du könntest uns loben. Zum Beispiel mein schönes Gefieder. Mein ganzer Stolz.« Die Ente spreizte ihre Flügel.
»Du könntest meinen goldigen Hundeblick zur Kenntnis nehmen und ganz gerührt sein.«
»Loben? Ich soll Euch loben? Die Welt loben? Sieh dir an, was die Welt mir angetan hat.« Oskar zog an seiner schäbigen Kleidung. »Ich bin so einsam, dass nur noch Tiere mit mir reden.«
Die Ente flatterte mit den Flügeln. »Was heißt hier: nur noch Tiere? Etwas mehr Achtung bitte sehr. Das ist genau das, wovon der Dackel eben gesprochen hat. Zeige Respekt und du bekommst Respekt. Ich meine damit nicht Unterwürfigkeit, sondern Achtung vor dem anderen. Zeige ihm, dass er wertvoll ist und willkommen im Diesseits. Verscheuche ihn nicht ins Jenseits. – Heute ist das Diesseits besonders schön. Die Sonne scheint kräftig und es gab reichlich Brotkrumen.«
»Du bist einfach glücklich zu machen. Ich aber trage Erinnerungen mit mir herum, Meinungen über mich selbst, Vorwürfe: die schleppe ich mit mir herum, werde sie nicht los.«
»Weißt du was? Hier ist ein großer Abfallbehälter neben der Parkbank. Da tust du jetzt die ganzen unnützen Sachen rein und dann kommst du mit mir durch diesen wunderbaren Tunnel. Er wird dir zum Portal und du erreicht dahinter ein Land das sich Königreich nennt: Oskars Königreich. Aber achte darauf, wenn du etwas wegwirfst, ob du es nicht doch noch benötigst. Manches sieht unnütz aus, ist aber mega-nützlich.« Der Dackel schob den Abfallbehälter zu ihm herüber.
Oskar ließ pantomimisch einige unsichtbare Dinge hineinfallen und klopfte sich dann die Hände. »Ich fühle mich schon leichter, unbeschwerter. Ich bin froh, dass ich zwei so kluge Tiere heute Morgen getroffen habe. Kann ich jetzt durch das Portal gehen?«
»Da kommst du schon. Sieh genau hin. Denn du bist ja schon auf der anderen Seite des Portals. Alles Ansichtssache.«
Aus dem Dunkel des Tunnels trat eine Person hervor. Sie blieb stehen. Oskar beugte sich vor. »Könnten Sie weiter hervortreten? Ich kann sie kaum erkennen. Ich kann ihr Gesicht nicht erkennen.«
»Was können Sie denn erkennen?«
»Ihre Kleidung erinnert mich an Napoleon.«
»So ein Zufall. So heiße ich auch.«
Napoleon ging vor dem Tunnel auf und ab. »Ich habe dort im Dunkeln gesessen, gestanden, gehofft: und nun ist es vollbracht. Ich bin ans Licht hinausgetreten. Die Sonne scheint so warm. Der Dackel hat mich befreit. Er war mein Fürsprecher.«
Oskar ging zu Napoleon und begann neben ihm herzugehen. »Warum marschieren wir vor diesem Tunnel auf und ab?«
»Weiter traue ich mich noch nicht. Dieser Tunnel gebar mich, dieser Tunnel ist mein Schutz. Wie sicher ist die Welt?«
Oskar nahm einen Schluck aus seiner Schnaps-Flasche. »Mit Schnaps als Schutz ist es gerade erträglich. Kennst du einen besseren Schutz?«
Napoleon blickte ihn an. »Wieso brauchst du Schutz vor dir selbst? Die ganze Welt bist du selbst. Allerdings schade, dass du dir selbst dein größter Feind bist. Solche Schlacht gewinnt man im allgemeinen nicht. Weißt du, warum ich besiegt wurde? Ich habe den Kampf gegen mich selbst verloren: meine eigene Machtgier, Zügellosigkeit hat sich ins Wahnhafte gesteigert. Ach, wäre ich Realist geblieben. Den Wahn, die Illusion verbrüdern mit der nüchternen Realität: wem das gelingt, der besiegt die Welt und der besiegt sich. Willkommen war mir der Rausch der Macht, die Vision meiner Möglichkeiten. Warum erzähle ich dir das? Weil wir Eines sind. Du brauchst mich und ich brauche dich: Held und gescheiterter Mensch – sie verbrüdern sich und fangen wieder neu an – haben dazu gelernt. Denn darauf kommt es an: sich die Erinnerungen zu bewahren und seien sie noch so schmerzlich, Denn sonst sind wir alle zur Wiederholung verdammt, zur endlosen Wiederholung, ohne die Möglichkeit des Fortschrittes, des Verzeihens. Verzeihe dir, verzeihe der Welt. Ich bin an deiner Seite.«
Napoleon blieb abrupt stehen. Oskar blieb gleichfalls stehen. »Ihr habt eine Menge guter Ratschläge für mich. Was kann ich Euch geben?«
Oskar blickte an sich hinunter. »Was ich besitze, trage ich bei mir. Mir wurde alles genommen. Oder ich habe es mir nehmen lassen. Ich werde nicht durch diesen Tunnel gehen. Für mich gibt es keinen Neuanfang. Dieser Schnaps hier ist mein Trost, meine Zuflucht, mein Schutz. Und er wird mir den Weg öffnen hinaus aus dieser Welt; ganz gemächlich und ohne dass ich es bemerke, gleite ich hinüber ins völlige Vergessen. Was sollte mich hier halten – in einem Diesseits, das unerfreulich ist, nicht zu meistern für mich. Ich stehe in dieser Welt waffenlos da, völlig ungeborgen, angreifbar – vor allem ich selber greife mich an, attackiere mich schwer mit Vorwürfen, spüre den Mangel, die Diskrepanz zwischen dem, was ich sein sollte, sein könnte. Ich gleiche meinem himmlischen Bild keinesfalls. Lichtjahre trennen mich davon und ich entferne mich immer weiter.«
Napoleon legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Dann gehe in die andere Richtung. Gehe deinem himmlischen Bild entgegen, deinem Zwilling. Ich bin dein Zwilling: in deinem Geist dort sind wir beide zusammen und versuchen diese Welt zu meistern. Das Reale und das Mögliche – beieinander. Werde, was du eigentlich bist. Sonst bleibe ich nur ein Schema, ein Schatten – ohne Existenz. Verhilf mir präsent zu sein.«
Napoleon blickte ihn an und ging langsamen Schrittes in den Tunnel. »Warte, warte auf mich! Ich folge Dir. Da du mich bittest dir beizustehen, so habe ich eine Aufgabe, und darf sie nicht leugnen.«
Oskar stellte die Schnapsflasche auf den Boden. Dann ging er zum Tunnel. Der Dackel bellte. Oskar drehte sich zu ihm um. »Mach's gut Oskar. Ich bleibe hier sitzen vor dem Tunnel, warte auf diejenigen, die mich brauchen, um ihnen das Geheimnis dieses Tunnels zu erklären. Denn ich bin der Torwächter. Und um den Schnaps kümmere ich mich und vielleicht gebe ich der Ente auch etwas ab.«
Oskar lächelte. 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.08.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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