Michael Reißig

Die eigenartige Fahrt zum Bahnhof

„War wieder wunderschön, dieses Wochenende mit dir”, schwärmt Kathy von Thomas - ihrem Goldschatz, den sie für kein Geld der Welt mehr hergeben würde - in höchsten Tönen.
„Meine ich auch”, sagt der dickliche Herr im luftigen Shirt, der unmittelbar vor der Schwelle zum fünfzigsten Geburtstag steht, während er den Motor seines Citroen Saxo zum Laufen bringt.

In seiner freundlichen Stimme schwingt in so einem Augenblick stets ein Hauch von Melancholie mit.
Aber das ist jedes mal so, wenn der Abschied näher rückt, obwohl Thomas jetzt schon weiß, dass er sie bereits am nächsten Wochenende wieder in seine Arme schließen wird. Der kleinen zierlichen Frau mit dem schönen seidig glänzenden blonden Haar, welches sich in sanften Bögen akkurat um ihre Ohrläppchen schwingt, ergeht es nicht anders.
Fast jeden Sonntag bringt er Kathy mit seinem Wagen zum beschaulichen Bahnhof dieses malerischen Städtchens.

Rücksichtsvoll und so geschickt wie immer, zwängt er sich aus der Parklücke hinein in den fließenden Verkehr..
Doch nach etwa dreihundert Metern Fahrt, unmittelbar hinter einer engen, schwer einzusehenden Kurve, fährt ein mächtiger Schreck durch Mark und Bein des in letzter Zeit so glücklich gewordenen Schwarzschopfes..
Auch Kathy zuckt mächtig zusammen und macht ihrem Ärger verständlicherweise Luft.
„Kann denn die alte Dame nicht aufpassen! wettert sie, unmittelbar nachdem Thomas das Bremspedal seines Wagens voll durchgedrückt hat. Trotz des geringen Tempos in dieser Dreißiger-Zone, haben die Reifen kurz angefangen zu quietschen und auch viele winzige Steinchen sind davongespritzt.
„Das darf doch nicht wahr sein, das ist doch meine Ehemalige!”, stellt er mit einigem Entsetzen fest.
Zwei Augenpaare stehen sich nur wenige Zentimeter gegenüber.
Doch die ebenfalls vom Schreck getroffene Susanne, seine einstige Ehefrau, mit der er mehr als zwei Jahrzehnte seines Lebens geteilt hatte, wagt nur einen kurzen Blick in die Augen des Verwunderten.
Einen längeren Blick möchte sie wahrscheinlich auch nicht riskieren - verständlich nach den Turbulenzen der letzten Ehejahre.
In diesem Augenblick ist ihm aber völlig klar geworden, dass es seiner einstigen Geliebten, die wenige Meter hinter dieser berüchtigten Kurve zwischen zwei parkenden Autos urplötzlich hervorgetreten ist, im schlimmsten Falle auch hätte, das Leben kosten können.
Hätte er auch nur eine Zehntelsekunde später gebremst, wäre es vermutlich um sie geschehen.
So aber hat er sie - Gott sei dank - nicht mal berührt.
„Die sieht aber aus, fast schon wie eine Siebzigjährige, nicht aber wie fünfundvierzig", stellt die Einundfünfzigjährige Frau verwundert fest, als die Räder sich wieder in Bewegung setzen.

Thomas hatte Kathy auch schon Dias von dem fotogenen Mädchen gezeigt, auf denen ihr bezauberndes Grübchenlächeln nicht zu übersehen ist. Und nun das!
Ihr pechschwarzes Haar unansehnlich fettig, das Gesicht voller tiefer Falten, von der einst so schönen Figur ist nichts mehr übrig geblieben. Die Frau ist total abgemagert - ihr Körper besteht fast nur noch aus Haut und Knochen - dazu passend, diese schäbigen, diese ausgewaschenen Jeans.
„Das ist nicht nur das fortgeschrittene Alter, die muss in den letzten Jahren unsäglich gelitten haben”, mutmaßt Thomas im Brustton der Überzeugung.
Auch Kathy vermutet es.

Nach einem heftigen Streit hatte Susanne - für Thomas völlig überraschend - Tschüss gesagt.
Wie sehr hatten sich die beiden doch geliebt, wie sehr, ja wie sehr! Doch im Laufe der Jahre hatten sich die beiden auseinander gelebt. Eine der Ursachen für die zunehmenden Zwistigkeiten waren die unüberbrückbaren Meinungsverschiedenheiten zwischen Thomas und Susannes siebzigjährigen Mutter, die, nach dem plötzlichen Tod ihres Gemahlen, überhaupt nicht mehr zu genießen war.
Sie hatte nichts unversucht gelassen, um einen Keil zwischen die beiden zu treiben.
Susanne hatte der rebellischen Art ihrer Mutter - die an einer krankhaften Sammelleidenschaft oder besser gesagt, am so genannten Messiesyndrom leidete, was zur Folge hatte, dass sich zahlreiche Müllberge in fast allen Winken ihrem Einfamilienhaus türmten - nichts entgegenzusetzen.
Eine Frau, die über Leichen gehen konnte, eine Frau, die nur sehr selten bereit war, auch mal einem Rat anderer Menschen zu folgen. Als Thomas ihr eines Tages empfohlen hatte, sich doch mal in die Obhut eines Psychotherapeuten zu begeben, kannte ihre Wut keine Grenzen mehr. Sie tobte wie ein kaum noch zu bändigendes Raubtier. Das Gift, es schwelte förmlich in in ihren stechenden grünen Augen.

Sieben lange Jahre ist es nun schon her, als Susanne seine Wohnungstür hinter ihm zugeschlagen hatte. Seit dieser Zeit leidet Thomas unter dieser quälenden Einsamkeit. Sieben zermürbende Jahre, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen. Als besonders schlimm erwiesen sich die ersten Jahre nach der Trennung. Da hatte die schöne Susanne nicht nur vor seinen geistigen Augen gestanden, sondern sie tauchte auch in wunderschönen Träumen in steter Regelmäßigkeit auf, bis dann schließlich die grausige Realität des morgendlichen Erwachens ihn wieder einholen sollte.
„Ein leeres Bett, eine Decke, die in jedem Augenblick auf den Kopf zu fallen droht - wie lange, verflucht, wie lange soll ich das noch aushalten!” zermarterte er sich unablässig seinen Kopf.

Doch nach sechs endlosen Jahren - sollte dieses ewige Warten auf Liebe, auf Wärme und Zärtlichkeit, endlich ein Ende finden.
Kathy und Thomas haben durch das Internet zueinander gefunden.
Bereits nach dem ersten Date auf dem Dresdener Hauptbahnhof hatte es zwischen den beiden gefunkt. Es ist nicht nur der Sex, der das Paar zusammengeschweißt hat. Es sind vor allem auch die menschlichen, die inneren Werte, Von Geburt an leidet die Frau, die ein Jahr älter als Thomas ist, unter der unheilbaren Lungenkrankheit COPD. Besonders an schwülen heißen Tagen wird das Ausatmen für sie nicht selten zur Qual.
Thomas weiß aus aus eigener Erfahrung, was ein hoher Leidensdruck wirklich bedeutet - Kathy aber auch - und das nicht nur wegen ihrer chronischen Erkrankung. Zwei Scheidungen und ein gespaltenes Verhältnis zu ihrer Mutter, hatten auch tiefe Wunden in ihre Seele gegraben.

Eng umschlungen gehen beide zum Bahnsteig.
„ Mein Spatz, am liebsten würde ich dich gar nicht mehr hergeben”, sagt Kathy mit wohlig sanfter Stimme.
„Ich dich natürlich auch nicht, aber wir sehen uns Freitag doch schon wieder”, tröstet Thomas sein liebes Goldkehlchen. Zum Abschied drückt er ihr noch einen langen, einen nicht enden wollenden Kuss auf seinen schmalen sinnlichen Mund.
Kathy ist die letzte der Reisenden, die in den Zug einsteigt.
Im Abteil angekommen wirft sie ihm noch einen Kuss zu, den Thomas in gewohnt herzlicher Art erwidert. In dieser Sekunde sind beide den Abschiedstränen sehr sehr nahe - ein sichtbares Zeichen des Vertrauens.

                                                  *

Natürlich ist Susanne nach wie vor in seinem Gedächtnis haften geblieben. Erinnerungen lassen sich nicht einfach löschen wie die Datei eines Computers. Möchte auch auch nicht. Zu schön waren auch die Erlebnisse mit ihr gewesen.
Doch der Schmerz dieser Erinnerungen ist nun auf- und davongeflogen.
Endlich!

 

Dass die unfreiwillige Begegnung mit der ehemaligen Partnerin im Beisein der neuen Bekanntschaft sehr unangenehm sein kann, macht diese Geschichte deutlich, in der auch die wichtige Rückblende nicht zu kurz kommt.
Eine sehr authentische Geschichte.
Michael Reißig, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.08.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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