Diethelm Reiner Kaminski

Die fetten Jahre

Mit
der Finanzkrise hat sich unser Vater radikal verändert. Ehemals der
großzügigste Mensch, den man sich denken kann, rückt er jetzt kaum noch einen Euro
freiwillig heraus. „Die fetten Jahre sind vorbei“, hören wir ihn ständig
lamentieren, und im Chor vollenden wir den Satz: „Und sie kommen so bald nicht
wieder“.

Um
in der Krise zu überleben, muss gespart werden. Eisern. Alles kommt auf den
Prüfstand. Brauchen wir jeden Morgen frische Brötchen? Nein. Altbackenes Brot
tut es auch. Das gibt es ab 18.00 Uhr zum halben Preis. Dass der Weg zur Bäckerei
mit dem Preisnachlass dreimal so weit ist, zählt nicht. Brauchen wir eine
Tageszeitung? Nein. Die Negativmeldungen verstärken nur das subjektive
Empfinden der Ausweglosigkeit. Benötigen wir überhaupt Winterkleidung? Die globale
Klimaerwärmung macht sie mit 90-prozentiger Wahrscheinlichkeit überflüssig.

Unser
Vater denkt sich immer neue Einsparmöglichkeiten aus und verkündet sie wie ein
Feldherr nach siegreicher Schlacht. Mutter und wir nehmen sie mit gesenkten Köpfen
entgegen und widersprechen nicht, denn Widerspruch würde noch schärfere finanzielle
Einschränkungen nach sich ziehen.

Wenn
wir trotzdem nicht unter der Wirtschaftskrise leiden, ist das allein unserer
Mutter zu verdanken, die gar nicht daran denkt, die Sparbeschlüsse ihres Mannes
umzusetzen. Sie tut nur so, als befolge sie sie. In Wahrheit huldigt sie einer
gegenteiligen Lebensauffassung. „Was man hat, das hat man, das kann uns niemand
nehmen.“ Uns Kindern gefällt Mutters Lebensphilosophie besser, denn wir
profitieren von ihr, und so unterstützen wir sie mit immer neuen Wünschen. Die
werden nicht nur geäußert, sondern auch erfüllt. Wir haben noch nie so viel
Geld ausgegeben wie in der Krise. Die Krise ist der Motor, Mutter ist die
Geldmaschine, wir Kinder sind die Antriebsriemen. Das läuft wie frisch geölt.
Hinter dem Rücken unseres Vaters. Mutter hat vorgesorgt. Sie hat in weiser
Voraussicht ein Sparbuch eröffnet und hält es vor ihrem Mann geheim. Viele
Jahre hindurch hat sie einen Teil des damals noch üppig fließenden
Haushaltsgeldes abgezweigt und auf die Bank getragen. Dazu die Zinsen,
Geldgeschenke an Geburtstagen und zu Weihnachten, kleinere Nebenjobs, eine ansehnliche
Erbschaft. Mutter hat mit den Jahren ein recht stattliches Vermögen angehäuft.
Und davon lassen wir es uns gut gehen. Ohne Vater. Der darbt und kasteit sich. Aus
freien Stücken. Deswegen haben wir auch kein Mitleid mit ihm. Kaum hat er
morgens sein altbackenes Brot mit dem zweiten oder dritten Aufguss eines
Teebeutels runtergespült und das Haus verlassen, holt Mutter frische Brötchen
vom Bäcker und Aufschnitt vom teuren Bioschlachter. Während wir das gemeinsame
Frühstück genießen, sagt Mutter gewöhnlich: „Wer weiß, was noch kommt. Deshalb soll
man sich seine Wünsche gleich erfüllen und nicht auf die lange Bank schieben.
Habt ihr irgendwelche Wünsche?“ Welche Kinder haben keine Wünsche? Immer neue,
immer anspruchsvollere. Und Mutter erfüllt sie. Eine Spielkonsole für Sven, ein
Mountainbike für Jenny und neue Tennisschläger für mich. Das Wort „sparen“ hat
in unserem aktiven Wortschatz keine Bleibe, nur in unserem passiven, denn Vater
schwingt erbarmungslos die Peitsche des Knauserns über unseren scheinbar
einsichtigen Köpfen. Am schwierigsten ist es, die vielen Neuanschaffungen vor
Vater zu verbergen oder – wenn er doch eines unserer Luxusgüter entdeckt – eine
glaubwürdige Ausrede zu finden. Auch in dieser Hinsicht lernen wir jeden Tag dazu.
Mutter ist unerschöpflich im Erfinden von Ausreden und Erklärungen. Mal sind es
spottbillige Sachen aus dem Secondhand-Laden oder Schnäppchen vom Trödelmarkt,
mal geliehene oder geschenkte Sachen, mal abgelegte der Familie ihrer Schwester.
Vater hält Mutter für eine tüchtige Frau, die sparsam wirtschaftet und aus
wenig viel macht. Er dagegen ist vor allem tüchtig im Erfinden weiterer
Einsparmöglichkeiten, aber er ist vergesslich und außerdem ein miserabler Rechner.
Während er vermeintlich spart, merkt er gar nicht, dass er uns Verschwendern in
die Hände arbeitet. Vom ihr zugestandenen Haushaltsgeld schafft Mutter einen
Teil auf ihr eigenes Sparbuch. Von Preisen hat Vater keinen blassen Schimmer.
Er glaubt Mutter unbesehen, dass alles von Tag zu Tag teurer wird. Und die
schwarzseherischen Fernsehberichte bestärken ihn in dieser Meinung.

So
bleibt das Guthaben auf Mutters Sparbuch trotz der vielen heimlichen Ausgaben
erstaunlich konstant.

Eigentlich
sind wir eine glückliche Familie. Auch in oder gerade wegen der Krise. Die
gegenseitige Achtung ist der Kitt, der unsere Familie zusammenhält. Wir
bewundern je zur Hälfte Vaters unbeirrten Sparwillen und Mutters Lust am
Geldausgeben. Vater lobt unsere Folgsamkeit und sieht darin die Bestätigung für
die Richtigkeit seiner strengen Erziehung.

„Du
solltest dir auch mal etwas gönnen“, sagt Mutter zu Vater, „zum Beispiel eine
neue Hose, wir sparen das an anderer Stelle wieder ein.“

„Die
alte macht es auch noch“, sagt Vater dann, erfreut über so viel Aufmerksamkeit
und Fürsorglichkeit seiner Frau. „Aber die fetten Jahre sind nun mal vorbei.“

Wir
Kinder nicken zustimmend und ergänzen mit schicksalsergebenen Mienen: „Und sie
kommen so bald nicht wieder“, während wir bereits im stillen das eingesparte
Geld für Vaters neue Hose unter uns aufteilen.


   

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.08.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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