Michael Dauk

Seminarbeginn

Peter nannte mich Dackel.

 

Ich weiß nicht, ob es an meiner Physiognomie lag oder einfach eine Verballhornung meines Namens war. Er nannte mich Dackel. Ich hatte mich daran gewöhnt, und es störte mich nicht. Ich empfand die Bezeichnung weder diskriminierend noch spöttisch. Ich glaube, für Peter war es einfach nur ein Name, mehr nicht. Peter und ich waren nicht im wirklichen Sinne richtig Freunde, eher wohl das, was unter guten Kumpels verstanden wird.

 

Die Bundesligasaison war vorüber, der HSV hatte einen achtbaren 4. Rang belegt, und die Meisterschale durfte die Borussia mit nach Hause nehmen. Borussia Mönchengladbach! In den Wettkampf eingegriffen hatten so illustre Vereine wie Fortuna Düsseldorf, Kickers Offenbach, Eintracht Braunschweig, Rot-Weiß-Essen, Tennis Borussia Berlin und der Wuppertaler SV. Ich saß an einem Sonnabendmittag auf meinem Balkon in der Sonne, hörte über Kopfhörer Mahlers 2. Sinfonie und versuchte dabei gar nicht erst, in dem Buch auf meinen Knien zu lesen. Camus oder Maler, Dr. Rieux oder Solti, es war nur eines zur Zeit möglich. In meiner Versunkenheit dauerte es lange, ehe ich das Telefon hörte.

 

Mensch, Dackel, hörst wieder Klassik, ne?“ Peter. „Wollen wir heut´ Abend zu Pedro gehen?“ fragte er mich. Ich hatte nichts anderes vor, so verabredeten wir uns für 8 Uhr abends in seiner Wohnung.

 

Seine Wohnung! Der Alptraum eines möblierten Appartements über der Bowlingbahn an der Hamburger Straße. Schrillblaue Auslageware, abgetreten, faserig und fleckig, eine Nische für ein Auszieh-Doppelbett. Im Flur ein winziger Erker, der eine Kochgelegenheit aufnahm, die mit dem Modewort Kitchenette bezeichnet war und auch keinen anderen Namen verdiente. Zwischen Schlafnische und Kitchenette ein schlauchförmiger Wohnraum (denn irgendwo musste in diesem Appartement schließlich auch der Fahrstuhlschacht untergebracht werden), zwei Sessel, eine Zweiercouch, beides in unvermeidlichem Blau gehalten, ein niedriger Couchtisch mit Glasplatte. Wohlgefühl wollte an diesem Ort nicht aufkommen. Der einzige scheinbare Vorteil der Wohnung war eine durchgehende Fensterfront auf der Längsseite, die allerdings dem Straßenlärm auf der Kreuzung und dem Rumpeln und Kreischen der nahen U-Bahn wenig Widerstand entgegen brachte. Seltsamerweise war von der direkt unter dem Appartement gelegenen Bowlingbahn kaum etwas zu spüren. Lediglich war ein leichtes Zittern zu vernehmen, wenn ein Anfänger wieder einmal die Kugel fast senkrecht auf die Bahn knallte.

 

Peter und ich hörten uns die neue Platte von Pink Floyd an, sprachen aber nicht darüber, weil wir uns ohne Worte einig waren, dass wir ein Meisterwerk vor uns hatten. Über Fußball redeten wir auch nicht, denn wenn es etwas gab, das Peter hasste, war es Sport in jeder Variation. Also verfielen wir auf die Politik. Ich war in einer Zelle des KBW engagiert, während Peter ein glühender Anhänger der SPD war. Es gab also genügend Reibungspunkte! Es ließ sich mit Peter vorzüglich streiten, nie wurde er ausfallend, hörte Argumenten zu, ließ sich jedoch nur äußerst schwer überzeugen.

 

Gegen 10 Uhr riefen wir bei Pedro im „Amon Düül II“ in der Papenhuder Straße an und bestellten 2 Pilsner Urquell vom Fass. Der nächste Anruf galt einem Taxi. Als wir im „Amon Düül II“ ankamen, standen die beiden Gläser bereits auf dem Tresen, die Schaumkronen wie aus blasigem Gips modelliert. Pedro war eben ein Purist. Bevor wir noch die Gläser in die Hand nahmen, bestellten wir bereits die nächsten. So sollte es für die nächsten Stunden bleiben. Pedros kulinarische Spezialität waren Schnecken in Knoblauchsauce. Eine Sauce, die zur Hälfte aus siedendem Öl bestand. Den Geschmack von Weinbergschnecken habe ich bis heute nicht ergründen können, mir ging es immer nur um die Sauce und das dazu gereichte köstliche, frische Weißbrot. Die Schnecken mussten mit äußerster Vorsicht genossen werden, waren sie doch vom Öl so heiß, dass sie nicht ohne kühlende Maßnahmen verspeist werden konnten. Ich führte gerade eine Schnecke zum Mund, blies mit spitzen Lippen darüber, als ich Uta und Ulla in der Tür erblickte. Vor Überraschung nahm ich die Schnecke in den Mund und spuckte sie sofort wieder aus. Aber es war zu spät: In Sekundenschnelle hatte sich eine Blase in der Größe eines Fünfmarkstückes an meinem Gaumen gebildet. Ich starrte die beiden Frauen – wahrscheinlich auch auf Grund des Schmerzes in meinem Mund – wohl ziemlich blödsinnig an. Uta kam auf mich zu, legte mir die Hand auf den Arm und fragte: „Na, war die Polizei schon da?“ Peter verschluckte sich an seinem Bier, prustete einen Sprühregen über den Tresen, Ulla und Uta schauten sich grinsend an. Peter und ich hatten die beiden vor einem halben Jahr im „Pony“ in Nienstedten kennen gelernt, als wir die halbe Nacht durchtanzten, dabei zu Viert 2 Flaschen Moskovskaya leerten und schließlich gemeinsam auf dem blauen Auszieh-Doppelbett über der Bowlingbahn landeten. Die traute Viersamkeit wurde in den frühen Morgenstunden jäh unterbrochen, weil eine genervte Nachbarin das Schreien von Ulla fälschlicherweise als Wut-, Angst- oder Abwehrreaktion interpretiert und die Polizei gerufen hatte. Seitdem hatten wir uns nicht wieder gesehen.

 

Uta aus Nienstedten, Nienstedten mit S-T, von Beruf Tochter, blond, sportlich, ohne eine Spur von Make-Up oder Lippenstift im Gesicht, fragte mich: „Was machs-t du denn s-tändig mit deinem Mund?“

 

B..h...aase am ...h...aumen!“

 

Hä, was hassu?“ Ulla aus Bambek-Basch, von Beruf Kindererzieherin, blond, sportlich, ohne eine Spur von ... im ...

 

B..h...aase am ...h...aumen!“ Inzwischen war der Schmerz fast unerträglich.

 

War das damals zu dolle für ihn?“ fragte Ulla Peter.

 

Ich weiß nicht, der ist schon die ganze Zeit so!“

 

Ich drückte mit aller Kraft die Zunge gegen den Gaumen, die Blase platzte, und ein Schwall von warmer Flüssigkeit breitete sich in meinem Mund aus. Tapfer schluckte ich herunter. Der Schmerz ließ fast augenblicklich nach.

 

Was war´n das?“ Ulla.

 

Eineinhalb Liter Blasenflüssigkeit!“

 

Du bist eklig!“

 

Blasen von heißen Schnecken sind eklig!“

 

Red´ nicht von meiner Blase, die ist gar nicht eklig, sondern sach mir jetzt, was los war.“

 

Nach Klärung der Sachlage begannen Peter und ich, den weiteren Abend und die Nacht zu planen. Die Frauen wollten nicht mehr bleiben, sie wollten am Morgen früh hoch und an die Ostsee fahren. Uta fragte uns, ob wir nicht mitkommen wollten. Peter wehrte sofort vehement ab: „In deinem Porsche kannst du vielleicht zwei Gummimenschen mitnehmen, aber nicht uns! Treffen wir uns lieber in der Bastei in Scharbeutz, morgen Mittag, so gegen eins.“ Das war doch eine Lösung!

 

Uta und Ulla zogen von dannen, Peter und ich bestellten noch ein letztes Bier und einen letzten Wodka, als die Tür aufgestoßen wurde und eine lärmende Horde von etwa 20 Leuten das Lokal stürmte. „Da bist du ja!“ rief eine Frau, feuerrote Haare und noch einen Kopf kleiner als ich, rannte auf mich zu und umarmte mich leidenschaftlich. Dörthe. Dörthe, Ehefrau des Vorstehers einer Drückerkolonne, Dörthe, die einen Narren an mir gefressen hatte. Ich dagegen hatte wenig Neigung, es mit ihrem Mann zu verderben. Ich mochte ihn, ließ mir allerdings selbstschmeichlerisch die Aufmerksamkeiten von Dörthe gefallen, ohne entsprechendes zurück zu geben. Das hielt sie aber nicht davon ab, mich geradezu anzuspringen, wenn wir zusammen waren, ob ihr Mann dabei war oder nicht. An diesem Abend war er dabei und schaute uns amüsiert zu. Die Drückerkolonne hatte samt Freundinnen und Frauen in ihrer Stammkneipe am Mühlenkamp gesessen, als Dörthe plötzlich das Spiel vorschlug „Micha suchen“. Die- oder derjenige, der oder dem es gelang, das Lokal richtig vorher zu sagen, in dem ich schließlich gefunden wurde, sollte als Belohnung für den Rest der Nacht von den anderen frei gehalten werden. Sie hatten es auf Vorschlag von Dörthe zunächst im „Niewöhner“ versucht, erfolglos, waren nach einem Bier weiter gezogen in den „Goldbeker“, übrigens auf Anregung von Irina, selbstverständlich ebenso erfolglos. Bier gab es dort nicht, weil Irina als erste Handlung dem Billard spielenden Paar die schwarze Acht klaute und anschließend steif und fest behauptete, die Spielerin hätte die Kugel eingelocht und nur vergessen, in welche Tasche sie sie versenkt hatte. Der Wirt warf die Bande kurzerhand raus. Es war dann Levy, der die Idee hatte, mich im „Amon Düül II“ zu suchen. Mit ihm hatte ich schon einmal bei Pedro eine Nacht durchgezecht und tiefschürfende, trunkene Gespräche über Stringtheorien und die Verwandschaft östlicher Mythologie mit der Elementarphysik geführt.

 

Irina nervte ein wenig, weil sie die schwarze Acht ständig wie eine Bowlingkugel den Tresen entlang feuerte. Pedro und wir Gäste hatten alle Mühe, größeren Glas- und Bierschaden abzuwenden. Des Lokals verweisen wollte Pedro sie aber auch nicht, weil dann vermutlich die gesamte Sippschaft mitgezogen und ihm eine erhebliche Zeche durch die Lappen gegangen wäre. Ich kannte die Leute, spielten wir doch zusammen Fußball in einer Mannschaft der Kneipenliga, wenn auch nur mit mäßigem Erfolg.

 

Gegen 6 Uhr morgens erschlaffte das tosende Treiben allmählich. Ich hörte die Glockenschläge der nahen Gertrudenkirche und stieß Peter in die Seite.

 

Was ist denn nun mit der Ostsee?“

 

Ja, ja, gleich“

 

Es dauerte noch ein Pilsner Urquell und einen Wodka, ehe wir unsere Zeche bezahlten und in das grelle Sonnenlicht hinaus traten.

 

Na, haben sich die Herren wieder einmal auf meine Kosten amüsiert? Hoffentlich hat es Spaß gemacht!“ begrüßte uns Brücke, der seinen Schlaf- und Wohnplatz unter der Schwanenwykbrücke verlassen hatte und nun auf Flaschensuche war. Wie üblich trug er seinen freien, faltigen Altmänneroberkörper zur Schau, zum Ausgleich angetan mit mindestens 3 Paar wollener langer Unterhosen und viel zu großen Gummistiefeln. Die leeren Flaschen in seinem Einkaufswagen übertönten sogar die Kirchenglocken.

 

Na, lass´ man, Brücke“ meinte Peter und drückte ihm einen Heiermann in die Hand. „Hol´ uns lieber ein Taxi“. Wir setzten uns auf die Bank vor „Denni´s Swing Club“ und sahen Brücke zu, wie er zunächst vergeblich versuchte, ein Taxi anzuhalten. Endlich kam ein Wagen, dessen Fahrer Brücke und das Taxispiel kannte. Beim Einsteigen steckte auch ich ihm ein Fünfmarkstück zu.

 

Im Hauptbahnhof herrschte auf Grund des schönen Sommerwetters ein unübersichtliches Gewimmel. Als wir endlich unsere Fahrkarten erhalten hatten und den Bahnsteig erreichten, sahen wir gerade noch die letzten Wagen des Zuges hinter der Bahnhofsmauer verschwinden. Die nächste Bahn fuhr in einer Stunde. Weil der Hunger sich immer stärker bemerkbar machte, gingen wir hinüber in „Nagels Bierstube“, vertilgten jeder eine tüchtige Portion strammer Max und spülten mit 2 Bier und 2 Korn nach. Den nächsten Zug erreichten wir dennoch, fanden sogar trotz des großen Andrangs noch Sitzplätze. Auch die Fahrkartenkontrolle zwischen Ahrensburg und Bargteheide überstanden wir noch unbeschadet. Kurz vor Bad Oldesloe kam der Kontrolleur wieder durch den Gang und verlangte erneut die Tickets. Unter Protest suchte ich in meinen Taschen nach der Fahrkarte – und fand sie nicht. Ich beschuldigte den Schaffner, die Karte bei der ersten Kontrolle einbehalten zu haben. Er blieb jedoch unerbittlich und wies mich in Bad Oldesloe aus dem Zug. Peter rief mir beim Aussteigen noch zu „ Vielleicht sehen wir uns ja noch in der Bastei!“. Wie gesagt, wirkliche Freunde waren wir nicht.

 

Wütend stapfte ich auf dem Bahnsteig umher und erblickte zwischen den Gleisen Richtung Hamburg ein kleines, backsteingemauertes Bahnwärterhäuschen. Entschlossen stolperte ich über den Schotter darauf zu, riss die Tür auf und herrschte den dort sitzenden, in der „Bild am Sonntag“ blätternden Beamten an: „Ich will sofort den Leber sprechen!“

 

Wen?“

 

Leber! Julius Leber“

 

Wer soll das sein?“

 

Oh, Mann. Lies´ doch eine andere Zeitung. Leber, Julius Leber, der Bundesverkehrsminister, dein oberster Chef!“

 

Kenn´ ich nicht“

 

Der kennt nicht ´mal seinen Chef! Gibt´s denn so was?“

 

Mein Chef ist Heinrich Bergkamper aus Reinfeld. Und jetzt verpiss´ dich, oder ich hole die Bahnpolizei“

 

Missmutig schlurfte ich zurück Richtung Bahnsteig. Julius Leber war schon lange tot, der aktuelle Verkehrsminister war Kurt Gscheidle. Ich steckte die Hände in die Gesäßtaschen meiner Hose und starrte auf den staubigen Schotter. Meine Fingerspitzen ertasteten ein Stück Papier. Papier? Vorsichtig zog ich den Zettel heraus. Ein Fahrschein. Mein Fahrschein! Damit war meine Wut aber nicht besänftigt, im Gegenteil: Ich steigerte mich in eine regelrechte Rage hinein.

 

Die zeig´ ich an! Anzeigen werd´ ich die, alle zusammen!“

 

Der Gedanke daran, dass ich nun vielleicht doch Uta und Ulla in der Bastei treffen könnte, ließ mich ruhiger werden. Ich erklomm den Bahnsteig und wartete auf den nächsten Zug nach Lübeck. Ich malte mir in allen Einzelheiten aus, welche Beschuldigungen ich dem kontrollierenden Zugpersonal an den Kopf werfen würde. Etliche saftige Beleidigungen waren auch darunter. Allein – bis Lübeck wurde ich nicht kontrolliert. Ich musste dort aussteigen, um in den Zug Richtung Neustadt zu wechseln. Und wer stand da, in Lübeck auf dem Hauptbahnhof, lässig an einen der stählernen Pfeiler gelehnt, die Zigarette im Mundwinkel? Peter!

 

Was ist denn dir passiert?“

 

Tja, mich haben sie zwischen Bad Oldesloe und Reinfeld erwischt. Ich hab´ meine Karte nicht gefunden“

 

Und? Hast du sie wieder gefunden?“

 

Nee, ich hab´ mir in Reinfeld ´ne neue gekauft“

 

Oh, Mann...“

 

In Scharbeutz sahen wir bereits vom Zug aus das einzelne, einsame Taxi auf dem Bahnhofsvorplatz. Wir drängten uns an den geduldigeren Fahrgästen vorbei, rannten durch das Bahnhofsgebäude auf den Vorplatz und riefen „Ein Notfall! Ein Notfall! Das ist ein Notfall!“ Wir erreichten den Wagen, als gerade ein älteres Ehepaar das Taxi in Beschlag legen wollte. Wieder brüllten wir „Notfall! Notfall!“, rissen die hinteren Türen auf und warfen uns auf die Rücksitze.

 

Was für ein Notfall denn?“ fragte der Fahrer.

 

Mensch, hast du nicht gesehen, wie viele Leute aus dem Zug gestiegen sind und wie viel Taxis hier stehen? Wenn das kein Notfall ist!“

 

Ihr seid mir vielleicht Marken! Wo wollt ihr denn hin?“

 

Bastei!“

 

Bastei“

 

Im runden Speisesaal der Bastei war von Uta und Ulla nichts zu sehen. Kein Wunder, war es doch erst 11 Uhr 30. Wir setzten uns an einen strandseitigen Fensterplatz und schauten auf das rege Badetreiben unter uns.

 

Die Herren wünschen zu speisen? Die Karte?“ Der Kellner, weißes Hemd, Fliege, schwarze Weste, schwarze Hose, blitzende Schuhe, käsiges Gesicht, schaute uns erwartungsvoll an.

 

Jetzt noch nicht, später. Wir erwarten noch jemand“ erwiderte ich.

 

Einen Aperitif, die Herren?“

 

Prima Idee“ entgegnete Peter, „Zwei Bier, zwei Korn bitte“

 

Zwei Bier, zwei Korn...“

 

Jawoll, zwei Bier, zwei Korn!“ rief auch ich entschlossen.

 

Es kamen vier Bier, vier Korn. Auf unseren anfänglichen Protest entschuldigte sich der Kellner wortreich, bis ihm Peter Bescheid gab, die Getränke doch einfach stehen zu lassen, sie würden schon nicht schlecht werden. Wurden sie auch nicht. Bis zum Eintreffen von Ulla und Uta durfte er sich noch einige Male entschuldigen. Die ersten Worte von Ulla waren denn auch: „Na, wohl durchgemacht, oder?“ Bei unserem Zustand konnten wir dieses kaum abstreiten. Um wieder einigermaßen klar zu werden, mussten wir zunächst etwas essen. Die Bastei war bekannt für ihre exzellente Fischküche. Peter nahm Seezunge, ich Heilbutt in Salsa Verde, Ulla aus Barmbek-Basch Seeteufel und Uta, Uta aus Niens-tedten bestellte sich Fischfrikadelle. Der bleiche Kellner fragte entgeistert: „Fischfrikadelle?“

 

Uta: „Ihr habt doch Fischfrikadellen, oder“

 

Ja, schon, aber...“

 

Na, bitte, geht doch. Also zwei Fischfrikadellen mit Kartoffelsalat. Die Zitrone kannst du weglassen.“

 

Welche Zitrone, bitte?“

 

Sag´ bloß, ihr serviert die Fischfrikadelle ohne Zitrone? Na, ich will sie sowieso nicht haben. Also ohne Zitrone.“

 

Ja..., ja..., jawohl“

 

Uta musste zwischendurch zur Toilette und erzählte uns anschließend, dass der bleiche Kellner sie zur Seite genommen und gefragt hätte, ob wir die Korngläser in die Blumentöpfe entleerten, anders könne es ja wohl nicht angehen.

Nach dem Essen forderten uns Uta und Ulla auf, mit an den Strand zu kommen. Wir wollten aber noch unser Bier austrinken und sagten, wir würden nachkommen. Es blieb selbstverständlich nicht bei dem Bier, es folgten noch einige. Reichlich angeschlagen wankten wir über den Strand, fanden die beiden Frauen sogar und ließen uns neben sie in den Sand fallen. An Baden war nicht zu denken, schließlich hatten wir keine Badehosen dabei. Und in Unterhosen wollten wir nicht ins Wasser gehen, einen Rest von Würde wollten wir uns erhalten.

 

Ich erwachte mit rasenden Kopfschmerzen. Mein Gesicht glühte, ich glaubte, meine Nase leuchten zu sehen. Mühsam richtete ich mich auf und erblickte den schnarchenden Peter neben mir. Ich rüttelte ihn wach. Ihm schien es nicht besser zu gehen. Ich schaute mich um, keine Uta, keine Ulla. Aber ihre Handtücher lagen noch im Sand. Schon kamen sie aus dem Wasser auf uns zu getrottet. „Na, gut geschlafen?“ Ulla.

 

Peter raunzte sie an: „Wieso habt ihr uns denn nicht geweckt? Jetzt sind wir völlig verbrannt!“

 

Und dann? Was hättet ihr dann gemacht? Wieder in die Bastei und weiter saufen?“

 

Dann wären wir wenigstens nicht so krebsrot! Ihr könntet ja mal ein bisschen aufpassen!“

 

Aufpassen! Was erwartet ihr eigentlich? Wir laden euch ein, mit uns an die Ostsee zu kommen, weil es damals mit euch schon witzig war. Und was macht ihr? Kommt hier besoffen an, kümmert euch nicht einen Deut um uns und macht uns dann noch Vorwürfe! Los, sagt schon ´was!“

 

Ja, wenn ihr uns geweckt hättet, dann...“

 

Wenn wir, wenn wir! Haben wir aber nicht. Ich hatte gehofft, dass es heute ein schöner Tag werden würde, vielleicht auch noch der Abend. Und was haben wir jetzt? Zwei Jammerlappen, die auch noch ´rumnölen! Schönen Tag noch!“ Uta und Ulla schnappten ihre Handtücher und stapften davon. Peter schaute mich an: „Heimwärts?“, „Heimwärts“.

 

Vergeblich versuchten wir, ein Taxi zu finden, dass uns zum Bahnhof brachte. Es herrschte allgemeine Aufbruchstimmung, und einen Notfall konnten wir nur mit Erfolg reklamieren, wenn wenigstens ein Taxi in Sicht war. War aber nicht. Also versuchten wir es per Anhalter. Vielleicht nahm uns ja sogar jemand bis nach Hamburg mit. Es hielt auch ein Wagen mit Hamburger Kennzeichen, Peter öffnete die Beifahrertür und fiel sofort vornüber und stieß sich die Stirn an der Dachkante blutig. Erschrocken griff der Fahrer herüber, knallte die Tür zu und fuhr davon. Mein Versuch endete mit einer Rolle rückwärts in den Straßengraben. Mit dem Hitchhiking war es also auch nichts. Wohl oder übel machten wir uns zu Fuß auf den Weg zum Bahnhof. Ich schürfte mir arg die Füße auf, weil meine Sandalen irgendwo im Ostseestrand vergraben waren. Wir machten uns gar nicht erst die Mühe, Fahrkarten zu kaufen, sondern enterten sofort den abfahrbereiten Zug. Das Umsteigen in Lübeck habe ich nicht mehr in Erinnerung, aber wir müssen es wohl gemacht haben, denn irgendwann kamen wir in Hamburg im Hauptbahnhof an. Kontrolliert wurden wir nicht, der Zugbegleiter hätte auch auf Grund der drangvollen Enge alle Mühe gehabt, seiner Pflicht nach zu kommen. Wir mussten mit der U-Bahn in entgegengesetzte Richtungen fahren, und Peter rief mir noch zu „Bis die Tage!“. Ich taste in meinen Taschen, in allen Taschen. Meine Schlüssel waren nicht da. Ich lief Peter hinterher. „Peter! Peter! Ich hab´ meine Schlüssel verloren! Ich muss bei dir schlafen!“

 

Bist du sicher?“

 

Ja, absolut. Kein Schlüssel vorhanden“

 

Hast du denn keinen Ersatzschlüssel?“

 

Das schon, aber den hat meine Mutter in Rissen, und ich fahr´ doch jetzt nicht mehr nach Rissen! Ich hol´ die Schlüssel morgen nach der Arbeit, das reicht. Du hast doch ausreichend Platz bei dir.“

 

Okay, komm´ mit.“

 

Am nächsten morgen, pünktlich um 9 Uhr, öffnete ich die Tür, und jegliches Gespräch im Raum erstarb, dreißig Köpfe über geschäftsmäßig korrekten Anzügen flogen herum und starrten mich sprachlos an. Mein Gesicht war feuerrot, die Nase schälte sich, die lästerhafte Rolling Stones-Zunge auf meinem ehemals weißen, ärmellosen Shirt provozierte die Gesellschaft, meine weiße Leinenhose, vorn in der Art einer Schuhlasche zusammengebunden, starrte vor Schmutz, die Füße steckten in viel zu großen Badelatschen. Ich war mir ungeteilter Aufmerksamkeit gewiss. Es begann der erste Tag des Programmierseminars bei der IBM an der Ost-West-Straße.

 

Hamburg, Januar 2010

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.08.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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