Diethelm Reiner Kaminski

Liebe zur Lyrik


 
Sie sollten zu Hause das Gedicht „Die Beiden“ von Hugo von Hofmannsthal vorbereiten und interpretieren. Da bin ich mal gespannt, welche Gedanken Sie sich dazu gemacht haben. Ich habe eigens einen Text ausgewählt, zu dem es keine Interpretationen im Internet gibt. Jedenfalls habe ich bei meinen Recherchen keine gefunden. Ich möchte ja schließlich hören, was Sie und nicht irgendein Germanist dazu zu sagen hat. Also, wie ist es, Harry, fangen Sie an?“
Alfons Schranzer schaute erwartungsvoll erst auf die Klasse, dann nahm er Harry ins Visier, der schon mit dem bangen Gefühl aufgestanden war, dass heute Unheil bevorstehe. Während sich Schranzer behaglich zurücklehnte, um sich ganz dem Interpretationsvortrag hinzugeben, kramte Harry umständlich in seiner Tasche, um nach dem fotokopierten Text und seinen imaginären häuslichen Notizen zu suchen. In Wahrheit hatte er nicht einen Blick auf das Blatt geworfen, fand aber immerhin das zerknitterte Gedicht, das er jetzt eilig auf dem Tisch glättete.
„Du musst mir helfen“, flüsterte er schnell noch seinem Banknachbarn Ulf zu, der immerhin ein paar schriftliche, aber leider unleserliche Anmerkungen am Rand des Blattes gemacht zu haben schien.
„Was ist, Harry, sind Sie noch nicht wach? Wir warten.“                          
„Ja, also“, gab sich Harry einen inneren Ruck und überflog das dreistrophige Gedicht. Jetzt musste er Selbstbewusstsein zeigen und konnte nur hoffen, dass er möglichst schnell abgelöst wurde.
„Das Gedicht „Die Beiden“ von Hugo von Hofmannsthal handelt von zwei Menschen. Das sagt uns schon die Überschrift.“
„Nur von zwei Menschen?“, hakte Schranzer nach, dem die Schüler wegen seiner Strenge den Spitznamen Panzer verpasst hatten.
Harry stutzte, räusperte sich, um Zeit zu gewinnen, damit er noch einmal in den Text schauen konnte.
„Nein“, sagte er mit fester Stimme: „Auch von einem Pferd und von … von … Alkohol. Das Wort ‚Wein‘ in der letzten Zeile“, fügte Harry noch hinzu, der Schranzers Forderung verinnerlicht hatte, immer alle Behauptungen im Text zu belegen.
„Wollen Sie uns veräppeln, Harry? Ist das der ganze Ertrag Ihrer geistigen Anstrengungen?“
Harry beugte sich zu Ulf hinüber und versuchte das Blatt mit den Anmerkungen zu sich hinüber zu ziehen. Doch dieser fürchtete, selbst noch dranzukommen, deshalb hielt er es fest, so dass es zu einem kurzen, aber heftigen Gerangel kam.
Schranzer war aufgesprungen und rief: „Schluss jetzt mit dem Theater, Harry. Geben Sie doch wenigstens zu, dass Sie sich nicht vorbereitet haben. Und dann deklamierte er mit höhnischer Stimme Hugo von Hofmannsthals Gedicht, das er, weil er es hundert Mal im Unterricht behandelt hatte, längst auswendig kannte, in leichter Abwandlung:
 
Er trug das Notenbüchlein in der Hand,
Harry, halt endlich deinen Rand.
So unausweichlich ist des Schicksals Gang.
Eine Fünf aus seinem Büchlein sprang.“

 
Mit diesen Worten trug Schranzer mit sichtlichem Genuss die verkündete Note in sein Notizbuch ein.
Dann wandte sich Schranzer wieder der Klasse zu: „Auch wenn es ein langer und beschwerlicher Weg ist, ich werde nicht müde werden in meinem Bemühen, die Liebe zur Lyrik in Ihnen zu wecken. Und damit Sie spüren, welcher Zauber von diesem wunderbaren Gedicht Hugo von Hofmannsthal ausgeht, vorausgesetzt natürlich, dass Sie zu solchen Empfindungen überhaupt fähig sind, woran ich bei Harry erhebliche Zweifel hege, also … hm … darum werde ich es Ihnen noch einmal zu Gehör bringen:
 
 

Die Beiden
 
Sie trug den Becher in der Hand
- Ihr Kinn und Mund glich seinem Rand -,
So leicht und sicher war ihr Gang.
Kein Tropfen aus dem Becher sprang.
 
So leicht und fest war seine Hand:
Er ritt auf einem jungen Pferde,
Und mit nachlässiger Gebärde
Erzwang er, daß es zitternd stand.
 
Jedoch, wenn er aus ihrer Hand
Den leichten Becher nehmen sollte,
so war es beiden allzu schwer:
Denn beide bebten sie so sehr,
Daß keine Hand die andere fand
Und dunkler Wein am Boden rollte.“
 
So vertieft war Panzer in seinen Gedichtvortrag, dass er, dem sonst nichts entging, nicht einmal bemerkte, dass eine leere Bierdose von den hintersten Tischen des Klassenraums langsam in Richtung Tafel rollte.
Panzer erwachte aus seiner Verzauberung:
„Rolf, Sie sind jetzt dran. Sie dürften es jedoch sehr schwer haben, Harrys äußerst gelungenen Beitrag zur Rettung der Poesie zu überbieten.“
 

Gedicht“Die Beiden“ zitiert nach: Lyrische Signaturen, Hg. Walter Urbanek, c.c.buchners verlag bamberg, o.Jz., S. 285
 

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