Diethelm Reiner Kaminski

Gemischter Chor



Bernhard Rabenstein freute sich auf den Beginn des neuen Schuljahrs. Er war mit Begeisterung Lehrer. Besonders gern unterrichtete er die fünften und sechsten Klassen, in denen die Schülerinnen und Schüler noch voller Eifer, Neugier und Erwartung waren und an den Lippen der Lehrer hingen. Er würde sich, wie es seine Gewohnheit war, die neuen Namen so schnell wie möglich einprägen, um den Schülern das Gefühl zu geben, dass jeder Einzelne ihm gleich wichtig war. In der 5 b saßen laut Verteilungsplan, den sein Direktor ihm ausgehändigt hatte, 16 Mädchen und 14 Jungen. Dreißig Namen, die er verwechslungsfrei in den Kopf kriegen musste. Und nicht nur in dieser Klasse. Er hatte insgesamt vier neue Klassen erhalten. Doch eins nach dem anderen. Da machte er sich keine Sorgen.
Nach der freundlichen Begrüßung, in die Rabenstein wie immer ein paar kleine Scherze eingebaut hatte, um damit die Herzen der Kleinen von der ersten Stunde an zu gewinnen, bat er die Schüler, der Reihe nach ihre Namen zu nennen. „Aber bitte ab sofort nicht mehr die Plätze wechseln, damit ich mir schnell eure Namen einprägen kann. Fängst du hier vorne bitte an“, wandte er sich an die Schülerin in der ersten Reihe.
„Chantal Schmidt.“
„Machst du bitte gleich weiter“, forderte er die Sitznachbarin auf.
„Chantal Markwart.“
Rabenstein stutzte. Die üblichen Namengleichheiten. Die machten es Lehrern besonders schwer, die Schüler auseinanderzuhalten.
„Chantal Peikert.“
„Chantal Schönhauser.“
Nach der fünften Chantal unterbrach Rabenstein die Vorstellung: „Ein kleiner Scherz zur frühen Morgenstunde, aber den wollen wir jetzt bitte lassen. Ich finde den Namen Chantal ja auch sehr schön, aber nun wollen wir bitte die echten Namen nennen. Wir fangen noch mal von vorne an. Diesmal bei den Jungen. Dann können die Mädchen inzwischen darüber nachdenken, wie sie wirklich heißen. Fang du bitte an“, wandte sich Rabenstein an die Jungenseite.
„Kevin Kaufmann.“
„Kevin Schenk.“
„Kevin Weilander.“
„Kevin Ehlers.“
Rabenstein war nicht leicht aus der Ruhe zu bringen und er hatte großes Verständnis für Schülerspäße, aber jetzt platzte ihm doch der Kragen. „Wollt ihr mich auf den Arm nehmen? Wir verplempern hier kostbare Zeit. Ich mache gleich eine Ausweiskontrolle. Oder habt ihr die Ausweise auch gefälscht, um mich aufs Glatteis zu führen?“
Die Schülerinnen und Schüler sahen Rabenstein mit großen verwunderten Augen an.
Sollte er sich lächerlich machen und sich die Ausweise zeigen lassen? Das war dann doch unter seiner Würde.
Da fiel ihm ein, dass die Namen schließlich auch im Klassenbuch standen, das vor Neuigkeit glänzend mitten auf dem Lehrertisch lag. Er schlug es auf. Zwischen Deckel und Deckblatt steckte ein für ihn vorbereiteter Sitzplan.
Er traute seinen Augen nicht: Chantal Ansgardt, Chantal Berger, Chantal Dallmayer, Kevin Ehlers, Kevin Groth, Chantal Fehringer …
Rabenstein klappte das Klassenbuch wieder zu und sagte laut: „Ich muss mich bei euch entschuldigen, aber ich konnte nicht ahnen, dass die Klassen neuerdings nach den Vornamen zusammengesetzt werden. Und was machen wir jetzt? Was das wohl für ein Durcheinander gibt, wenn ich euch aufrufe. Da bin ich ratlos. Ich möchte euch doch auch nicht mit Nachnamen anreden. Ich glaube, ich spreche erst einmal mit der Schulleitung.“
„Ich würde Ihr Problem, für das ich das größte Verständnis habe, gerne lösen, aber wie? In der 5 a und 5 c sieht es auch nicht anders aus. Ich bin kein Kinogänger, aber da muss es vor elf Jahren einen großen Filmhit gegeben haben, in dem die Hauptdarsteller Chantal und Kevin hießen. Unter den Spätfolgen haben wir jetzt zu leiden, und nicht nur wir, auch die Kinder. Aber wozu sind wir Pädagogen … Irgendwie lassen sich alle Probleme lösen. Ich bin ja selber mit der 5 a betroffen.“
„Und wie lösen Sie das Problem, wenn ich fragen darf?“
„Mir kommt sehr entgegen, dass ich auch Musik als Fach habe. Da habe ich Übung“, warf sich der Direktor in die Brust.
„Übung worin?“, fragte Rabenstein.
„Im Chorsprechen. Ich lasse die Mädchen bzw. die Jungen jeweils im Chor antworten. Das hat sogar noch den Vorteil, dass alle beteiligt sind und niemand vergessen wird. Und wenn ich möchte, kann ich auch noch auf den gemischten Chor zurückgreifen“, geriet der Schulleiter ins Schwärmen.
„Aber so lerne ich die Schüler ja nie kennen“, wagte Rabenstein einzuwenden.
„Die Zeit des grenzenlosen Individualismus ist eh vorbei, lieber Kollege, wir müssen den Gemeinsinn wieder stärken. Denken Sie drüber nach.“ Mit diesen Worten ließ er Rabenstein stehen.
„Es wird höchste Zeit, dass wir uns einen Namen für unser Baby überlegen“, sagte Silke Rabenstein, als ihr Mann mittags aus der Schule nach Hause kam. Aber bitte nicht solche altmodischen Namen wie Silke oder Bernhard. Mir würden Chantal und Kevin sehr gefallen. Was hältst du davon?“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.09.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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