Marion Redzich

Flaschenpost

                                               

 

 

Der erste Urlaubstag. Der erste Urlaub ohne Tim. Das Hotelzimmer hatte einen atemberaubenden Blick auf das türkisblaue Meer. Anna konnte es gar nicht erwarten, die ankommenden Wellen zu begrüßen. Der Weg vom Hotel zum Strand führte durch einen kleinen Palmenhain. Anna breitete ganz nah am Wasser ihr Badetuch aus, vergrub ihre Füße im warmen Sand und schaute hinaus aufs Meer. Sie fühlte eine tiefe Traurigkeit in sich.

Warum hatte sie sich eigentlich von Tim getrennt? Sieben Jahre, sieben schöne Jahre hatten sie miteinander verbracht. Hatten zusammen gelebt, geliebt, gelacht und geweint.

So richtig hatte sie die Trennung noch immer nicht realisiert.

„Abstand gewinnen“, „auseinandergelebt“, „Freunde bleiben“. Die Sätze der letzten Tage gingen ihr wieder und wieder durch den Kopf. „Warum eigentlich?“,fragte sie sich, nicht zum ersten Mal in den letzten Tagen. Keiner der beiden hatte einen neuen Partner.

Und doch. „Irgendeinen Grund muss es ja für unsere Trennung geben. Sonst säße ich jetzt nicht allein an diesem wundervollen Strand“, dachte sie wehmütig und beschloss im gleichen Augenblick, ihre verlorene Liebe für die Dauer ihres Urlaubs aus ihren Gedanken zu verbannen. Sie schloss die Augen, gab sich ganz der Wärme der kretischen Sonne und dem rhythmischen Geräusch der Brandung hin.

Jetzt, genau in diesem Augenblick, würde sie am liebsten die Zeit anhalten!

Als sie sich erneut wohlig streckte spürte sie, wie etwas Hartes ihren rechten Fuß berührte. Sie richtete sich auf und bemerkte eine kleine Flasche, die von den Wellen direkt vor  ihre Füße gespült worden war. „Überall müssen die Leute ihren Müll rumliegen lassen!“, waren ihre ersten Gedanken. Doch dann entdeckte sie etwas Weißes im Inneren der Flasche.

Neugierig geworden nahm sie die Flasche in die Hand, wusch den Sand im Meer ab und versuchte sie zu öffnen, was ihr allerdings erst nach einigen Mühen gelang.

Die Flasche sah alt aus. Könnte eine alte Weinflasche sein, nur sehr klein. Im Inneren befand sich ein leicht vergilbtes, zusammengerolltes Schriftstück. „Eine Flaschenpost!“, dachte Anna und entrollte vorsichtig das zarte Papier. In schnörkeliger Schrift konnte sie die handgeschriebenen Zeilen entziffern:

 

Liebste Amelie,

wieder und wieder habe ich mit mir gerungen, bevor ich mir erlaubte, Euch diese Zeilen zu schreiben. Da ich in diesem Leben niemandem mehr vertrauen kann,   ist es mir unmöglich das Wagnis einzugehen, Euch dieses Schreiben durch einen Boten zukommen zu lassen. Aus diesem Grunde übergebe ich diese Zeilen einem treuen Freund, der mich niemals verraten oder hintergehen würde. Dem Meer. Und da ich weiß, dass auch Ihr, meine geliebte Freundin, das Meer über alles liebtet, bin ich zuversichtlich, dass Euch dieser Brief erreichen wird. Wenn nicht in diesem, so sicher in einem späteren Leben.

Der Tag, als ich Euch zum ersten Mal sah, war einer der schönsten in meinem Leben! Ihr seid mir sofort aufgefallen, obwohl es auf dem Empfang des ehrenwerten Gouverneurs Sir Nicolas keinen Mangel gab an hübschen, jungen Damen. Doch Ihr wart, und seit es bis zum heutigen Tage, etwas ganz Besonderes! Die Art, wie Ihr Euch bewegtet, Euer Lachen, die anmutige Haltung Eurer Hände, die ihre eigene Sprache zu sprechen scheinen. All dies, und noch so vieles mehr. Damals hätte ich bedenkenlos alles dafür gegeben, diesen Augenblick für immer festzuhalten. Da ihr nicht in Begleitung eines Gentleman erschienen wart, erlaubte ich mir die leise Hoffnung, Euch wieder zu sehen.

Da es der Anstand nicht erlaubte, Euch anzusprechen, bat ich meinen Cousin Charles, ein Verwandter des Gouverneurs, Euch meine Hochachtung zu überbringen. Unmöglich, meine Gefühle zu beschreiben in dem Augenblick, als wir uns das erste Mal gegenüberstanden. Ich hatte das Gefühl, ganz allein mit Euch zu sein. Obwohl sicher an die hundert geladene Gäste auf diesem Empfang weilten.

Wir sahen uns in die Augen und wussten, im selben Augenblick, dass wir füreinander bestimmt waren.

Mit Eurem Ja-Wort, genau ein Jahr später, machtet Ihr mich zum glücklichsten Mann von Paris. Sieben wundervolle Jahre waren uns vergönnt.

Sieben Jahre, in denen die Sonne niemals unterging, sieben Jahre in denen mich Euer Lachen, Eure süße Stimme und Eure Liebe jeden Tag aufs Neue das Leben lehrte! Unser Glück war so perfekt, dass es fast schmerzte!

Nun denn, nun ist es an der Zeit, Abschied zu nehmen.

Wo das Glück am größten ist, lauert meist schon sein Gegenspieler, der Tod.

Die Schwindsucht hat Euch mir genommen, doch niemals werde ich die Erinnerung an all das verlieren, was Ihr mir gegeben habt, was Ihr für mich wart!

Gäbe es nicht Anna, unsere bezaubernde, wunderschöne kleine Tochter. Unser einziges Kind, das Euch von Tag zu Tag ähnlicher wird. Ich hätte längst Hand an mich gelegt um für immer mit Euch vereint zu sein!

Unsere Vergangenheit ist unsere gemeinsame Zukunft, daran kann auch der Tod nichts ändern!

Habt Dank für Eure Liebe, wir werden uns wieder sehen!

 

In tiefster Verbundenheit, Eurer Thomas, Paris, anno 1883“

 

 

Anna legte den Brief vorsichtig auf ihr Badetuch. Tränen rollten ihr über die Wangen.

Dann raffte sie ihre Badesachen zusammen, schenkte dem Meer einen letzten Blick.

„Danke!“, sagte sie. „Danke für alles! Ich muss jetzt dringend Tim anrufen!“

 

 

 

 

                                                      

 

                                                            E N D E

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.09.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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