Daniel Siegele

Waldeinsamkeit

In einem abgelegenen Teil eines großen, mitteldeutschen Waldgebietes war vor etwa 200 Jahren ein frustriertes altes Männlein zu Hause, das die mehreren hundert Jahre seines zurückliegenden Daseins verbracht hatte, indem es auf einen noch viel älteren, versteckten Goldschatz aufpaßte, mit dem es selber allerdings nicht das Geringste anzufangen wußte. Unser frustriertes, altes Männlein lief also in seinem kleinen Waldwinkel herum, um gelegentlich vorbeikommenden Bewohnern der umliegenden Gehöfte oder wandernden Handwerksburschen aufzulauern – diese arglosen oder auch regelrecht einfältigen Zeitgenossen behelligte das alte Männlein, indem es im rechten Moment reichlich überraschend hinter einem Busch hervorsprang und eine Reihe ziemlich irritierender Frage stellte.

Die in der beschriebenen Weise überraschten und reichlich erschrockenen Wanderer wußten nun wirklich nicht, wie das Männlein hieß und in welcher Weise man in einer Mondhellen Augustnacht mit einer brennenden Peckfackel in der Hand (und laut alte Zaubersprüche rezitierend) dreimal um den heimatlichen Bauernhof laufen mußte, um sich selbst von Zahnschmerzen oder beständigem Bauchgrimmen zu heilen. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, möchte ich an dieser Stelle gleich sagen, daß unser Männlein seines Tuns schon reichlich überdrüssig war – das Problem war nur: Es wußte nichts Besseres! Das frustrierte Männlein wußte und konnte tatsächlich kaum etwas anderes, als einen unglücksbeladenen, uralten Goldschatz zu bewachen und harmlose Provinzler auf abgelegenen Waldwegen mit rätselhaften Fragen zu traktieren.

Die einzigen Abwechslungen im deprimierend gleichförmigen Dasein unseres alten Männleins ergaben sich während seines häufigen Zusammenseins mit der alten Waldhexe – die Waldhexe war in einer benachbarten Ecke des Waldes zu Hause und ihr Leben war kaum aufregender als das Daseins unseres Schatzwächters; Die beiden hatten nun schon sehr viele Jahre in guter Nachbarschaft in ihrer Waldeinsamkeit verbracht, wobei sie von Alldem, was da in der weiten Welt außerhalb ihres dichten, tiefen Waldes vor sich ging, jedoch nur sehr wenig erfuhren – Könige waren gekommen und gegangen und mehrere Kriege waren da draußen geführt worden.
In der Baumhöhlenwohnung des alten Männleins und in dem kleinen Haus der alten Waldhexe gab es weder Uhren noch Kalender – beide bemerkten nur, daß die Leute, die hin und wieder im Wald unterwegs waren, im Laufe der Zeit doch immer wieder einmal ein wenig anders aussahen als früher oder Sprachen und Dialekte benutzten, die unseren beiden Waldbewohnern fremd waren.

Wenn das alte Männlein und die Waldhexe am Rande ihre Waldeinsamkeit nach alter Gewohnheit gemeinsam an der Böschung der Landstraße lauerten, um vorbeikommende Reisende und Wanderer zu erschrecken, fanden die beiden manchmal verlorengegangene Briefe und Anschlagzettel – die Waldhexe war des Lesens als begeisterte Alchemistin durchaus mächtig, allerdings verstand sie ihre alten Formeln und Zaubertexte doch sehr viel besser als die Nachrichten über Kriege, religiöse Streitereien und Revolutionen in anderen Weltgegenden; Im Laufe der Zeit wurden die beschriebenen Ereignisse für unsere beiden Waldbewohner auch tatsächlich immer weniger verständlich, weshalb sie die gelegentlich am Straßenrand herumliegenden Papierfetzen dann schließlich auch liegenließen.

Das Erschrecken von Reisenden und wandernden Handwerksburschen, das unseren beiden Waldbewohnern in früheren Zeiten noch einige Abwechslung und gelungene Unterhaltung gebracht hatte, erwies sich in späteren Jahren als immer mühevolleres Geschäft – die besagten wandernden Handwerksburschen umgingen das inzwischen ein wenig verrufene Waldgebiet, während die Reisenden auf der Landstraße auf Pferden oder in schnellen Kutschen unterwegs waren; Zum Leidwesen des alten Männleins und der Hexe nahm auch der Hang zum Aberglauben immer mehr ab, weshalb die beiden Waldwinkelbewohner irgendwann weniger als unheimlicher Spuk, sondern eher als zwei ausgebrochene Irre angesehen wurden.

Unsere beiden altgewordenen Waldwinkelbewohner waren das Schatzbewachen einerseits und das Herumhexen andererseits irgendwann ziemlich leid; Das alte Männlein lies den verwunschenen Goldschatz einen verwunschenen Goldschatz sein und die Hexe stellte ihren verschlissenen Flugbesen mit den Worten „Verflixt noch mal, selbst der Besen funktioniert nicht mehr – aber mein Gleichgewichtssinn ist ja leider auch nicht mehr der Beste!“ in den hintersten Winkel ihres Hexenschrankes.
Als letzte nennenswerte Tat gingen die beiden dann noch einmal zur abendlichen Landstraße, um in unfreiwillig komischer Weise zum allerletzten Mal den einen oder anderen Reisenden zu erschrecken – am Ende des Tages saßen das alte Männlein und die Hexe dann allerdings auf einem Baumstamm vor einem kleinen Feuer und sagten deprimiert wie aus einem Mund zu einander: „Mein Gott, so peinlich ist mir in meinem ganzen langen Leben noch nicht zu Mute gewesen!“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.09.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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