Christiane Mielck-Retzdorff

Verdörrte Orchidee




 
Jennifer war es gewohnt, beschimpft zu werden und ihre Abgestumpftheit machte es gleichgültig, ob der Tadel berechtigt oder die Worte angemessen waren. Doch hallte immer noch etwas in ihrer Seele nach und ließ ein Licht der Sehnsucht durch jenen Vorhang blitzen, den sie schon lange zugezogen hatte.
 
Wortschwalle aus Anschuldigungen hatten sie schon als Baby in den Schlaf gewiegt, und Jennifer nur geweckt, wenn die Töne der Mutter zu schrill oder das Poltern zu laut wurde. Dann fügte sich das Babyschreien beinahe harmonische in diese Vorstellung nagender Unzufriedenheit, die sich zu einem Moloch aus Lärm und Worten bis zu einem furiosen Finale steigerte, an das die Erinnerung zu einem Haufen Asche verbrannte.
 
Doch es gab auch Momente der friedlichen Harmonie zwischen ihr und ihrer Mutter, in denen Jennifer eine Ahnung von Liebe erfuhr. Meistens waren sie mit einer Schwemme von Zärtlichkeiten verbunden und begleitet von heißen Tränen, die sich zu einem hemmungslosen Schluchzen steigerten und das Ende des glücklichen Moments anzeigten, weil das Selbstmitleid Gestalt annahm und einen Schuldigen suchte.
 
Überhaupt erschien ihr das Weinen als Gefährte ihrer Jugend, auch wenn Jennifer selbst es schon früh eingestellt hatte. Sobald ihre Mutter sie mit Anschuldigungen überhäufte, sich ihre bizarre Wut mit diffusen Gefühlen mischte, flossen Tränen, deren Bedeutung Jennifer anfangs schwer einordnen konnte. Doch hinterließen sie das Gefühl, dass sie grundsätzlich schuld sei allein durch ihre pure Existenz. Das Kind probierte verschiedene Strategien aus, um den Ausbrüchen ihrer Mutter zu entgehen. Sie versuchte es mit Schmeicheleien und Artigkeit, Wut und Trotz, Schweigen und Unsichtbarkeit, doch nichts konnte ihre Mutter davon abbringen, in Jennifer den einzigen Grund für ihr Elend zu sehen.
 
Auch schien es außer der Mutter keine weiteren Familienangehörigen zu geben. Während andere Kinder Großeltern, Tanten und Onkels hatten, konnte Jennifer nirgendwo anders einen Hauch von Liebe ergattern. Und an der Hochhaussiedlung der verlorenen Träume, die ihr Zuhause war, wohnten ausschließlich Menschen, die ihre Türen geschlossen hielten und ihre Fenster mit Bettlaken verhangen. Nur die lauten Worte, die oft aus den anderen Wohnungen erklangen, bestätigten Jennifer in ihrer Vermutung, das Beschimpfungen die unter Menschen übliche Art des Miteinanders waren.
 
Der einzige Besuch, der seinen Fuß in die heimischen Räume setzte, waren verschiedene Männer, die Jennifer oft zuerst mit großer Freundlichkeit begegneten. Doch schnell verlor sie die Illusion, dass sich mit dem Auftauchen eines Mannes, der ihrer Mutter die Laune erheiterte und Lachen und Freude in die düsteren Zimmer trug, dauerhaft etwas ändern würde. Zwar zog dieser Mensch die volle Aufmerksamkeit der Mutter auf sich, und Jennifer wurde meist in die Küche verbannt, wo sie sich unbehelligt selbst beschäftigen konnte, doch dauerte es nicht lange, bis das Unwetter geschriener Worte und das Klirren zerbrochenen Porzellans das Ende dieser Besuche und das baldige Erscheinen eines anderen Mannes ankündigte.
 
Jennifer war klug und hätte problemlos gut Leistungen in der Schule bringen können, doch hätte sie das aus der Menge der Schüler hervorgehoben. Sie wollte unbedingt zu jener Gruppe gehören, die in Hoffnungslosigkeit verbündet, die Welt in sich am meisten haßte. So suchte sie ausgerechnet bei denen nach Anerkennung, die ihr geringes Selbstbewußtsein daraus schöpften, andere zu erniedrigen. Das im Kern sanfte und friedliche Wesen von Jennifer war gezwungen, sich zu verleugnen. So baute sie eine starke Mauer aus Rücksichtslosigkeit um sich herum.
 
Die Macht der Weiblichkeit entdeckte Jennifer als ihr Körper straffe Rundungen entwickelte und sie zu einer jener Schönheiten heranreifte, denen die Blicke vieler Männer folgten. Ganz instinktiv wußte sie um die Macht eines Augenaufschlages, eines geheimnisvollen Lächelns. Und mit Genugtuung erkannte sie das veränderte Verhalten ihrer Umgebung. Nun sah sie eine Chance, dem ungeliebten Leben zu entkommen.
 
Allein die Mutter reagierte mit unbegründeten Beschimpfungen, die in dem Titel Hure gipfelten. Doch schon lange prallten ihre Worte an Jennifer ab, wie auch die Tränen der Mutter kein Gefühl mehr in ihr rührten. Dafür wußte sie sich selbst dieser glitzernden Diamanten aus salzigem Wasser zu bedienen, die im Auge schimmernd den Willen eines Mannes brechen konnten.
 
In dem Bewußtsein, ihre Mutter zu verletzen, deren Gesicht Tränensäcke, Zornesfalten und eine mühsam mit billigem Rouge abgedeckte Blässe längst seine Anziehungskraft geraubt hatten, kokettierte Jennifer frech mit den männlichen Besuchern, die immer seltener wurden, und beobachtete mit Abscheu, wie der Alkohol den einzigen Menschen, den sie je geliebt hatte, zerfraß. Sie wünschte fortan Jenny genannt zu werden und fand sich auch bald in den lüsternen Armen eines jungen Mannes wieder, der ihr genauso wenig bedeutete wie dieses erste Mal.
 
Zu dem Gebirge aus Hochhäusern in der Vorstadt gehörte auch ein Einkaufszentrum, welches neben den leerstehenden Geschäften mit den seit langem zerbrochenen Scheiben nur über einen Supermarkt, eine Apotheke und eine Kneipe beherbergte. Im ersten Stock praktizierte ein idealistischer Allgemeinmediziner, der irgendwie auch die Zulassung als Frauenarzt bekommen hatte.
 
Als Jenny zum ersten Mal ihr Rezept für die Pille dem Apotheker vorlegte, bemerkte sie sofort, dass sich etwas in seinem stets gleichgültigen Gesichtsausdruck änderte. Er erkannte die Frau in dem jungen Mädchen und seine schmalen Lippen verzogen sich zu einem hintergründigen Lächeln. Mit seiner schwammigen Gestalt, dem schütteren, strähnigen Haar und seiner schleimigen Art, war es keine Wunder, dass er mit Anfang vierzig noch keine Frau gefunden hatte. Und das obwohl er über ein großes, eigenes Haus und ein stattliches Vermögen verfügte. Er war der einzige wohlhabende Mensch, den Jenny kannte.
 
Auf dem Weg nach Hause über den mit Hundekot besudelten Bürgersteig, im Schatten der Hochhäuser, die jedes Licht und jede Freude zu verschlingen schienen, beerdigte Jenny ihre letzten Skrupel auf dem vermüllten Spielplatz und beschloß den Weg zu gehen, den ihr ihre Jugend und ihre verheißungsvolle Weiblichkeit ebnete.
 
Das Haus des Apothekers war herrschaftlich alt, mit großen, hohen Räumen, die mit antiken Möbeln und echten Teppichen ausgestattet waren, aber es roch nach muffiger Vergänglichkeit. Durch die umstehenden, hohen Bäume drang kaum Sonne in die Zimmer, doch dahinter öffnete sich ein weitläufiger Garten mit gepflegten Rabatten. Als Jenny diesen zum ersten Mal betrat, war ihr, als hätte sie endlich das Land des Friedens und der Harmonie erreicht.
 
Selig entledigte sie sich ihrer Schuhe, schlenderte über den Rasen, sog den Duft der Blumen ein und lauschte dem Gesang der Vögel. Eine Gruppe von Tannen am Ende des Grundstücks lockte wie ein Märchenwald. Jennys Seele begann zu fliegen und ihr Herz öffnete sich für jede Pflanze und jedes Tier, die sie umgaben. Dann ertönte die Stimme des Apothekers, ihres Gebieters, und jäh aus diesem Traum gerissen, schlich Jenny zurück in ihren Käfig aus Gittern der Selbstverachtung.
 
Sie konnte sich nicht beklagen. Der Apotheker bot Jenny ein angenehmes Leben, in dem die Hausarbeit eine polnischen Angestellten verrichtete und die Mahlzeiten jeden Abend in einem Gasthof eingenommen wurden. Nachdem das junge Mädchen großzügig, aber nicht nach eigenen Wünschen, neu eingekleidet worden war, zeigte der Apotheker sich gern mit ihr in der Öffentlichkeit, begleitet von dem Tuscheln der Frauen und den neidvollen Blicken andere Männer. Seinen besitzergreifenden Arm um ihr Schultern ertrug Jenny mit einem festgefrorenen Lächeln der Gleichgültigkeit.
 
In ihrem Umgang miteinander herrschte ein höflicher Ton, doch befreit von den gewohnten Beschimpfungen stellte Jenny fest, dass Freundlichkeit ohne Herzenswärme ebenfalls vernichtend sein konnte. So wie ihr nächtliches Beisammensein mit dem Apotheker sie zu einer Hure machte.
 
Ursprünglich hatte Jenny den Plan, schon in den ersten Tagen Geld und alles tragbare Wertvolle aus dem Haus zu entwenden und ihr eigenes Leben in der Stadt zu beginnen. Doch es war der morgendliche Blick in den Garten, der sie dieses Vorhaben immer wieder verschieben ließ. Sie sah die Vögel Nistmaterial sammeln und wollte noch warten, bis die Jungen geschlüpft waren. Sie entdeckte knospende Stauden, deren Erblühen sie nicht versäumen wollte. Auch die morgens auf dem Rasen hoppelnden Kaninchen wurden zu ihren Freunden. Sie hörte den Specht seine Höhle zimmern und entdeckte täglich neues, erwachendes Leben.
 
Den Gärtner, der die Anlage pflegte, nahm Jenny in ihrer Dumpfheit gegenüber Menschen kaum war. Sie saß  träumend auf der Terrasse, atmete süße Sommerluft, lauschte dem Wind und den Tieren. Bis der Gärtner eines Tages die Kübel an diesem Ort bepflanzte. Er sprach Jenny nicht an, sondern verrichtet seine Arbeit stumm, doch mit einer ehrfurchtsvollen Hingabe den Geschöpfen der Natur gegenüber. Seine schlanken Hände ließen die Erde in die Töpfe gleiten, als wolle er ein Kunstwerk schaffen. Mit achtsamer Zärtlichkeit plazierte er die jungen Pflanzen und näherte sich so bedächtig den Kübeln, die direkt neben Jennys Gartenstuhl standen. Erst dann bat er sie um Entschuldigung für die Störung, und das junge Mädchen blickte zum ersten Mal in seine Augen, die ihr in diesem lichten Blau wie ein Spiegel des Himmels erschienen.
 
Gerade als er begonnen hatte, wieder einen Topf mit fruchtbarer Erde zu füllen, klingelte sein Handy und der Gärtner entfernte sich, um den Anruf anzunehmen. Wie magisch zog der Sack mit der Erde Jenny an. Mit ihren bloßen Händen wühlte sie sich hinein, hob die leicht feuchte, schwarze Masse in ihren zur Schale geformten Fingern an und ließ sie dann vorsichtig in den Kübel fallen. Dabei durchströmte sie ein ursprüngliches Gefühl von Leben, dass sie bis dahin nicht gekannt hatte. Eifrig fuhr sie fort, das Gefäß zu füllen, mit einem Lächeln von Unschuld und Reinheit auf dem Gesicht. So wie sich ihre Hände wieder und wieder in die Erde gruben, verschmolz ihre Seele mit der Natur.
 
Jenny hatte nicht bemerkt, dass der Gärtner bereits wieder neben ihr stand, als die Arbeit vollendet war. Stumm, aber mit einem wissenden Lächeln auf den Lippen, reichte er ihr den kleinen Rosenstock, den Jenny nun behutsam in ihre Erde bettete. Mit Vorsicht und Hingabe schmiegte sie den Wurzelballen in den ausgesparten Platz, streichelte die Erde darüber, drückte ein wenig und richtete sich schließlich auf, um ihr Werk zu begutachten. Fragend schaute sie den Gärtner an. Nun überzog ein Strahlen sein Gesicht, dass sofort ein Echo in Jennys Miene fand.
 
Es waren noch einige Gefäße zu bepflanzen, was Jenny den Gärtner bat, selbst tun zu dürfen. Er verrichtete andere Arbeiten in der Nähe, wobei sich die Blicke der beiden immer wieder trafen. Dazu sang der Wind ein Lied der Verheißung.
 
Als Jenny später die Erde von ihren Händen wusch, sie in dunklen Rinnsalen im Abfluß verschwand, spürte sie erstmals wieder Tränen auf ihren Wangen. Mit noch nassen Händen rannte sie wieder hinaus in den Garten, wo der Gärtner gerade seine Geräte zusammenpackte. Er hielt inne und blickte zu Jenny hinauf auf die Terrasse. Minutenlang sahen sie einander an. Dann ging der junge Mann, der Gärtner, langsam auf Jenny zu, die befreit von Ängsten und Zweifeln in seine Arme flog.
 
In der Gärtnerei des Mannes pflanzten sie bald gemeinsam Blumen, Sträucher und Bäume. Doch Jennys ganze Freude war eine Orchideenzucht. Diese bescheidenen Pflanzen dankten ihr mit prachtvollen Blüten ihre liebevolle Zuwendung. Als eines Tages eine empörte Kundin eine offensichtlich vertrocknete Orchidee unter wilden Anschuldigungen zurückbrachte, reagierte Jenny gelassen, denn sie war es ja gewohnt, beschimpft zu werden. Doch der herbeigeeilte Gärtner ließ in seinen deutlichen Worten keinen Zweifel daran, dass er es nie wieder dulden würde, dass irgend jemand seine Jenny beschimpfte.           
 
                

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.09.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Zum wiederholten Mal muss sich die Gymnasiastin Lisa-Marie in einer neuen Schule zurechtfinden. Dabei fällt sie allein durch ihre bescheidene Kleidung und Zurückhaltung auf. Schon bei der ersten Begegnung fühlt sie sich zu ihrem jungen, attraktiven Lehrer, Hendrik von Auental, der einem alten Adelsgeschlecht entstammt, hingezogen. Aber das geht nicht ihr allein so.
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