Helmut Wurm

Sokrates und sein offener Brief an die Schulverwaltungen

Offener Brief an die Schul-Ministerien der Bundesländer

                                                von

          Sokrates, einem interessierten pädagogischen Beobachter,

                                derzeit unterwegs in Deutschland

  Kritische Bemerkungen zum deutschen Bildungssystem

Über das deutsche Bildungssystem wird seit Jahren immer wieder geklagt. Denn die realen Bildungs-Ergebnisse in den deutschen Schulen sind nicht so erfolgreich, wie sich das die moderne Industrienation Deutschland wünscht. Und auch für die Zukunft gibt es nicht zufrieden stellende Prognosen. Worin liegen die Ursachen?

Als reisender interessierter Pädagoge seit über 2000 Jahren sind mir die Schulsysteme und ihre Ergebnisse und Probleme in vielen Teilen der Welt bekannt geworden. Ich war neben meiner aktiven Zeit als Pädagoge in Athen Beobachter in römischen Schulen, in Koranschulen, mittelalterlichen Klosterschulen, neuzeitlichen Stadtschulen, in barocken Kavaliersschulen, in den humanistischen Gymnasien des 19. Jhs., in den Hitlerschulen des 3. Reiches, in BRD-Schulen und DDR-Schulen nach dem Krieg und in Schulen des wieder vereinigten Deutschlands. Besonders das Schulsystem der jüngsten deutschen Gegenwart hat mich interessiert, denn hier scheint man Erfahrungen der Vergangenheit nicht zu berücksichtigen, Erfahrungen, wie ich sie gemacht und wohl behalten habe.

Welche wichtigen Schwächen und Fehler kann ich als langfristiger Beobachter von Schulsystemen derzeit in Deutschland feststellen.

1. Schulen sind dort besonders erfolgreich, wo Lehrer überwiegend aus Freude und Verantwortung an der Bildung der Jugend ihren Beruf ausüben, unabhängig von ihrem sozialen Status und ihrem Einkommen.

Die Schulen Friedrichs d. Gr., in denen z.B. ausgemusterte invalide Soldaten die Schüler unterrichteten, waren in ihren Ergebnissen meistens schlechte Schulen, weil diese invaliden Soldaten hauptsächlich versorgt werden wollten. Dagegen waren z.B. diejenigen Schulen der französischen Aufklärungsepoche, in denen junge begeisterte Lehrer, teils ohne geregelte Einkommen, die Jugend von den Zwängen geistiger Bevormundung befreien wollten, in ihrem Erfolgen meistens gute Schulen. Mir scheint, dass sich in Deutschland in den letzten Jahrzehnten der Lehrerberuf zu sehr in Richtung einer gesicherten verbeamteten Lebensbasis orientiert hat, die mehr für sich praktisch als für Schüler pädagogisch denkende Interessenten angezogen hat. Das sollte sich ändern. Es sollte also mehr um Interessenten aus echtem pädagogischem Interesse als aus praktischen  Nützlichkeitsüberlegungen für die künftigen Lehrerstellen geworben werden.

Es ist deshalb nach meiner Ansicht ein falscher Weg, Interessenten für den Lehrerberuf durch weitere finanzielle Verbesserungen und Absicherungen anzuwerben. Es darf auch nicht der Eindruck verbreitet werden, dass der Lehrerberuf ein lukrativer Halbtages-Job ist für diejenigen, die sich nebenher intensiv politisch, in Vereinen oder im Haushalt  betätigen möchten.

2. Lernergebnisse hängen wie in der Wirtschaft auch von der Zeitdauer ab, in der gelernt wird.

In dieser Hinsicht ist mir aufgefallen, dass in vielen deutschen Schulen der Gegenwart zu viel Unterrichtszeit für Nicht-Unterricht oder nicht effektiven Unterricht verloren geht.   Die Ferien für Schüler und auch für Lehrer sind prinzipiell zu lang und in ihrer Dauer ungleichmäßig über das Schuljahr verteilt. Nach langen Sommerferien ist aus Erfahrung das Vergessen von gerade Gelerntem eine Tatsache. Während der Unterrichtszeit werden Konferenzen und Fortbildungsveranstaltungen abgehalten. Vor und nach den Ferien wird Unterrichtszeit mit nicht-effektiven Spielstunden vertrödelt. Klassenfahrten sind mehr Schul-Tourismus als Lernen in anderer Form. Der Unterricht wird von vielen Lehrern nicht permanent gut vorbereitet und straff geführt, sondern es wird Unterrichtszeit in den einzelnen Stunden unnütz verplaudert. Es werden teilweise zu häufig Projekttage abgehalten, deren Ergänzungswert zum Unterricht gering ist.

Die Ferien sollten deswegen insgesamt etwas gekürzt, aber gleichmäßiger über das Jahr verteilt werden. Die Zeit unmittelbar vor und nach den Ferien sollte für intensives Wiederholen genutzt werden. Für Konferenzen aller Art und für Fortbildungen darf keine Unterrichtszeit mehr verloren gehen. Es ist den Lehrern zuzumuten, dass diese Veranstaltungen in die unterrichtsfreie Zeit und in die Ferien verlegt werden. Klassenfahrten sollten wirklich nur „Schule in anderer Form“ und kein Schul-Tourismus sein. Projekttage sollten weniger Demonstrations-Effekte nach außen sein, dafür mehr „Lernen in anderer Form“.

3. Lehrer müssen sich regelmäßig fortbilden und ihr pädagogisches und fachliches Wissen erweitern und aktualisieren.

Mir ist aufgefallen, dass zu viele Lehrer zu viel Zeit mit ihrem Studium verbringen und dann weitgehend auf dem Wissensstand ihrer Universitätszeit verharren bzw. ihr Wissen zusammen mit den Schülern durch neue Schulbücher aufbessern. Dadurch ist zu oft der Unterricht sowohl in fachlicher als auch in pädagogischer Hinsicht nicht effektiv genug. Bestehende Fortbildungsveranstaltungen sind zu wenig wissenschaftlich (auch in der Pädagogik) orientiert.

Man sollte deswegen die Studienzeiten für Lehrer deutlich kürzen, diese dafür aber verpflichten, alle 2 Jahre einen intensiven Fortbildungskurs in ihren Fächern bzw. in Pädagogik, angeboten von den Schulverwaltungen, in ihren Ferien zu besuchen.

4. Der heutige Unterrichtstrend geht in Richtung zu viel selbst gesteuertem Gruppen-Unterricht und zu wenig straffem, Lehrer-zentriertem Unterricht.

Nach dem übertriebenen Lehrer-zentriertem Unterricht der Jahrhunderte davor schlägt man derzeit in Richtung des anderen Extrems um, nämlich in Richtung einer möglichst umfangreichen Gruppen-Selbsttätigkeit. Während bei der ersten genannten Einseitigkeit die Selbsttätigkeit und Kreativität der Schüler unterfordert blieb, haben heute diejenigen Schüler, die pädagogisch an die Hand genommen werden müssen, die also eine intensive Hilfestellung beim Lernen benötigen, mehr Schwierigkeiten beim Lernen. Der Anteil dieser Schüler wird häufig unterschätzt. Die selbst gesteuerte Gruppenarbeit wiederum ist teilweise zu „gemütlich“,  also zu wenig zeitintensiv.

Es muss deshalb eine Ausgewogenheit angestrebt werden zwischen intensiver selbst gesteuerter Gruppenarbeit und Lehrer-zentriertem Unterricht in anschaulichen, kleinen Lehrschritten. Gerade bei der Gruppenarbeit muss mehr auf zeit-intensives Arbeiten geachtet werden. Modernität darf nicht euphorisch das bewährte Frühere über Bord werfen wollen.

Das Lernen in den Sprachen orientiert sich weiterhin offensichtlich zunehmend nach dem Prinzip des intuitiven Lernens, so wie Kinder ohne klare Regelkenntnisse eine Sprache lernen. Dabei wird übersehen, dass gute Sprachkenntnisse der Kenntnis der jeweiligen Sprachregeln bedürfen und dass gerade langsamere, weniger intuitiv begabte Schüler die Lern-Stütze der Regeln nötig haben. Es ist deswegen im sprachlichen Unterricht eine Ausgewogenheit zwischen intuitivem und systematischem Lernen anzustreben.

5. Schüler wachsen und reifen nicht gleichmäßig im Jahresrhythmus wie Industrieprodukte.

Während früher anstandslos akzeptiert wurde, dass Schüler wie Pflanzen unterschiedliche Wachstums- und Reifungsphasen und Reifungsgeschwindigkeiten aufweisen und man retardierten Schülern, aus welchen Gründen auch immer, die Möglichkeit bot, wiederholt in ihrer Schulzeit freiwillig eine Klasse zu wiederholen, wird diese Anpassung nach Zurück

zunehmend erschwert und dafür die Früheinschulung gefördert. Ein Lernen mit möglichst eigener Einsicht und Akzeptanz des Lernstoffes bedarf aber einer gewissen angepassten Reife. Man möchte offensichtlich die Kosten für das Schulwesen durch solchen Jahrgangs-Konformismus senken – auf Kosten der Schüler. Denn in ihrer Entwicklung retardierte Schüler lernen schlechter und senken das gesamte Lernniveau.

Man sollte deswegen wieder innerhalb der Klassenstufen das Zurücktreten erleichtern und die Früheinschulung nicht fördern. Schüler, die später etwas lernen, lernen das schneller und leichter als Schüler, die zu früh eingeschult worden sind und ihre Unreife ständig vor sich her schieben.   

6. Die heutigen Schüler sind so vielen ablenkenden Einflüssen akustischer und optischer Art ausgesetzt, dass in den Schulen solche Ablenkungen verringert werden müssen.   

Mir ist aufgefallen, dass in den Schulen zunehmend eine Flut von Bildern, Zeichnungen Bastelarbeiten und Plakaten hängen bzw. ausgestellt werden, teilweise im modernen Pop-Stil, und dass diese bunte Farben- und Formenwelt in den Klassenzimmern und Gängen das Beachten der wirklich beachtenswerten Objekte mindert. Ich habe Schulen gesehen, in denen nicht nur alle Gänge und Raumwände, sondern auch die Decken mit Plakaten, Zeichnungen und Bildern behängt waren und in denen die Schüler mittlerweile achtlos an dieser Plakatflut vorbei gingen.

Zusätzlich ertönt in Pausen oft laute Musik bzw. es hören immer mehr Schüler in den Pausen über kleine Kopfhörer Musik. Das entspannt nicht mehr, das lenkt ab und mindert das Haften von Gelerntem. Solchermaßen zerstreute, abgelenkte Schüler bringen dann bei Vergleichsarbeiten schlechtere Ergebnisse.

Es sollte deswegen mehr auf eine Ausgewogenheit zwischen Plakat- und Bilderflut und Geräuschpegel auf der einen Seite und der notwendigen Ruhe und Unabgelenktheit auf der anderen Seite geachtet werden.

Dazu gehört auch die Gestaltung von Schulbüchern. Mir ist aufgefallen, dass vielfach die Schulbücher zunehmend bilder- und skizzenreicher und bunter werden, teilweise mit sehr banalen Zeichnungen. Sie werden dadurch nicht nur dicker und schwerer, sondern auch teurer und die vielen eingestreuten Bilder lenken labile Schüler zunehmend im Unterricht ab.

Schulbücher sollen keine bunten Lern-Illustrierten sein, sondern sie sollen das Lernen unterstützen. Sicher können gut ausgewählte, anschauliche Bilder die Vorstellungskraft steigern. Aber es geht um eine Ausgewogenheit zwischen „Verbilderung“ und Texten. Hier muss zurück gefahren werden.

Schlussbemerkung:

Ich könnte noch weitere kritische Beobachtungen zum deutschen Schulwesen der Gegenwart anfügen. Aber Haupttendenzen von notwendigen Änderungen sind genannt. Sicher sind diese kritischen Bemerkungen nicht für die Mehrheit der im deutschen Schulsystem eingebunden Personen angenehm. Aber ich stehe nicht unter dem Zwang der modernen demokratischen Politiker, mit Zielen und Forderungen der Mehrheit gefallen zu müssen. Deswegen haben es in den demokratischen Ländern Europas konsequente schmerzhafte Reformen bezüglich ihrer Umsetzung so schwer. Aber das kenne ich schon aus meiner aktiven Zeit im antiken demokratischen Athen. 

(Verfasst von Sokrates, unterwegs auf einer Reise zu einem Schulkongress über Verbesserungen und Effektivitäts-Steigerungen im deutschen Schulwesen)

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.09.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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