Diethelm Reiner Kaminski

Schief gewachsen

 
 
Professor Oblika kam mit wehendem blütenweißen Kittel in den Besprechungsraum gestürzt und rief, bevor er noch Platz an dem runden Plastiktischchen genommen hatte: “Entschuldigen Sie vielmals meine kleine Verspätung, aber ich bin wie immer in arger Zeitnot. Ein Termin jagt den anderen, alles muss man allein machen, auf niemanden ist Verlass, nun, bei Ihnen bei der Zeitung wird es nicht anders sein. Ich freue mich aber sehr, dass Sie meine Forschungsarbeit einer breiteren Öffentlichkeit vorstellen möchten. Ein Herzensanliegen meinerseits. Sie werden es nicht bereuen. Aufsehenerregend, aufsehenerregend, das kann ich Ihnen jetzt schon versprechen, also legen Sie los mit Ihren Fragen.“
Als Volontärin der hiesigen Tageszeitung hatte ich nur eine vage Vorstellung von der Bedeutung des Forschungsprojekts dieses Professors, das mir im übrigen restlos gleichgültig war, ich nahm auch an, dass dieser Beitrag ein reiner Lückenfüller werden sollte, vielleicht noch nicht einmal gedruckt werden würde, aber irgendwie musste man mich Grünschnabel ja beschäftigen. Alle Interviews von einiger Bedeutung ließ die Zeitung von erfahrenen Redakteuren durchführen. Aber das alles musste ich dem ziemlich von sich eingenommenen Professor ja nicht unter die Nase reiben. Sollte er doch ruhig glauben, ich sei ein Jemand in der Zeitung. Ich hatte mir schon während der Fahrt zur Klinik ein paar Einleitungssätze überlegt.
„Herr Professor, dass der Mensch in seinem Körperbau nicht unbedingt ein Muster an Harmonie ist, haben anthropologische Forschungen immer wieder bewiesen. Ein Bein kürzer als das andere, keine zwei gleichen Gesichtshälften, unterschiedlich große Brüste usw., aber nie zuvor wurde die Messungen so verfeinert wie von Ihnen. Sie haben den Nachweis erbracht, dass bei diagonalen Messungen, z. B. von der linken Schulter vorn bis zum rechten Knie oder vom rechten Schulterblatt bis zur linken Gesäßbacke Längenabweichungen von bis zu zehn Prozent die Regel sind.
Wie erklären Sie es sich, dass Generationen von Medizinern vor Ihnen nicht auf die Idee gekommen sind, solche fundamentalen Messungen vorzunehmen?“
Der Professor räusperte sich und antwortete, indem er die Arme ausbreitete, als ob er mich segnen wollte: „Blindheit, ganz einfach wissenschaftliche Blindheit. Oft sind die Kollegen so in ihrem engstirnigen Denken befangen, dass sie das Naheliegende nicht mehr sehen. Ich hingegen habe mir meine Offenheit bewahrt. Ich stelle immer wieder alles in Frage, selbst meine eigenen Hypothesen. Das ist der simple Geheimnis meines Erfolgs.“
„Herr Professor, verraten Sie uns bitte, auf welcher Grundlage Ihre Ergebnisse beruhen, die Sie, wie die Pressestelle Ihres Hauses verlauten ließ, in Kürze publizieren werden?“
„Ich hätte mich mit tausend Probanden begnügen können, um den wissenschaftlichen Mindestansprüchen genügen zu können, aber damit habe ich mich nicht zufrieden gegeben. Um ganz sicher zu gehen und nichts dem Zufall zu überlassen, habe ich die Zahl nicht nur verdoppelt oder verdreifacht, sondern verfünffacht. Eine bedeutend breitere Basis also als allgemein bei empirischen Untersuchungen üblich. Jetzt kann mir kein missgünstiger Hansel mehr etwas ans Zeug flicken.“
„Erstaunlich, erstaunlich“, murmelte ich, um den Professor bei Laune zu halten. „Eine stolze Lebensleistung. Sicherlich arbeiten Sie seit vielen Jahrzehnten an Ihrem Projekt.“
Der Professor winkte bescheiden ab: „Sie trauen mir ja nicht gerade viel zu. Keine zwei Jahre habe ich gebraucht. Ich wiederhole: Keine zwei Jahre. Heben Sie diese einmalige Leistung bitte in Ihrem Beitrag entsprechend hervor. Wie ich das Arbeitstempo meiner Fachkollegen einschätze, hätte keiner von ihnen diese Datenmengen zu Lebzeiten zu sammeln, geschweige denn wissenschaftlich zu verarbeiten vermocht.“
„Soll ich das als Zitat einfügen?“, fragte ich vorsichtshalber.
Professor Oblika zögerte kurz und sagte dann entschieden: „Warum eigentlich nicht? Was wahr ist, muss wahr bleiben. Ich kann jederzeit den Nachweis erbringen, dass ich mit meiner Einschätzung richtig liege.“
Sehr inhaltsreich mutete das Interview noch nicht an. Selbst wenn es gar nicht gedruckt wurde, ließ mein aufkeimendes Berufsethos eine solche Leere nicht zu.
„Eine Frage, die unsere Leser gewiss zutiefst bewegt“, riss ich das Gespräch wieder an mich: „Wozu dieser gigantische Aufwand? Wollen die Menschen wirklich wissen, wie schief sie konstruiert sind? Leben sie nicht glücklicher in der Illusion, ohne Makel zu sein?“
„Das wird uns Wissenschaftlern ja leider immer wieder unterstellt, dass wir ins Blaue hinein forschten, ohne jeden Bezug zur Wirklichkeit. Im Gegenteil, meine Gute, im Gegenteil. Von Anfang an hatte ich vor allem den praktischen Nutzen im Blick. Ist Ihnen noch nie aufgefallen, wie schlecht bei den meisten Menschen Jacken, Kleider, Kostüme, Anzüge, Mäntel sitzen? Und woran liegt das? Weil keine Rücksicht genommen wird auf den in der Regel schiefen Körperbau. Meine Forderung an die Kleiderindustrie: Präzise Anpassung der Kleidungsproduktion an die individuellen Körpermaße. Und zwar in engster Zusammenarbeit zwischen uns Wissenschaftlern und der Industrie. Wir liefern die Daten, sie die passgenaue Kleidung.“
„Aber würde eine individuelle Fertigung die Produktion nicht immens verteuern?“, wandte ich ein.
„In den ersten Jahren vielleicht“, räumte der Professor ein, „die Forschungs- und Entwicklungskosten müssen ja irgendwie finanziert werden, danach im Zeitalter elektronischer Optimierung eindeutig nein. Ich rechne sogar mir einer Senkung der Kosten, sobald die elektronische Massenproduktion begonnen hat.“
In dem Augenblick fiel mir der Kugelschreiber, mit dem ich die ganze Zeit über mehr gespielt als geschrieben hatte, auf den Teppichboden. Ich bückte mich, um ihn aufzuheben und spürte, wie die Stielaugen des Professors immer länger wurden und mir in den Ausschnitt krochen.
„Eine kleine Bitte hätte ich noch“, sagte der Professor, nachdem ich mich wieder aufgerichtet hatte: „Würden Sie mir erlauben, Sie anschließend zu vermessen? Normalerweise übernehmen das meine Assistenten, aber in Ihrem Falle mache ich eine Ausnahme.“
Ich errötete und stotterte: „Ein andermal gerne, aber jetzt … Der Termindruck, Sie wissen ja, mein Chefredakteur wartet schon ungeduldig auf das Interview, das ja auch noch bearbeitet und in die endgültige Form gebracht werden muss.“
Eine unverschämte Lüge, denn in der Redaktion war jeder froh, wenn ich mich den ganzen Tag nicht wieder blicken ließ. Sonst würden sie sich wieder neue Aufgaben für mich aus den Fingern saugen müssen.
Der wahre Grund war vielmehr, dass mein perfekter  Körper mein ganzer Stolz war. Diese Illusion wollte ich mir nicht rauben lassen. Er hatte mir immerhin eine Volontärstelle bei der Zeitung eingebracht.
Auch auf die Gefahr hin, dass meine Kleider nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen um meinen eventuell ebenfalls unregelmäßig geformten Körper schlackerten, wollte ich mich um nichts in der Welt von dem Irrglauben abbringen lassen, dass mein Körper ein Muster an Harmonie sei.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.09.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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