Christiane Mielck-Retzdorff

Im Laufe der Zeit




 
Auf den warmen Strahlen des Frühlings tanzten die Meisen ihr Pas de deux durch das Grün der ersten Blattknospen, zogen die weißen Schwäne neben ersten, von Ungeduld getriebenen Seglern ihre Bahnen über das schimmernde Naß der Außenalster. Die zeitlose Hektik der geschäftigen Metropole hielt staunend inne in Erkenntnis des stetigen Neubeginns. Wiesen zarter Krokusse leuchteten den letzten Rest des Wintergraus fort und forderten von den Menschen einen Augenblick des Innehaltens.
 
Sonnenhungrig wurden die kaum getrockneten Grasflächen neben dem Fluß von jenen belagert, die in der Berührung mit dem Boden dem Frühlingserwachen huldigten. Neben ihnen reckten sich die Bäume, tätschelten Weiden das Wasser, während die Häusergiganten in der Ferne mit dem Himmel verschmolzen, an dem in ein Flugzeug in der Weite verschwand.
 
Das Jauchzen der Kinder vermischte sich mit munterem Geplauder und dem Gebell spielender Vierbeiner zu einem Lied, dessen Freude nicht das Geräusch der Automotoren noch der Polizeisirenen trüben konnte. Erste Bälle flogen unkontrolliert, übermütig badende Hunde schüttelten die Tropfen ihres Fells über die ruhenden Genießer. Doch all das weckte nur verständnisvolles Lächeln in dieser Zeit der Wiedergeburt.
 
Und mitten in diesem Bild in den Parkanlagen der Außenalster lag Melanie in der Sonne, ihre Handtasche unter dem Kopf, die Augen geschlossen und lies ihre Gedanken schweben. Der Frieden, der sie erfüllte, malte ein Lächeln auf ihre rosigen Lippen. Doch dann fiel ein Schatten auf sie, der ihr erst bewußt wurde, als eine zarte Gänsehaut ihr bloßen Arme überzog und ihr Körper leicht erschauerte. Die Sonne verdeckend stand ein stattlicher Mann und sah mit staunender Bewunderung auf sie hinab.
 
Sein Gesicht spiegelte Wohlwollen, doch seine Erscheinung glich einer düsteren Statue voller gebändigter Kraft. Seine Augen streichelten Melanies Körper ohne Begierde, aber auf eine Art, der keine Detail entging. Die junge Frau rührte sich nicht, sondern betrachtete ihrerseits diesen Mann, dessen schlanker Körper nachlässig in Jeans und Hemd gehüllt war und dessen einzige Regung die Bewegungen seiner Augen war. Dann, so als hätte ihn jemand zum Leben erweckt, ließ er sich lässig neben Melanie nieder und stellte sich fröhlich als Leon vor.
 
Seine Gegenwart war Melanie angenehm, die anfängliche Scheu bald gewichen, war er doch ungezwungen und heiter im Gespräch. Nur seine dunklen Augen, die zusammen mit dem schwarzen Haar den Eindruck eines Südländers vermittelten, waren gelegentlich von einer flackernden Unruhe, die so gar nicht zu der Leichtigkeit seiner Worte passen wollte.
 
Melanie arbeitete schon lange als Kellnerin und hatte sich ein hohes Maß an Menschenkenntnis angeeignet. Doch Leon konnte sie schwer einschätzen. Das weckte nicht nur ihre Neugierde sondern übte eine eigentümliche Anziehungskraft auf sie aus. Dazu kam, dass er zu jenen Männern gehörte, die allein durch ihre Erscheinung die Aufmerksamkeit der Frauen erregte. Auch schmeichelte seine tiefe, melodische Stimme, die beiläufig poetische Sätze bildete.
 
Allein ein vergessenes Herbstblatt, dass auf dem Wasser schwamm, regte Leon zu philosophischen Gedanken an, die Melanie so nie in den Sinn gekommen wären und nun ihre Betrachtung der Welt begleiteten. Es erfüllte sie mit Stolz, dass jemand ihren Geist mit Neuem erfüllte. Sie hörte sich Worte sagen, von denen sie nicht gewußt hatte, dass sie in ihrem Kopf  ruhten. Und mit Leons erster Berührung war auch ihr Körper bereit dem Weg zu folgen. Es war Frühling.
 
In der Trägheit der Sommerhitze wartete Melanie ohne Ungeduld auf Leon. Er war ein Künstler des Lebens, der Musik, der Malerei, der Poesie. Er erschien, wann es ihm beliebte, blieb so lange er nach Eingebungen suchte und verschwand, um nach neuer Erfüllung zu streben. Hin und wieder entdeckte Melanie seine Werke eher zufällig. Mal spielte Leon in einem kleinen Club auf St. Pauli selbstvergessen für einen kleinen Kreis von Bewunderern auf der Gitarre, mal wurde ein Gemälde von ihm in einer Galerie zum Kauf angeboten, mal trug er in einem Literaturhaus eigene Gedichte vor, die in mächtigen Worten verschlungen eine suchende Seele priesen.
 
Melanie mußte sich nie über einen Mangel an Verehrern beklagen. Sie war hübsch anzusehen, hatte ein unkompliziertes, fröhliches Wesen und verfügte zudem noch über die Eigenschaften einer guten Hausfrau. Nicht wenige und durchaus geeignete Männer wünschten ihr Leben mit ihr zu teilen. Doch während ihre Freundinnen heirateten, mußte Melanie sich eingestehen, das es in ihrem Leben nur eine Liebe gab. Das Unverständnis ihrer Mitmenschen war ihr gewiß, denn nichts in ihrer Beziehung zu Leon hatte Beständigkeit. Auch wenn er gerade viel Geld verdiente, mußte Melanie weiter als Kellnerin schuften. Verantwortung sah er nur sich selbst und seiner Kunst gegenüber.
 
Manchmal wußte Melanie selbst nicht, warum sie ihr Leben auf  den wenigen Momenten des Zusammenseins aufbaute, sich nicht in die Ordnung einer Familie fügen wollte. Es gab für sie nur eine unsichere Gegenwart und keine Zukunft. Aber etwas in ihr nährte die Gewißheit, dass dies alles einen Sinn hatte. Es war Sommer.
 
Im Herbst suchte Leon häufiger die Wärme von Melanies kleiner Wohnung. Dann herrschte die beinahe langweilige Gleichförmigkeit einer Partnerschaft. Manchmal erschien es ihr, als suche Leon an diesem Ort seine innere Ruhe, um dann beinahe verzweifelt wieder in die Welt hinaus zu rennen, um das Unbegreifbare in Farben, Worten, Figuren oder Tönen einzufangen. Auch wenn Melanie eher bodenständig und wenig nachdenklich war, hatte sie doch eine wage Ahnung von dem, was Leon antrieb.
 
Wenn sie die Krähen beobachtete, die sich zu dieser Jahreszeit sammelten, krächzend schwirrten, sich akkurat auf den Hochspannungsleitungen niederließen, um dann wieder in Gruppen zu ihren Horsten zurückzukehren, erkannte sie, dass sich dem Betrachter in dem vermeintlichen Chaos die Ordnung verbarg. Eines von Leons Lieblingsgedichten war „Vereinsamt“ von Friedrich Nietzsche. Auch dort erscheinen die Krähen und mit ihnen der Wunsch nach Heimat. So wollte Melanie Leons Heimat sein. Es war Herbst.
 
Leon vermachte Melanie seine sämtlichen Werke, die in einem muffigen Keller gelagert waren. Da sie nichts von Kunst verstand und die Trauer in ihrem Herzen es nicht zuließ, sich damit zu beschäftigen, war sie dankbar, dass die Hamburger Kunsthalle die Sammlung kaufte. Auf diese Weise hatte Leon dann doch für Melanie gesorgt, denn mit dem Geld konnte sie sich einen angenehmen Lebensabend gestalten.
 
Man lud die alte Frau zur Eröffnung der Ausstellung ein, wo unter anderem ein bisher nie gezeigtes, hoch gelobtes Meisterwerk des Künstlers nun dem Publikum vorgestellt werden sollte. So wie die Experten und die Presse sich in Begeisterung wälzten, empfand Melanie eine stille Befriedigung. Alles schien mit einem Mal einen Sinn zu bekommen.
 
Als in einem feierlichen Akt das Gemälde enthüllt wurde, traten Melanie die Tränen in die Augen. Es zeigte eine auf den Alsterwiesen im Frühlingssonnenlicht wie schlafend liegende Frau mit einem geheimnisvollen Lächeln auf den Lippen. Und die anderen Gäste fragten sich, berührt und angetan, wer wohl diese liebreizende Frau gewesen sein mochte.
 
Melanie stapfte durch den Schnee, als ein spätes Herbstblatt neben dem Weg seine Ruhestätte fand. Leon hatte sie geliebt. Es war Winter, aber bald würde der Frühling zurückkehren.


                  

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.09.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Trug und Wahrhaftigkeit: Eine Liebesgeschichte von Christiane Mielck-Retzdorff



Zum wiederholten Mal muss sich die Gymnasiastin Lisa-Marie in einer neuen Schule zurechtfinden. Dabei fällt sie allein durch ihre bescheidene Kleidung und Zurückhaltung auf. Schon bei der ersten Begegnung fühlt sie sich zu ihrem jungen, attraktiven Lehrer, Hendrik von Auental, der einem alten Adelsgeschlecht entstammt, hingezogen. Aber das geht nicht ihr allein so.
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