Manfred Bieschke-Behm

Die Tage werden kürzer - Ein Baum erzählt



Mich gibt es nun schon zwölf Jahre. Über mein Erscheinungsbild mache ich mir keine Sorgen. Ich bin schlank, anspruchslos und und besitze eine wohltuende Standfestigkeit. Ich besitze eine schmale Laubkrone und habe wenige Verästelungen. Ganz besonders stolz bin ich darauf, mich selbst ausgesät zu haben.
Nun hat der Herbst Einzug gehalten. Die Tage werden spürbar kürzer, dafür die Nächte lang und länger. Für mich ist der Herbst die Zeit, über die vergangenen Monate nachzudenken. Ja, ich kann sagen, dass ich in diesem Jahr wegen meiner Schönheit viele Bewunderer hatte. Mir selbst imponiert mein Schatten, der je nach Sonnenbestrahlung lang und länger wird. Manchmal durchdringt mein Schatten den mir gegenüber stehendem Baum Das gibt mir das gute Gefühl von Nähe zu meinen Artgenossen und macht mir gleichzeitig deutlich, dass es die für mich lebenswichtige Distanz gibt. Gerne erinnere ich mich daran, dass der eine oder andere Mensch sich zu meinen Wurzeln niederließ. Er genoss das Windspiel in meiner Krone, dass manchmal wie Harfenklänge wahrzunehmen war.
Es gab auch viele unaufgeregte Tage. Diese Tage genoss ich besonders. Nicht abgelenkt zu werden, sondern nur mit sich beschäftigt zu sein. Ich hatte Zeit mich mit meiner Umgebung zu befassen, konnte ungestört beobachten und meine Gedanken fließen lassen. Da ich weit und breit der höhst gewachsene Baum bin, habe ich das Privileg über alle Wipfel hinweg meine Beobachtungen anstellen zu können.
Meine hohe Krone hatte auch in diesem Jahr Vögel angelockt, die in meinen Verästelungen Nester bauten. Es war schön zu beobachten, wie die Alten ihre Jungen zu flugfähigen Vögeln aufzogen um sie dann letztendlich in die Selbstständigkeit zu entlassen.
Ja, es gab vieles was mir große Freude bereitete. Aber es gibt auch die andere Seite. Was ich zum Beispiel gar nicht mag ist die Unsitte mir Blätter und Zweige zu stehlen. Ohne sich Gedanken zu machen brechen Menschen Zweige von mir ab, die sie alsbald achtlos wegwerfen. Was soll das? Mir werden auf Dauer Schmerzen und Verlust zugefügt und das nur für einen Moment des Übermutes und der Lustbefriedigung. Das tut weh! Sehr sogar! Aber meinen Schmerz sieht ja keiner, und deshalb wird mir dieses Unglück sicherlich auch in den nächsten Jahren nicht erspart bleiben. Vieleicht habe ich diesbezüglich Ruhe, wenn ich noch weiter in die Höhe gewachsen bin und die Menschen nicht mehr an mein Blattwerk gelangen. Das wäre schön!
Was ich sicherlich nicht verhindern kann, ist die Tatsache, dass Menschenkinder Initialen oder sonst was in meine Rinde schnitzen. Warum tun sie das? Warum nehmen sie sich nicht eine alte Mauer um sich zu verewigen? Warum muss ich für eine Laune herhalten, die mir weh tut?
Der Herbst, ist auch die Zeit der Drachen. Bestimmt wird sich wieder der eine oder andere Drachen in meine Krone verfangen. Bestimmt wird es wieder Menschenkinder geben, die mich in der Hoffnung besteigen ihren Drachen befreien zu können. Manchmal gelingt es. Aber manchmal ist der Versuch vergebens. Dann bleibt der Drachen solange in meine Krone gefangen bis der  Wind oder ein Unwetter ihn auf nimmer Wiedersehen verschwinden läßt. Der Herbst ist auch die Zeit wo ein nicht gern gehörtes Geräusch an meine Blätter dringt. Der unliebsame Klang kommt von einer Motorsäge. Allein der Gedanke daran lässt mich unruhig werden. Meist folgt nach dem unangenehmen Geräusch ein knacken, danach ein krachen und letztendlich ein dumpfer Aufprall. Mit mir geschehen, wäre das mein Ende. Letztes Jahr traf es meine Nachbarin, eine alte Erle. Gut, sie war reich an Jahren und sicherlich wäre sie kurz über lang sowieso in sich zusammengefallen. Aber dennoch gibt es die Angst, dass es beim nächsten Mal mich treffen könnte. Vielleicht würde man mich versehentlich fällen. Dann wäre es zu spät und nicht mehr rückgängig zu machen.
Ja, die Tage werden wirklich kürzer und es bleibt mehr Zeit zum träumen. Ich träume vom nächsten Frühjahr. Die Tage sind dann wieder mit mehr Licht erfüllt und die Luft riecht frisch, würzig und sauber. Ich werde mich recken und strecken und junge Triebe bekommen. Mein Laub wird sich erneuern und in einem saftigen Grün stolz sich zeigen. Menschenkinder werden mich zufällig oder absichtlich besuchen und sich an mir erfreuen. Ich werde ihre Grüße mit dem wippen und rauschen meiner Äste und Blätter erwidern und mich freuen über jeden Tag der eigenen Zufriedenheit. Das, und noch mehr, werde ich träumen. Aber nicht nur träumen, sondern ganz sicher erleben. Versprochen!

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.09.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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