Helmut Wurm

Sokrates und von Eltern-Ehrgeiz und Terminen gehetzte Schüler

 

Sokrates weiß als erfahrener Pädagoge, dass jeder Mensch in seiner Jugend neben guten auch schlechte Phasen des Lernens gehabt hat und dass die Schule oft wenig hilfreich in solchen Krisen ist. Deswegen hält er private Nachhilfe für sehr nützlich, weil dann der Schüler, der gerade eine Lernkrise hat, individuell gefördert und an die Hand genommen werden kann. Dabei darf solche Nachhilfe sich nicht auf die Betreuung der Hausaufgaben beschränken oder sogar die Hausaufgaben weitgehend mit gestalten, sondern eine gute Nachhilfe muss das Ziel haben, den Schüler nach einer gewissen Zeit wieder zum eigenen selbstständigen Lernen zu befähigen. Gute Nachhilfe muss also Hilfe zur Selbsthilfe sein, muss Förderunterricht und darf nicht permanente Hausaufgabenbetreuung sein. Eine solche letztere hat Sokrates in der Regel abgelehnt und hat immer die Ansicht vertreten, dass dann der Schüler/die Eltern die gewählte Schule und den anvisierten Schulabschluss überdenken sollten.

 

Solche Hilfe zur Selbsthilfe, zum eigenen selbstständigen Lernen kann aus verschiedenen Gründen nötig werden. Ein Schüler kann eine begrenzte Entwicklungsverzögerung haben

und deswegen die Reife und die Einsicht für bestimmte Themen noch nicht besitzen. Ein Schüler kann aus familiären Gründen, die ihn belasten, in Lernschwierigkeiten geraten sein. Durch Krankheit hat er längere Zeit Unterricht versäumt. Oder bei Umzug an einen anderen Schulort kann die neue Schule schon weiter im Lernstoff fortgeschritten sein, als die vorher besuchte Schule, usw. Kurz, es gibt eine Fülle von Gründen, weshalb Nachhilfe notwendig wird. Aber in einem bestimmten Falle sollte ein verantwortungsbewusster Nachhilfelehrer sich in keinem Fall zu Nachhilfe bereit erklären, wenn nämlich… Aber das wird im nachfolgenden Fall sicher gut verständlich werden.

 

Sokrates gibt selber gerne in besonderen Fällen, wenn er es bei seinen Kurzaufenthalten einrichten kann, Nachhilfe. Aus welcher Sozialschicht die Hilfe Suchenden dabei kommen ist ihm gleichgültig. Aber immer gibt er nur Hilfe zur Selbsthilfe, das kann bei ihm ja auch gar nicht anders sein. Und es sind, wegen der begrenzt zur Verfügung stehenden Zeit, bei ihm immer Crash-Kurse in solcher Hilfe zur Selbsthilfe.

 

Also, zu Sokrates kommen wieder einmal Eltern und bitten um Nachhilfe für ihren Sohn und ihre Tochter. Beide besuchen auf dem Gymnasium die 9. bzw. die 10. Klasse. Die Eltern haben die beiden Kinder mitgebracht und hoffen auf eine sofortige zielgerichtete (d.h. auf den im Unterricht behandelten Stoff orientierte) Nachhilfe. Die Schüler haben deswegen auch ihre Schultaschen mit den Büchern und Heften gleich mitgebracht.

 

Sokrates (freundlich-abwehrend): Liebe Eltern, so schnell geht das bei mir nicht. Ich möchte ähnlich wie ein guter Arzt vorgehen. Der kann auch nicht sofort ein Medikament verschreiben, der muss sich erst einmal Klarheit über die Krankheit verschaffen. Was bedrückt euch denn bezüglich den schulischen Leistungen eurer Kinder?

 

Die Eltern (unglücklich): Unsere Kinder stehen in allen Hauptfächern zwischen knapp ausreichend und mangelhaft. Wir wissen nicht genau, woran das liegt. Unsere Kinder sind

begabt für das Gymnasium, davon sind wir fest überzeugt. Aber einmal passen sie im Unterricht nicht genügend auf und natürlich sind auch die Lehrer schlecht, sie erklären nicht gut genug. Jetzt haben beide Kinder immer mehr Lücken und die Oberstufe rückt näher und damit das Abitur und das sollen sie unbedingt schaffen. Wir haben auch schon andere Nachhilfe-Lehrer bemüht, die ihnen bei den Hausaufgaben geholfen haben, aber im Unterricht und bei den Klassenarbeiten haben unsere Kinder immer wieder versagt. Du, Sokrates, wirst uns und unseren Kindern sicher helfen können. Es hängt wirklich nur an den schlechten Lehrern und an der mangelnden Aufmerksamkeit unserer Kinder im Unterricht

 

Sokrates: Ich möchte mir doch erst einmal ein umfangreicheres Bild verschaffen und muss dazu weit zurück gehen. Wie alt waren denn euere Kinder, als ihr sie eingeschult habt?

 

Die Eltern (ziemlich stolz): Man hatte schon im Kindergarten festgestellt, dass unsere beiden Kinder ungewöhnlich aufgeschlossen und interessiert waren. Wir haben daraus geschlossen, dass beide überdurchschnittlich begabt sind und haben beide deswegen etwas früher eingeschult, als es die Norm ist. Wir haben gelesen, dass frühe Einschulung

auch früheres Abitur bedeutet und damit früheres Geldverdienen. So haben wir jedenfalls in einer Zeitschrift von einem Professor gelesen…

 

Sokrates (etwas verächtlich): Solche Artikel in Zeitschriften von Professoren, die schnell etwas Idealistisches hinschreiben, gibt es viele… Und jetzt seid ihr enttäuscht, dass es in der Schule nicht so gut läuft wie erhofft. Wie wurden denn euere Kinder von den Lehrern der Grundschule beurteilt?

 

Die Eltern: Die haben gemeint, unsere Kinder wären zwar schnell im Reagieren und an allem interessiert, was um sie herum vorginge, aber gleichzeitig etwas langsam im Erkennen von Zusammenhängen… Deswegen hatten sie auch immer nur mittelmäßige Noten in den Hauptfächern… Aber das passt ja schlecht mit „schnell im Reagieren“ und „interessiert an ihrer Umgebung“ zusammen… Die Grundschullehrer konnten unsere aufgeweckten Kinder wohl nicht leiden.

 

Sokrates: Das Urteil der Grundschullehrer kann man auch so deuten: Euere Kinder sind

unruhig-nervös und gleichzeitig neugierig in ihrer Grundschulzeit gewesen. Das hat nichts mit Intelligenz und Begabung zu tun… Welche Verhaltensnoten haben sie denn jetzt im Gymnasium?

 

Die Eltern (etwas sachlicher und gedehnt): Ja, … Sie haben einige Tadel mit nach Hause gebracht, weil sie andere schnell stören. Und ihre Mitarbeitsnote wurde damit begründet,   

dass sie zu schnell die Aufmerksamkeit verlieren… Wir sagten das ja schon und sehen neben den schlechten Lehrern darin die Hauptursache für die enttäuschenden Leistungen.

 

Sokrates (direkt weiter fragend): Und weshalb habt ihr euere Kinder dann auf dem Gymnasium angemeldet, obwohl nach den Beurteilungen der Grundschullehrer sicher dafür keine Empfehlung vorlag.

 

Die Eltern (ihre Gesichter werden unbeweglich): Wir sind der festen Überzeugung, dass unsere Kinder hochbegabt sind und da kommt für uns nur der Besuch des Gymnasiums in Frage. Die Beurteilungen der Grundschulen sind sowieso häufig falsch und man muss ihnen ja nicht folgen…

 

Sokrates: Haben denn euere Kinder gerne zum Gymnasium gewollt?

 

Die Eltern (wieder mit einem starren Gesichtsausdruck): Wenn es um solch wichtige Entscheidungen geht, müssen sich Eltern durchsetzen, auch wenn unser Sohn immer noch gerne auf dem Kinderspielplatz tobt und unsere Tochter immer noch Puppen und Kuscheltiere mag. Wir denken, dass das darauf hinweist, dass unser Sohn später einmal Sozialpädagoge für Jugendspiele und unsere Tochter Textil-Ingenieurin werden sollte.

 

Sokrates (jetzt ebenfalls kühler werdend): Für mich deutet das mehr darauf hin, dass eure Kinder zu früh eingeschult wurden und ihr verlorenes Kinderjahr vor sich her schieben. In welchen Fächern sind denn eure Kinder auf dem Gymnasium gut?

 

Die Eltern (etwas freundlicher): Unsere Tochter ist in Musik sehr gut und unser Sohn in Sport. Da gehören sie zu den Besten. Die Musik- und Sportlehrer sind auch viel besser, viel pädagogischer als die anderen Lehrer. Sie gehen deswegen auch nur gerne in den Musik- bzw. Sportunterricht. Diese Lehrer würden sie gerne mögen, die anderen nicht…

 

Sokrates: Auch dass sie in der Schule die Lehrer untergliedern nach „diese Lehrer mögen wir und diese Lehrer mögen wir nicht“ deutet auf noch kindliches Verhalten und damit auf die Folgen einer zu frühen Einschulung hin. Und beide haben eine einseitige Begabung, nämlich Musik bzw. Sport, sind aber sonst nur mäßig begabt.

 

Ich stelle als erkennbare Ursachen ihrer wenig zufrieden stellenden Leistungen bisher fest, dass beide zu früh eingeschult und nach der Grundschule auf einer falschen Schule angemeldet worden sind. Beide müssten also eigentlich das Gymnasium verlassen und auf einer Realschule angemeldet und dort zusätzlich noch eine Klasse zurück gehen. Das wäre eine vernünftige Korrektur der gemachten Fehler.

 

Aber vielleicht gibt es noch weitere Ursachen für ihre unzufriedenen Leistungen. Wie viel Zeit wenden denn beide täglich für die Hausaufgaben und für das Wiederholen von Stoff auf? Ich möchte mal die beiden Kinder fragen.

 

Die beiden Kinder (etwas verlegen, abwechselnd): Ja, so ungefähr 1 Stunde pro Tag… Mehr Zeit haben wir in der Woche nicht… Mehr ist nicht drin, auch wenn wir wollten…

 

Sokrates (interessiert): 1 Stunde am Nachmittag, das ist nicht viel Zeit für Schüler, die schlechte Noten und viele Lücken haben… Weshalb habt ihr denn nicht mehr Zeit?

 

Die beiden Kinder (abwechselnd): Ich habe täglich Gesang- oder Tanzunterricht. Und ich muss jeden Abend zusätzlich ca. 1 Stunde meine Stimme üben…Und ich bin in der

1. Jugendmannschaft unseres Leichtathletik-Vereins. Ich muss täglich mindestens eine Stunde Lauftraining machen. Meistens mache ich anschließend auch noch Gymnastik. Und ich besuche regelmäßig Lehrgänge in einer Sportschule…

 

Sokrates: Dann schränkt sich euere Zeit für die Schule ja deutlich ein. Kann man denn diese außerschulischen regelmäßigen Termine nicht deutlich einschränken?

 

Die Eltern (entschieden, abwechselnd): Das geht nicht! Unser Sohn hat eine Sportler-Karriere in Leichtathletik vor sich, so hat der Trainer gesagt, und die wollen wir ihm nicht verderben. Ich als Vater möchte, dass mein Sohn diejenigen sportlichen Erfolge erreicht, die mir verwert waren, weil ich durch einen Ski-Unfall mein Leichtathletik-Training leider aufgeben musste…  Und unsere Tochter soll einmal Musical-Sängerin werden. Ich wäre auch so gerne Musical-Sängerin geworden, aber meine Eltern konnten die Ausbildung nicht bezahlen. Meine Tochter soll es besser haben.

 

Sokrates (langsam das Interesse an der Hilfe für die beiden Schüler verlierend): Dann müssen eure Kinder eben an den Wochenenden fleißig lernen und das nachholen, was sie in der Woche nicht gemacht haben.

 

Die Eltern: Das geht nicht, denn dann fahren wir alle zu den Großeltern. Wir fahren jedes Wochenende zu den Großeltern. Die bezahlen die Ausbildungen für ihre Enkel und wollen sie dafür jedes Wochenende bei sich sehen. Die Großeltern wollen einmal stolz auf ihre Enkel sein. Da beide Großeltern gerne wandern und weil wandern gesund ist, sind die Kinder dann meistens draußen. Nur wenn es regnet, machen sie auch Hausaufgaben.

 

Sokrates (versucht es noch einmal): Aber irgendwo muss jetzt Zeit eingespart werden für die Schule. Kann man nicht wenigstens den Freitagnachmittag ganz für die Schule reservieren. Dann kann man den Stoff der zurückliegenden Woche wiederholen und Lücken aufarbeiten.

 

Der Vater: Bei meinem Sohn geht das nicht, denn er ist in der Jugendfeuerwehr und die üben immer Freitagnachmittag. Und solch eine sozial nützliche Organisation muss man durch aktive Mitgliedschaft unterstützen. Und außerdem ist die Jugendfeuerwehr unserer Stadt meistens Sieger bei Jugendfeuerwehr-Wettkämpfen. Jede Abmeldung würde diese Erfolgsserie schwächen, sagt der Leiter der Jugendfeuerwehr-Gruppe immer wieder.

 

Die Mutter: Der Freitagnachmittag ist schon für den Freund unserer Tochter reserviert. Das ist ein so netter junger Mann und aus wohlhabender Familie, dass wir uns den als künftigen Schwiegersohn warm halten wollen.

 

Sokrates (hat seine Entscheidung getroffen): Ich stelle also fest, dass eure Kinder zu früh eingeschult wurden, ungerechtfertigt am Gymnasium angemeldet sind und fast ihre gesamte Freizeit verplant ist. Und das alles hauptsächlich deswegen, weil andere, d.h. die Eltern, die Großeltern und die Musical- und Sportmanager hauptsächlich an die Reputationen denken, die sie mit den Kindern erlangen wollen. Die Eltern und Großeltern wollen stolz sein auf ihre Kinder/Enkel mit Abitur und wollen bei ihnen das verwirklicht sehen, was sie selber nicht erreichen konnten. Die Trainer/Manager wollen mit guten jugendlichen Aktivisten selber bekannt werden und versprechen angebliche, aber in Wirklichkeit unsichere Erfolge. Die Feuerwehr will weiterhin Eindruck mit einer guten Jugendfeuerwehr machen. Und Nachhilfe soll dieses System der Freizeit-Überfrachtung und der Ausnutzung der Begabungen dadurch stützen, dass die Kinder in der Schule noch einigermaßen zufrieden mitkommen. Das finde ich nicht richtig, das ist nicht mein Einsatz wert.

 

Die Eltern (verkniffen-verärgert): Was fänden Sie denn richtig? Was wäre denn Ihr hochgeschätzter Einsatz wert. Wollen Sie mehr Geld? Wir haben noch gar nicht über den Preis Ihrer eventuellen Bemühungen gesprochen.

 

Sokrates: Ich hätte sowieso kein Geld oder nur eine geringe Entschädigung für meinen Zeitaufwand genommen. Für mich zählt hauptsächlich der Mensch im Schüler, den ich bestmöglich fördern möchte. Ich möchte, dass ein Jugendlicher möglichst weit in seinen Anlagen und Fähigkeiten entwickelt wird und als Erwachsener das Beste aus sich machen kann. Wenn ein solider und einigermaßen sicherer Beruf erlernt ist, kann man immer noch seinen Hobbys intensiver nachgehen oder sich beruflich ganz umorientieren. 

 

Dafür würde ich mich einsetzen und das würde mir Freude machen. Aber ich werde mich nicht zur Verfügung stellen, damit ein solches System, wie ihr es bei euren Kindern

aufgebaut hat, nicht zusammenbricht… Es steht euch natürlich frei, sich nach einem anderen Nachhilfelehrer umzusehen.

 

Die Eltern (höhnisch-verärgert und abwechselnd): Das werden wir auch tun… Und wir werden irgendwann einen Nachhilfe-Lehrer finden, der nicht so verantwortungsbewusst-penibel ist wie Sie… Und später, wenn mein Sohn eine großer Sportler ist… und wenn meine Tochter eine bewunderte Musical-Sängerin ist… dann wird niemand danach fragen, welche Noten die beiden in ihrer Schulzeit gehabt haben… dann zählt nur das Geld, was sie dann verdienen.

 

 

(niedergeschrieben von discipulus socratei, der bei dem Gespräch dabei saß)

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.09.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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