Irgendwo in Deutschland sitzen Vertreter von Schulbuchverlagen zusammen und beraten darüber, wie sie den Absatz ihrer Schulbücher steigern und wie sie durch neue Konzepte auf sich aufmerksam machen können. Sie haben bisher neue Absatz-Strategien, mehr bunte Bilder in den Büchern und Zusammenarbeit mit als besonders modern-ausgefallen bekannten Lehrern diskutiert, sind aber zu keinem überzeugenden Ergebnis gekommen.
Einerseits scheint es keine neuen Konzepte mehr zu geben. Irgendein Verlag hat schon in dieser Richtung ein Buch auf den Markt gebracht. Gegen ganz neuartige Vorschläge der einen reagieren andere mit Bedenken. Sie wollen die Geldbeutel der Eltern nicht unnötig belasten, die Bücher sollen an die Schulbuchtradition anknüpfen, die Lehrer sollen mit den neuen Schulbuch-Konzepten einverstanden sein… Man tritt gewissermaßen in der Zusammenkunft auf der Stelle...
Da kommt plötzlich eine neue, ungeahnte Dynamik in die Zusammenkunft. Denn ein forsch wirkender, dynamischer Mann steht plötzlich unter ihnen, keiner hat ihn kommen sehen, und dieser Unbekannte mustert alle erst der Reihe nach mit einem merkwürdigen verfänglichen Lächeln und beginnt dann einfach zu sprechen. Seine Stimme ist sonor und angenehm, aber gleichzeitig suggestiv-eindringlich. Alle anderen Gespräche verstummen und der Fremde sagt:
Der Fremde: Ihr müsst den Kopf nicht hängen lassen und fürchten, ohne eine Ergebnis wieder auseinander gehen zu müssen. Ihr wart bisher nur zu ängstlich und zu gehemmt. Ihr müsst als Unternehmer, die Geld verdienen müssen, viel neuer und radikaler werden, als ihr es euch bisher vorstellen könnt. Ihr seid eueren Betrieben verpflichtet und müsst keine Rücksichtigen auf andere und anderes nehmen. Die Möglichkeiten der Schulbuch-Gestaltung sind noch längst nicht ausgeschöpft, sie beginnen eigentlich erst. Ich nenne euch nur einige Möglichkeiten und möchte euch die richtige Richtung weisen:
Denn was kann ein künftiges Schulbuch alles sein und leisten? Schulbücher können die Lehrer fast völlig ersetzten, können endlich den perfekten Unterricht realisieren, können die Meinungen der Schüler beeinflussen wie es bisher noch kein Medium konnte, können interessante Unterhaltung sein und können die Schule wesentlich verbilligen. Darüber lasst uns sprechen und die konkreten Schritte planen und nicht die Köpfe hängen lassen…
Durch die Versammlung geht ein Raunen des Erstaunens. Irgendwie beginnt in allen ein heftiger Tatendrang zu pulsieren. Sie hören dem Fremden aufmerksam zu, der weiter spricht.
Der Fremde: Ich gehe meine Aufzählung der Möglichkeiten einmal genauer erklärend durch:
1. Schulbücher könnten Lehrer weitgehend ersetzen.
Lehrer sind im Schulbetrieb der schwierigste und unplanbarste Teil des Ganzen, was man Schule nennt. Der eine hat diejenige Unterrichtsmethode, der andere jene. Der eine hat diejenige Lebensphilosophie, die er bewusst oder unbewusst an seine Schüler weiter gibt, und der andere eine andere. Der eine ist gut für den Unterricht vorbereitet, der andere schlecht. Die Lehrerausbildung kostet viel Geld. Wenn man die vielen Lehrer weitgehend gleichschalten könnte und ihre Ausbildung erheblich verkürzen könnte, dann wäre das ein großer Fortschritt für das Schulwesen. Und Schulbücher könnten das. Die Lehrer könnten durch entsprechend gestaltete Schulbücher weitgehend nur noch für Aufsicht und für die Korrektur von Arbeiten benötigt werden. Und solche Lehrer brauchen im Grunde nur noch eine Minimalausbildung zu haben, ja man könnte ohne Probleme jeden Arbeitslosen als Aufsichtsperson in die Klassen stellen, man könnte eigentlich jeden Trottel künftig bei entsprechend gestalteten Schulbüchern zum Lehrer machen, ha, ha, ha…
Der Fremde lacht hämisch und irgendwie lassen sich die anderen anstecken und lachen mit. Der Fremde fährt fort.
Der Fremde: Ihr wollt wissen, wie das geht? Nun, der Weg ist ganz einfach. Die neuen künftigen Schulbücher müssen den Unterricht so exakt wie möglich in allen Details derart vorplanen und strukturieren, dass ein Abweichen davon unnötig und auch unmöglich ist. D.h. diese Schulbücher geben den Stoff und seine didaktische Gliederung genau vor. Sie enthalten die Unterrichtsmethode, die Lehrerimpulse, die Lehrerfragen im Unterricht und die Arbeitsaufgaben für den Gruppenunterricht. In einem gesonderten Lehrer-Begleitteil werden die Fragen für die schriftlichen Arbeiten und die dazu gehörenden Antworten nebst Benotungsdetails detailliert mitgeteilt. Auch Zusatzfragen und zur Auflockerung des Unterrichts notwendigen Lehrerspäße sind in diesem Lehrer-Begleitteil vorgegeben.
Der Lehrer, wenn er überhaupt noch den Namen verdient, ha, ha, ha, muss nur noch darauf achten, dass der Unterricht jede Stunde genau nach diesen Vorgaben verläuft, dass die Schüler sich an die vorgegebenen Lern- und Arbeitsschritte halten und dass zu den angegebenen Zeiten die Arbeiten geschrieben werden. Auf Wunsch werden den Lehrern, wenn sie noch so heißen, ha, ha, ha, zur Korrektur-Erleichterung Schablonen mit gegeben, nach denen sie nur noch die Antworten abzuhaken brauchen.
Versteht ihr, was ich meine? Das soll das neue Schulbuch sein, das kann das neue Schulbuch leisten. Die Schulverwaltungen werden es euch danken, wenn dieser Sumpf der Lehrer-Individualität, voll von Schwierigkeiten und Unterschieden und Ärger, endlich ausgetrocknet wird, wenn die Lehrer nur noch Vollzugsbeamten der Schulbuchvorgaben werden.
Alle sind wie in eine Begeisterungs-Trance versunken und beginnen mit glänzenden Augen Beifall zu klatschen. Der Fremde fährt fort:
2. Die neuen Schulbücher können das Denken und die Meinungen der Schüler und damit der künftigen Erwachsenen so prägen, ja so gleichschalten, wie es die bisherigen Medien nicht vermocht haben – sofern sie richtig konzipiert sind. Weshalb ist das möglich? Ich werde euch das erklären:
Der Mensch, besonders der jugendliche Mensch, nimmt unbewusst über Texte, Bilder und Fragen mehr Meinungen auf, als man gemeinhin annimmt. Die Fülle und Vielfalt der bisherigen Medien mit ihren unterschiedlichen Tendenzen hat sich bisher weitgehend gegenseitig neutralisiert. Das eine Medium behauptet das, das andere jenes und das dritte noch anderes. Was soll der Rezipient annehmen? Er macht sich dann meist eine eigene Meinung. Dadurch sind der Jugendliche und damit der spätere Erwachsene für die Werbung, die Wirtschaft und die Politik nicht exakt planbar und steuerbar… noch nicht!
Wenn aber alle Schulbücher dieselbe Meinungs- und Denktendenz vertreten und den Schülern vermitteln, dann ist spätestens nach 1 Generation der total steuerbare Staat da, dann fällt das ganze Gebäude der Demokratie mit ihrer Meinungsvielfalt zusammen.
Dazu müsst ihr euch aber auf ein einheitliches Vorgehen bei der Gestaltung der künftigen Schulbücher und auf eine einheitliche innere Tendenz hin absprechen. Und dazu müsst ihr die neuesten Ergebnisse der Psychologie, der Werbetechnik und Gehirnforschung mit einbeziehen. Dazu müsst ihr die moderne Jugendsprache und die Jugendsprüche mit einarbeiten. Ihr versteht was ich meine… Die Politik wird euch dankbar sein und euch Privilegien verschaffen, an die ihr bisher noch nicht zu denken gewagt habt. Und ihr werdet künftig mit Anteil haben an der Lenkung der Gesellschaft und der Steuerung des Menschen.
Alle sind wie in eine Begeisterungs-Trance versunken und klatschen mit glänzenden Augen Beifall.. Der Fremde fährt fort:
Aber dazu müssen die Schulbücher eine Gestaltungsform bekommen, die sie nicht als Lehr- und Lernbuch kennzeichnet, sondern sie zu begehrten Jugend-Schul-Illustrierten macht. Erst wenn die Schulbücher oft und gern gelesen werden, können sie über die vordergründige Stoffvermittlung hinaus ihre heimliche Wirkung entfalten.
Darauf muss ich noch etwas genauer eingehen. Solche Schulbücher benötigen viel bunte Bilder, die eigentlich nur am Rande mit dem Unterrichtsstoff zu tun haben, sondern die vom jeweiligen Unterrichtsstoff erst einmal ablenken sollen. Dann gehören weiter kurze Geschichtchen in die Nähe dieser Bilder, die ebenfalls nur am Rande mit dem jeweiligen Unterrichtsstoff zu tun haben, die aber schon die Tendenz enthalten, die man heimlich vermitteln will. Und dann müssen Beispiele zum Unterrichtsstoff so ausgewählt werden, dass sie genau immer wieder diese gewählte Tendenz beinhalten, die ausgewählt worden ist. Welche Tendenz ihr auswählt, das müsst ihr mit der jeweils herrschenden politischen und wirtschaftlichen Macht absprechen.
Nur am Rande möchte ich einen möglichen Einwand entschärfen. Natürlich werden die Schulbücher dadurch dicker und schwerer. Aber es ist leicht, den Eltern zu suggerieren, diese Bücher seinen viel besser als die früheren knappen und leichteren Bücher ihrer eigenen Schulzeit. Wenn Eltern hören, ihre Kinder würden mit Neuem leichter lernen, dann sind sie bereit, alles akzeptieren, ha, ha, ha.
Alle sind noch mehr als vorher wie in eine Begeisterungs-Trance versunken und beginnen mit glänzenden Augen noch lauteren Beifall zu klatschen. Der Fremde fährt fort:
3. Das Schulwesen wird sehr viel billiger werden.
Bei diesem letzten Hauptpunkt von mir kann ich mich kurz fassen. Wenn die Ausbildung der Lehrer verkürzt werden kann und wenn die Einstellungskriterien für Lehrer einfacher, eigentlich primitiver werden - ha, ha, ha - dann spart der Staat viel Geld ein. Und wenn dann zusätzlich alle Schulbücher gleich gestaltet sind, können die Schulbuch-Verlage die Preise senken, weil sich die Stückzahlen der gleichen Auflagen vervielfachen. Ihr werdet aber trotzdem noch genug verdienen, denn die Politiker werden euch mit hohen privaten Einkommen und Verdiensten bei Laune halten wollen.
Alle sind noch mehr als vorher wie in eine Begeisterungs-Trance versunken und beginnen mit glänzenden Augen noch lauteren Beifall zu klatschen. Der Fremde beendet nun seine Rede:
Ihr seht, es ist alles ganz einfach, neue Schulbücher zu gestalten, Schulbücher, die nicht mehr nach Schulbüchern aussehen und die heimlich die Jugendlichen und damit später die Erwachsenen zu lenken ermöglichen. Wenn wir ehrlich sind, so sind die Anfänge in diese Richtung schon festzustellen. In den einzelnen Bundesländern versuchen schon längst die regierenden Parteien, die Schulbücher in ihrem Sinne zu gestalten und über Schulbücher ihre Ideologien und Vorstellungen zu transportieren. Nur weil ihr bisher noch unterschiedlicher Meinung wart und dadurch eine Vielfalt von Denken und Vorgaben bestand, war diese gewollte Tendenzwirkung der bisherigen Schulbücher noch begrenzt.
Aber unter euerer Führung kann das jetzt anders werden. Nicht mehr die Kirche, nicht mehr die Wirtschaft, nicht mehr die Politik, sondern Schulbuch-Verlage könnten künftig die Gesellschaft beherrschen - wenn ihr euch einigt und gemeinsam vorgeht.
Eilt deshalb jetzt in euere Verlagshäuser, organisiert die Einigungs- und Absprache-Konferenzen, trefft euch möglichst schon in den nächsten Tagen… Zögert nicht, habt keine Skrupel, was taugen schon Demokratie und geistige Freiheit... Denkt an die euch mögliche künftige Macht! Sie kann radikaler und totaler werden, als ihr es euch bisher vorgestellt habt. Wollt ihr das?
Alle sind noch mehr als vorher wie in eine Begeisterungs-Trance versunken und klatschen mit glänzenden Augen noch lauteren Beifall und jubeln Zustimmung. Dann springen alle auf und verlassen den Saal…
Zurück bleibt der merkwürdige Fremde mit der angenehmen Stimme und suggestiven Redeweise. Der steht alleine im Raum und lacht aus vollem Halse.
Der Fremde: Ha, ha, ha… Da rennen sie hin. Wie leicht doch die Menschen beeinflussbar sind. Und wie leicht besonders das alte Argument nach angeblich baldiger Macht über die Mitmenschen zieht… Das war schon in den Anfängen der Gesellschaft so… Schon damals habe ich auf diesem Wege dem Leitbild vom angeblich „freien, guten Menschen“ immer wieder erheblich schaden können. Nur die Typen wie Sokrates, die zum selbstständigen Denken aufrufen, haben mir bisher immer wieder meine Bemühungen verdorben, die Menschheit geistig völlig unfrei zu machen… Denn dann würde ich schon längst die Welt beherrschen... Aber vielleicht gelingt es mir diesmal… Wie dumm diese Studierten doch sind, ha, ha, ha.
Natürlich habe ich etwas dick aufgetragen. Über die Schulbücher allein wird eine völlige Gleichrichtung des Denkens nur teilweise erreichbar sein. Aber Schulbücher können den Weg dahin unterstützen… Ich habe schon für mich Akzeptables erreicht, wenn künftig die Schulbücher noch dicker, noch an Bildern reicher, noch mit Geschichten voller und noch teurer werden… Ich muss wenigstens vollständig die Schulbücher zu Schul-Illustrierten machen. Eine solche Tendenz besteht ja teilweise schon. Dann werden die Schüler im Unterricht noch mehr abgelenkt werden, als sie es schon sind und die Leistungen werden dadurch noch weiter im deutschen Schulsystem sinken. Das ist zumindest ein Teil meines teuflischen Bemühens, ha, ha, ha.
Aber halt! Ich höre Schritte die Treppe herauf kommen, Schritte, die ich zu kennen meine… Es wäre nicht gut, wenn derjenige mich hier anträfe. Ich verschwinde besser.
Damit stampft der Fremde auf den Boden und schnippt mit den Fingern und ist auf einmal verschwunden. Nur ein leichter Rauchschwaden mit Schwefelgeruch zieht durch den Raum zu einem offenen Fenster hin.
Zur Tür stürzt Sokrates herein, in heller Aufregung. Er hat den einen Arm ausgestreckt und ruft:
Sokrates: Halt, halt, bleibt hier! Ich habe draußen unter dem Fenster alles mitangehört. Das kann nicht das Konzept und Ziel von Schulbuchverlagen bleiben. Schulbücher sollen das Lernen unterstützen und den Lehrern helfen, aber diese nicht abschaffen... Und die Schulbücher dürfen keine Schul-Illustrierten werden, denn dadurch lenken sie wirklich die Schüler ab…
Er schaut sich um, sieht den leeren Saal und bemerkt gerade noch den Rauchschwaden, der aus dem offenen Fenster abzieht.
Ach!... Ich komme zu spät… Mephisto war diesmal schneller. Ich hatte einen Hinweis bekommen, dass Mephisto etwas plant, aber die Angaben waren nicht konkret genug. Jetzt geht vermutlich die Schulbuchgestaltung den Trend weiter, der bereits seit Jahren erkennbar ist… Schade für ein effektives Lernen, schade für die Schüler, schade für das deutsche Schulwesen… Die bisher regierenden Parteien haben zwar schon versucht, den Schulbüchern Tendenzen aufzudrücken, aber sie haben trotzdem noch einen Grundstock von Meinungs-Pluralismus gewollt und akzeptiert. Aber die neuen Parteien werden nicht mehr so tolerant sein, wenn sie an die Macht kommen…
Damit dreht sich Sokrates um und verlässt traurig den leeren Saal.
(Niedergeschrieben von discipulus socratei, dem der niedergeschlagene Sokrates seine
Enttäuschung mitteilte)
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.10.2010.
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