Anna Regen

Die Angst



Von hier oben sieht alles so friedlich aus, denkt sie sich. Die Lichter der hupenden, im Stau stehenden Autos auf den Hauptstraßen fügen sich zusammen wie Lichterketten, die quer durch die Stadt gespannt sind. So friedlich. Es erinnert sie an Weihnachten, an ihre Kindheit, vergessene Zeiten. Von hier oben kann sie endlich auf die Welt hinunter blicken ohne die Luft anzuhalten. Hier oben im einunddreißigsten Stock kann sie endlich halbwegs aufatmen. Sie betrachtet ihre Reflektion im glatten, kalten Glas des Fensters. Ihr dunkles Haar ist streng zurückgebunden in einem Knoten, ihre Lippen blass geschminkt. Genau wie ihr Gesicht, das einst vielleicht einmal von der Sonne gebräunt war. Ihre unruhig hin- und herhuschenden Augen sind untermalt von Augenringen. Ihr schwarzer Hosenanzug sitzt wie angegossen, doch trotzdem scheint sie nicht hineinzupassen.
„Schön hast du’s hier, super Ausblick. Und ein Vermögen muss es ja gekostet haben…“. So hörte sie es von allen ihren Freunden, als sie vor drei Jahren hier einzog. Sie blickt in das Glas in ihrer Hand und kippt den letzten Schluck Whiskey hinunter. Sie wusste, was ihre „Freunde“ in Wahrheit dachten: Sie will ja nur angeben mit ihrem Geld, will zeigen was sie hat. Nein, das war nicht der Grund. Das war überhaupt nicht der Grund. Genauso wenig, wie dies auch nicht der Grund war, warum sie drei Sicherheitsschlösser an ihrer Tür hat anbringen lassen. Nein, das war nicht der Grund. Was sie seit einer Ewigkeit schon zum Handeln und Entscheiden brachte war die Angst. Die Angst, die nachts in der Dunkelheit an ihren Haaren zog und sie aus dem Schlaf riss. Die Angst, die sie auf Schritt und Tritt verfolgte ganz egal wo sie war und mit wem. Die Angst war Schuld, dass ihre Angestellten sie für herz- und emotionslos hielten. Wobei sie sich doch einfach nur zurückgezogen hatte, aus Angst. Die Angst war auch Schuld, dass sie nie in ein Auto stieg, nie bei Rot die Straße überquerte. Es war auch die Angst, die sie davon abgehalten hatte dem Mann mit dem netten Lächeln in der Kantine heute Morgen zurückzulächeln. Sie wusste, dass es albern war, doch vor ihrem inneren Auge entwickelte sich sein Lächeln zu einem bösartigen Grinsen und sie stellte sich vor wie er sie nachts in einer dunklen Gasse auflauerte. Sie stellte sich vor wie er sie am Arm packte, ihre Kleider zerriss und sich holte was er wollte. Es läuft ihr kalt den Rücken herunter.
Sie schaut sich zum zehnten Mal in dieser Nacht in ihrer Wohnung um. Steril und weitläufig eingerichtet, man würde es als modern bezeichnen. Doch auch dies war ein Werk der Angst. Übersichtlichkeit ist wichtig. Ist alles übersichtlich, sieht man schnell was einen erwartet, wer sich hinter dem Sofa versteckt.
Selbst hier oben kann sie sich nicht entspannen. Die Angst ist immer noch da. Sie hat sich in eine Ecke gekauert, doch sie ist immer noch da.
Sie wusste nicht wann es angefangen hatte. War es als sie einst als wildes Kind beim Klettern von einem Baum fiel und sich einen Kratzer holte? War es als ihr Sitznachbar in der Grundschule sie an ihrem dunklen Haaren zog? Oder war es doch als ihr erster Freund mit ihr Schluss machte? Oder war vielleicht für all dies schon wieder die Angst der Sündiger?
So friedlich, denkt sie sich und schenkt sich ein weiteres Glas Whiskey ein. Sie tritt wieder ans Fenster, blickt auf die immer weiterziehenden Lichterketten und schaut wachsam nach unten. Ich sollte zum Arzt gehen, nimmt sie sich vor. Noch besser, zu einem Psychiater. Er wird mir helfen können. Doch wieder übernimmt die Angst die Führung und spielt in ihrem Kopf ein für sie geschriebenes Theater ab. Der Vorhang geht auf. Hinaus tritt ein Mann im Kittel, der sie in eine Irrenanstalt steckt. Sie bricht das Bild ab, schreit laut und schlägt wild um sich. Dann ist es wieder still, zerschlagen ist ihr Entschluss und sie starrt leise aus dem Fenster. Plötzlich fühlt sie sich beobachtet, leert ihr Glas und geht zur Tür. Sie weiß nicht was sie dazu antreibt, die Tür zu öffnen, die ganzen Treppen vom einunddreißigsten Stockwerk abwärts zu hasten und aus dem Gebäude auf die Straße zu treten. Vielleicht war es ja die Angst.
In dieser Nacht geht ein Lämpchen einer Lichterkette kaputt und wird blutrot gefärbt.
Sie liegt auf der nassen Straße, lächelt, blickt auf die Hochhäuser hoch und denkt sich: Von da oben muss es hier unten so friedlich aussehen.
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.10.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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