Diethelm Reiner Kaminski

Der neue Mieter



Da brauche ich mir nichts vorzumachen. Mein Leben hat sich in jeder Hinsicht verschlechtert. Viele Jahre lang habe ich als Anlageberaterin bestens verdient und meinen arbeitsscheuen Mann mit durchgefüttert, ohne überhaupt zu bemerken, dass er mich die ganze Zeit nur ausgenutzt hat. Kaum war ich arbeitslos geworden, so dass bei mir nichts mehr zu holen war, ließ mein Mann mich, ohne sich abzumelden, mit meinen drei Töchtern, einem Berg Schulden, die er hinter meinem Rücken gemacht hatte, und ein paar verblassten Erinnerungen an bessere Zeiten einfach sitzen. Mit dem kargen Arbeitslosengeld und dem Kindergeld war das bisherige Leben nicht fortzusetzen. Umzug in eine möglichst billige Wohnung war angesagt.
Nun hausen wir in einer engen muffigen Dachwohnung mit schrägen Wänden und schimmelnden Tapeten an einer vom Durchgangsverkehr umtosten Ausfallstraße.
Vierundzwanzig Stunden Lärm. Die Fenster vibrieren, die Wände beben. Von Doppelverglasung und Lärmschutz haben die Menschen hier noch nichts gehört. Und dann noch die lauten Mitbewohner, die saufen, streiten und sich gelegentlich prügeln. Denen gehen wir aus dem Wege. Bevor wir uns im schummerigen Treppenhaus die ausgetretenen Stiegen hinunter schleichen, vergewissern wir uns, dass keiner der Mitbewohner auf dem Flur ist. Wir möchten niemandem begegnen. Meine Töchter begleite ich, wenn möglich, bis vor die Haustür, oder schärfe ihnen jeden Tag aufs Neue ein, nie allein das Haus zu betreten oder zu verlassen. Angst und Misstrauen sitzen tief. Seit wir uns hier einquartiert haben und dabei noch froh sein müssen, dass wir ein so billiges Obdach gefunden haben, ist es aus mit der Nachtruhe. Der Straßenlärm, die grölenden, keifenden Mitbewohner, die dünnen Wände lassen einen ruhigen Schlaf nicht zu. Den Mädchen geht es nicht viel besser als mir. Morgens sind sie meistens unausgeschlafen und schlecht gelaunt. Wir fühlen uns wie gerädert. Unsere Nerven liegen blank. Wir fangen an, uns anzuschreien.
Über Nacht haben sie zu allem Überfluss auf dem ohnehin viel zu schmalen Bürgersteig riesige mit Sand gefüllte Kunststofftaschen direkt vor der Haustür abgeladen. Was das wohl werden soll? Sand für einen Kinderspielplatz? Hier spielen Kinder, wenn überhaupt, auf betonierten Parkplätzen oder in baumlosen Hinterhöfen. Eine Ausbesserung der unzähligen Löcher im Bürgersteig? Auch das ist wenig wahrscheinlich. In dieser Gegend wird nichts ausgebessert. Und kein einziger Straßenarbeiter ist hier in den letzten vierzehn Tagen aufgetaucht. Dafür ein neuer Mieter. Ganz unten im Parterre. Nicht dass er sich uns vorgestellt hätte, aber meine Töchter haben ihn mehrere Male flüchtig im Treppenhaus gesehen.
„Ein kauziges Männchen“, sagen sie, „viel kleiner als wir, alt, sehr alt, aber flink, sehr flink, wie eine Kakerlake huscht das Männchen durchs Treppenhaus. Es hat einen langen weißen Bart und einen Buckel, und es kichert ständig vor sich hin.“
„Hat der Mann euch angesprochen?“, frage ich.
„Hat er euch gegrüßt?“
„Nein, nur angestarrt hat er uns mit seinen kleinen roten Augen, richtig unheimlich. Und gekichert hat er, und dann ist er ganz schnell in seine Wohnung verschwunden.“
Mit dem Einzug des neuen Mieters schlafen wir tief und traumlos, stehen morgens frisch und gut gelaunt auf. Unsere Schlafprobleme sind wie weggewischt und stellen sich auch in den nächsten Tagen und Wochen nicht wieder ein. Ob wir uns allmählich an den Höllenlärm draußen und drinnen gewöhnt haben? Mit dem wiedergefundenen Schlaf gewinne ich meinen alten Lebensmut zurück. Ich will, muss, werde Arbeit finden. Die Mädchen gehen ohne zu murren in die Schule, ihre Noten verbessern sich zusehends.
An einem Vormittag taste ich mich durch das dämmerige Treppenhaus nach unten, um Brot beim Bäcker zu kaufen. Die Haustür steht sperrangelweit offen, sodass ich das Schild an der Tür des neuen Mieters lesen kann. Ein weißer mit Tesafilm befestigter Papierstreifen, auf dem in altdeutscher Schrift ein Name steht, den ich mit Mühe entziffere: S a n d m a n n.
Ich lege ein Ohr an die Tür und meine ein leises Kichern zu vernehmen.


 

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