Marcel Hartlage

Der Clown

Wir begegneten ihm heute. Heute Morgen, als ich mit meinem Freund Ron draußen spielen wollte.
Er hatte bei mir übernachtet, und wir waren am gestrigen Abend lange aufgeblieben. Und wir – wir waren zwölf Jahre alt, wohlbemerkt – hatten uns gestern Abend gegen elf Uhr das erste Mal einen Horrorfilm angesehen, der nicht für die Jugend freigegeben war. Wir hatten uns alles Mögliche erdacht, als wir die DVD aus dem Schrank neben dem Fernseher geklaut hatten. Und dabei war der Film überhaupt nicht schlimm gewesen – o nein, er war sogar unter unseren Erwartungen. Deswegen haben wir, als der Film zu Ende war, sogar gelacht. Ja wir haben gelacht und uns noch unterhalten, als das Licht aus war und wir das Heulen des Windes draußen vernahmen. Als wir von ihm in den Schlaf gewogen wurden.
Da hatten wir ihn noch nicht gesehen.
Gegen neun Uhr wurde ich wach, richtete mich auf und sah auf die Matratze nieder, auf der Ron schnarchte wie ein fetter Grizzlybär. »Aufstehen, Schlafmütze!«, rief ich ihm ganz plötzlich ins Ohr, und Ron erschrak, als hätte er einen schlechten Traum gehabt.
»Was … Oh man, Joe!« Ich sah ihm an, dass er noch müde war. Ich nahm es ihm nicht übel, dass er mich anschließend mit dem Kissen verprügelte.
An den Horrorfilm dachten wir gar nicht mehr.
Gegen halb zehn gingen wir angezogen und gewaschen nach unten um zu frühstücken. Neben den Brötchen, Aufschnitt und den Spiegeleiern, den Cornflakes und dem Kakao lag ein Zettel auf dem Tisch. Ich nahm ihn in die Hand und las: Sind beide arbeiten. Hab einen schönen Tag mit Ron, aber macht keinen Blödsinn, geht nicht ans Telefon oder an die Tür, solange ich und Dad nicht da sind. P.S: Hol nach dem Frühstück die Wäsche rein. Meine Eltern waren also schon arbeiten. Das war gut. Das war sogar sehr gut. Wir konnten allen möglichen Blödsinn anstellen, denn sie würden erst heute Nachmittag wiederkommen. Als ich Ron bat, Platz zu nehmen und mich selbst bereits setzte, kam mir in den Sinn, das mein Vater in der Garage Böller versteckt hatte. Vielleicht konnten wir die später über den Zaun in den Nachbarsgarten werfen.
»Was machen wir heute?«, fragte Ron und nahm sich ein Brötchen.
»Wir werden sehen«, sagte ich und grinste. »Aber vorher müssen wir noch die Wäsche reinholen. Befehl von meiner Mutter.«
Ron zuckte die Achseln und bediente sich weiter.
Nach zehn Minuten waren wir fertig mit dem Frühstück. Wir räumten den Tisch ab, wuschen Tassen und Teller und putzten uns anschließend die Zähne. »Erledigen wir die Hausarbeit«, sagte ich zu Ron, als wir die Treppe runter polterten. Aus dem Abstellraum neben der Küche nahm ich den Wäschekorb und ging damit auf die Hintertür zu unserem kleinen, gewöhnlichen Vorortgarten zu. Umgeben war dieser von einem zwei Meter hohen Holzzaun, niemand konnte also hineinsehen und sehen, dass der Rasen längst wieder gemäht werden musste. Ich hasse die ganzen Tratschtanten, die über jede Kleinigkeit lästerten. Das war in jedem Ort so und nirgends eine Ausnahme.
»Halt den mal«, sagte ich zu Ron und gab ihm den Wäschekorb in die Hand. Mit beiden Händen tastete ich anschließend auf den Küchenschrank rechts neben der Tür herum und suchte den Schlüssel. Ich fand ihn, nahm ihn herunter und steckte ihn ins Schloss. Es machte klack und die Tür war offen. Ich stieß sie auf, und drei Minuten später würde ich mir wünschen, ich hätte sie gar nicht erst geöffnet.
Mit Ron an meiner Seite gingen wir die drei Betonstufen hinunter und blickten auf einen kleinen Garten, der ebenso gut eine Kleidungs- oder Kissenfabrik hätte sein können.
Von links nach rechts führten insgesamt sechs Reihen Wäsche durch den Garten. Größtenteils hingen heute Bezüge, Bettlacken, Kissen und große Handtücher an den Leinen. Es würde ein mühsames Unterfangen werden, die zusammen zu legen und in den Korb zu verfrachten. Passten die überhaupt alle da rein?
»Also«, sagte ich zu Ron und nahm den Korb wieder an mich. »Auf geht’s.«
Ich ging auf die erste Reihe zu. Bettlacken. Zwei Meter vor ihnen blieb ich stehen, weil ich etwas gehört hatte.
Zuerst blieb mir der Atem stehen, als mein Verstand versuchte zu identifizieren, was das für ein Geräusch gewesen war. Daraufhin bekam ich eine leichte Gänsehaut, als ich erkannte, dass dort irgendjemand gekichert hatte.
»Hast du das gehört?«, fragte ich Ron und drehte mich zu ihm um.
»Was denn?« Er glotzte mich nur an.
»Na das eben! Dieses – «
(Hehehehehe ...)
Ich drehte mich zu den Wäscheleinen um. Sie bewegten sich sanft im Rhythmus des Windes, gaben sich den Windungen und Bewegungen hin wie Untergebende, während zwischen ihnen … irgendwo …
Das war doch absurd! Es stand niemand zwischen den Wäscheleinen versteckt und beobachtete uns! Warum sollte er auch kichern?
(Um uns Angst einzujagen)
(Hehehehehe …)
Ich drehte mich wieder zu Ron um. »Ich dachte, ich hätte jemanden lachen gehört.«, sagte ich und spürte den Wind in meinem Nacken.
»Du dachtest – « Ron lachte tatsächlich kurz auf. »Oh Mann, Joe! Hattest du etwa doch Schiss vor dem Film gestern Abend?«
»Nein Man!«, gab ich zurück, sagte es aber nicht mit genügend Überzeugungskraft. Ron grinste mich an, grinste mich mit seinem fetten, ekligen Grinsen an, als plötzlich –
Als wir beide es hörten. Dieses Kichern.
Seine Augen weiteten sich. Ich wagte es nicht, mich umzudrehen.
Auch wenn ich es nicht gerne zugebe, aber jetzt verstand ich es, warum manche Typen immer sagten, sie könnten sich vor lauter Angst nicht bewegen. Jetzt verstand ich sie, und bei Gott, sie hatten recht. Sie hatten verdammt recht mit –
Ron schrie auf.
Ich zuckte noch im selben Moment zusammen, löste mich von der Lähmung, ließ den Wäschekorb fallen und rannte neben ihm, ehe ich mich
(sanft im Rhythmus des Windes)
Umdrehte. »Was ist?«
»Ich – « Ihm stockte der Atem. Ich sah, wie sich Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten. »I-Ich dachte, ich hätte da etwas gesehen. Z-Zwischen den Leinen.«
Wie, um es zu bestätigen, hörte ich erneut ein Kichern. Ein Kichern, dass sich in die Melodie des Windes mit einstimmte; ein Kichern, das nicht freundlich klang, sondern einfach nur unheimlich.
Dann sah ich eine huschende Bewegung zwischen den Leinen. Als wenn etwas nach vorne sprang. Als wenn es sich verdammt nochmal anpirschte …
»Ich glaube, wir gehen wieder ins Haus«, sagte ich.
»Gute Idee.«, sagte Ron.
»Komm. Schnell.«
Wir drehten uns um, drehten uns langsam entgegengesetzt der Windrichtung um und steuerten auf die Betonstufen zu.
In diesem Moment hörten wir auch kein Kichern mehr. Nein, wir hörten ein Kreischen. Ein so abnormales Kreischen, das man nur aus Psychiatrien kannte, und das einem eine Gänsehaut, bestehend aus purer Angst, am ganzen Körper verpasste.
Folglich diesem Kreischen rannten wir panisch und schreiend auf das Haus zu. Wir rannten zu zweit auf die Tür zu und kriegten sie im ersten Moment natürlich nicht auf. Und ich dachte in diesem Moment, etwas wäre direkt hinter uns, würde uns mit klauenartigen Händen greifen, uns schleifen, uns umdrehend und uns schütteln; schütteln und uns kreischend in die Augen blicken, während wir von den Klängen des Wahnsinns verrückt wurden, die Folter der Panik und der Angst nicht mehr aushalten würden, während es, was immer es war, die Zähen fletschen würde und uns –
Die Tür öffnete sich, irgendwie öffnete sie sich und Ron und ich vielen wie zwei Volltrottel in die Küche. Der Wind drang derweilen ins Haus …
»Mach die Tür zu!«, schrie Ron. Eine Sekunde später bemerkte ich, dass ich auf ihm lag. Ich sprang auf, und noch im selben Moment donnerte ich die Tür zu
(War da etwas gewesen? Vor den Wäscheleinen? War esrausgekommen? Ich meine, ich hätte etwas Weißes gesehen … etwas Weißes mit roten Büscheln … und einem roten Punkt, irgendeine Kontur – )
»Schließ ab! Um Himmels willen Joe, schließ die Tür ab!«
Ich tat es; schloss die Tür mit zitternden Händen ab. Dann lehnte ich mich sitzend gegen sie, schloss die Augen, atmete tief aus und öffnete sie wieder. Ich sah Ron, der sich halb unter den Tisch gekauert hatte.
»Was war das gewesen?«, flüsterte er.
Ich schüttelte den Kopf. Und irgendwie musste ich plötzlich an den Wäschekorb denken, der dort draußen ganz alleine im Garten lag.
»Hast du dieses Kreischen gehört? Dieses Gekicher und dann dieses Kreischen? Wie etwas Verrücktes. Mein Gott.«
Ich wollte etwas sagen, ja, ich wollte vielleicht sogar aufstehen, aber etwas hinderte mich daran. Etwas, das mich zusammen zucken ließ, dass die Realität zurückholen ließ, dass unsere plötzliche Aufmerksamkeit verlangte.
Links neben der Tür zum Garten, über der Spüle, war ein Fenster. Und etwas hatte daran geklopft.
Ich und Ron sahen uns an. Und uns stand erneut dieselbe Angst ins Gesicht
(klopf, klopf)
(hehehehe …)
Geschrieben.
Wir wandten voneinander ab, und sahen erneut zum Fenster. Und in diesem Augenblick, als der Wind draußen aufheulte wie ein kleines, schreiendes Kind, klopfte erneut etwas am Fenster. Nur diesmal sahen wir es. Wir sahen es, und ich konnte es mir nicht vorstellen.
Eine weiße Hand – oder vielmehr eine Hand mit einem weißen Handschuh. Wie bei einem
(Der Zirkus ist eröffnet, herrrrrreinspaziert, meine Damen und Herren)
Clown.
Sie klopfte erneut, und wir hörten ein absurdes Kichern.
Jetzt wurde mir langsam aber sicher bewusst, dass wir es vielleicht mit einem Verrückten zu tun hatten. Oder aber jemand wollte uns einen Streich spielen.
Klopf-klopf
»Lass uns in Ruhe!«, schrie Ron. Ich musste in meiner Panik auch noch feststellen, dass er den Tränen nahe war. Das er vor lauter Panik gleich losheulen würde.
Klopf-klopf
»Lass uns in Ruhe!«, schrie er erneut.
Ich erwartete ein weiteres klopf-klopf, doch es kam etwas anderes. Etwas Unheimlicheres.
Durch das Fenster sah uns plötzlich eine Gestalt an – naja, jedenfalls ein Teil davon. Wir sahen eine weiße Stirn, makellos weiß, und zwei lange, rote, buschigere Haarsträhnen. Sie standen ab wie bei einem verrückten Wissenschaftler. Aber den Rest des Gesicht … den Rest konnten wir nicht sehen, weil es nicht wollte, dass wir den Rest sahen. Es wollte uns nur wissen lassen, dass es ein …
Ja, ein Clown war.
Ich sah zu Ron, seine Augen starrten wie hypnotisiert zum Fenster, dann sah auch ich wieder zurück. Harr und Stirn waren weg, nichts war mehr zu sehen. Ich dachte, es wäre –
Plötzlich polterte es hinter mir an der Tür. Es erschrak mich so heftig, dass ich wie unter Strom gesetzte aufsprang und mich zu Ron gesellte. Dabei stieß ich einen leichten Schrei aus.
»Verdammt!«, schrie ich. Es polterte, polterte, polterte, es wollte rein, wollte zu uns, wollte uns sehen, uns jagen, uns fressen. »Ron!«
»…geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe …«
»Komm schon, Ron!« Ich nahm seine verschwitzte Hand und half ihm auf. Er kaute auf seinem linken Daumen. Ich ignorierte es.
»Los! Na los, nach oben, in mein Zimmer! Ich rufe meine Eltern an!« Wir rannten (Vielmehr rannte ich, ich musste meinem Kumpel ein wenig beistand beim Laufen geben) und ich dachte in diesem Augenblick nicht einmal daran, zur Haustür zu laufen. Das tat man in solchen Situationen nie, oder? Und ich war mir auch nicht sicher, ob es in diesem Falle das richtige war.
Also rannten wir die Treppe hinauf. Unsere Schritte polterten, so wie es unten an der Tür polterte. Bis zu jenem Augenblick, als wir oben den Flur erreichten und unten noch einmal dieses Gekreische erklang. Einen Augenblick später hörte ich etwas krachen, hörte Holz splittern und auseinanderfliegen. Aber wir rannten trotzdem weiter, selbst wenn dieses Ding bereits im Haus war.
Wir erreichten mein Zimmer und ich schloss die Tür ab.
»Was machen wir jetzt? Joe?«, es war Ron, Ron, der seinen halben Daumen bereits blutig gebissen hatte und der mich anstarrte, als wäre ich der Himmel auf Erden. »Was machen wir jetzt?«
Einen Rundflug zum Mond, dachte ich, sagte es aber nicht. Stattdessen: »Hilfe holen. Es wir jemand kommen, und uns helfen.«
»Und das – «
Ich wollte sagen, es ist unten und kann uns nicht finden, jedoch verschlug es mir die Sprache, als ich tobende, gierige Schritte auf dem Flur hörte.
Ich überlegte nicht lange, sondern handelte. »Los, da rein!« Ich nahm mein Handy vom Schreibtisch, stolperte zum Wandschrank, öffnete ihn und stopfte Ron hinein. »Bleib ganz ruhig!«, flüsterte ich ihm zu, dann machte ich die Tür zu.
Auf dem Flur die Schritte, sie wurden langsamer.
Mein Bett ist ziemlich flach, und kein Mensch würde jemals darauf kommen, dass irgendjemand, nicht einmal ein kleines Kind, darunter passen würde. Jedoch war es so, und ich quetschte mich wie ein Zauberkünstler
(Der Zirkus ist eröffnet, herrrrrreinspaziert, meine Damen und Herren)
Unter die Matratze. Eine Wolldecke hing schlaf über den Boden, und ich zog sie so vor den Schlitz, wie so schon vor meinen Einstieg dort gehangen hatte. Dieses Bett war bis heute einer der besten Verstecke im Versteckspiel gewesen. Hofften wir mal, dass es auch diesmal so war.
Ich hatte mein Handy, ich hatte keinen nervenden Ron neben mir, und es fehlte mir wahrscheinlich die Zeit, einen Anruf zu tätigen. Aber ich konnte eine SMS schreiben, wenn ich mich beeilte. Während ich das dachte, polterte es an der Tür.
Ich wusste nicht, wie schnell dieses Ding im Suchen war, wie gut es riechen oder hören konnte, aber ich musste einen Wettlauf mit der Zeit eingehen.
Es knackte an der Zimmertür, und ich begann, die SMS zu schreiben.
 
 
 

Inspiriert von der Filmszene aus Stephen Kings "es". Viel Spaß beim Lesen.Marcel Hartlage, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.10.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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