Alicja Wawryniuk

Die Schere


Die Schere
Bevor ich geboren wurde, war ich einmal eine Schere. Klein wie die Handfläche eines erwachsenen Mannes und dunkel wie die Nacht, jedoch schlau wie ein Fuchs und kriegerisch wie eine Kanone, hatte ich mir in den Kopf gesetzt, alles um mich herum zu zerstören. So schritt ich durch die Welt und schnitt ab, was möglich war. Beim Gang durch den Park knipste ich alle zweige ab, die sich unten, an breitgewachsenen Büschen befanden und nicht mehr schön aussahen. Ich war jedoch klein und konnte nicht weit nach oben reichen. Dafür reichten meine Sprünge bald immer höher und höher. So verloren auch weiter oben gelegenen Äste ihre Zweige.

Auf einmal sahen alle Büsche sehr nackt aus, und die herumliegenden Zweige am Boden verwandelten sich in Schwerter. Eine Schar dieser Schwerter erschien von mir. Sie stellten sich in zwei Reihen auf, als ob ich ihr Kommandant wäre. So gab ich meinen ersten Befehl ab: "Nach hinten, Marsch!" und alle Zweige drehten sich auf einmal um und marschierten in die Tiefe des Parks hinein. Vor dem Erschrecken, sie zu verlieren rief ich: "Stop!" Alle blieben mit einem Ruck stehen. Dann ging ich ein paar Schritte nach links. Meine Schwerter taten es mir gleich. Ich ging nach rechts, uns alle gingen wie eine Welle nach rechts. So marschierten wir hin und her bis zum Sonnenuntergang.

Ich bekam zunehmend Lust am Herumkommandieren. Als die Sonne schon weit unten stand, gab ich das Kommando: "Cheese". Alle Schwerter wiederholten "Cheese" mit mir. In diesem Moment schickte die Sonne einen Fotoblitz. So wurden wir auf einem Gemeinschaftsfoto verewigt.

Das Foto jedoch erhob sich im leichten Wind. Es schwebte in die Luft, immer höher und höher, wurde langsam von der Erde weggetragen, bis wir an den Wolken stießen. Die Wolken waren freundlich. Sie trugen das Foto mit uns um die ganze Erde und machten und weltberühmt.

Plötzlich fing es an zu regnen. Alle Abgebildeten fielen von dem Foto auf die Erde herab. Zuerst natürlich die Schere, die am schwersten von allen war. Dann die großen Schwerter und schließlich die kleineren. Sie fielen immer tiefer und tiefer und als sie auf die Erde schlugen, wurden sie wieder zu ganz normalen Zweigen.

Hier unten bildeten sie gemeinsam ein ganz normale Armee. Die Schere als Kommandant war nun jedoch wichtiger geworden, weil es inzwischen eine bekannte Armee war, mit der er eine Weltreise gemacht hatte. Es fehlte jedoch eine wahre gesellschaftliche Anerkennung. So beschloss sie, sich mit der Armee in einen richtigen Kampf zu bewegen.

Bloß was sollte das für ein Krieg sein? Das musste sie sich erst einmal überlegen. So grübelte die Schere mit ihrem Heer Tag und Nacht, gegen wen sie nun kämpfen sollte. Sie bleiben jedoch ratlos und fingen an, heftige Diskussionen darüber zu führen, ob das benachbarte Legoland in Betracht käme, oder ob sie lieber auf den Planeten Mars reisen und die Marsmännchen angreifen sollten.

Aber wer würde die Unterkunft und den Flug dorthin bezahlen? Und was würden sie dort zum Essen bekommen? Und vielleicht wäre es dort so kalt, dass sie sich extra Kleidung besorgen müssten? Und gegen Nachbarn zu kämpfen, ist eigentlich blöd. Er hatte ihnen doch nichts getan.

So begab sich die Schere nach endlosen Überlegungen mit ihrem Heer in einen Winterschlaf, um neu geboren zu werden.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Alicja Wawryniuk).
Der Beitrag wurde von Alicja Wawryniuk auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.10.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Alicja Wawryniuk als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

ER - DE von Helmut Teipel



Stellt euch vor:

"Wenn es oben im All Planeten gibt, auf dem Lebewesen mit Intelligenz wohnen und uns Menschen auf dem Planeten Erde beobachten, sie würden es nicht verstehen, wie Menschen mit Menschen umgehen!"

"Muss ich dieses Leben leben,
um das sterben meinen
Körpers kennen zu lernen?!"

Für jedes verkaufte Buch geht 1 Euro an eine wohltätige Organisation für Obdachlosenhilfe!

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Sonstige" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Alicja Wawryniuk

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Smarty von Karl-Heinz Fricke (Sonstige)
TATORT KINDERSPIELPLATZ - URWALD WIESE von Julia Thompson Sowa (Satire)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen