Tatjana Willig

Auge um Auge

Unser Nachbar A. Kusmin war kein auffälliger oder attraktiver Mensch. Mit einem plebejischen Gesicht und kleinwüchsig war er dennoch enorm robust: seine mächtigen Hände reichten fast bis zu den Knien. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir je ins Gespräch kamen, er blickte immer zur Seite und grüßte uns mit einem unbestimmten Grinsen zurück. Er hauste in einer winzigen Wohnung im hintersten Winkel unseres Hofes, noch relativ jung, war er erstaunlich einsam: In all den Jahren unserer Nachbarschaft sahen wir nie eine Freundin oder einen Freund bei ihm. Nur zwei Dorffrauen in Kopftüchern - seine Mutter und Schwester, kaum von einander zu unterscheiden - besuchten ihn von Zeit zu Zeit.

Kusmin trank, und sein Trinken hatte einige Eigenarten: Er betrank sich schwer in voller Einsamkeit jedes Wochenende, dabei stellte er schon früh am Morgen die Lautsprecher seines altmodischen Tonbandgerätes aus seiner Wohnung heraus und spielte auf maximale Lautstärke ein und dasselbe Band ab, wo mehrere Male ein und dasselbe Lied aufgenommen wurde, was ihn zweifellos von der Notwendigkeit befreite, das Band zwecks Wiederholung zurückzuspulen, und er berieselte unser Gehör zwanghaft monoton mit einer ungekünstelten fetzigen Melodie mit einem unkomplizierten Refrain: „Ich war ein Nichts und wurde nicht reich“. Zweifelsohne, das Lied war über Kusmin selbst, aber warum schrie er es in die Welt so nachdrücklich, aufdringlich und laut?
Zum Glück wurde Kusmin schnell völlig alkoholisiert, Schlaf überwältigte ihn, und das Tonbandgerät verstummte…

Als Berufsfahrer chauffierte er eine unbedeutende Obrigkeit, hatte aber nie sein eigenes Auto. Als die Perestrojka begann, wurde er Fahrer bei einem neuen „Businessmann“ von der Sorte, die sich noch nicht viel von den Banditen unterschied, weil das „Business“ selbst sich zu der Zeit noch in seinem Urzustand befand. Der sogenannte Businessmann fuhr anfangs einen bescheidenen „Lada“ und erlaubte seinem Fahrer, das Auto bei ihm zu parken (entweder wollte er einfach nicht zeigen, dass er ein Auto hat, oder es war gestohlen). Kusmin parkte das Auto in unserem Hof, wusch es fast täglich, dann setzte er sich hinein und saß stundenlang darin. Wir machten uns lustig darüber und rätselten, was er während er im Auto sitzt tut…
Das wäre nicht weiter schlimm, aber dieses heißgeliebte Auto parkte er vor unserer Garage, was uns die Ausfahrt geradezu blockierte. Zuerst fanden wir noch Kompromisslösungen, aber die ärgerlichen Episoden häuften sich und einmal (in verdrießlicher Stimmung und ohnehin nicht besonders feinfühlig) sagte mein Mann dem Nachbar etwas Schroffes und Verletzendes beiläufig - und vergaß es.



Dann träumte ich etwas Ungewöhnliches: es gab einen Brand, und in diesem Brand verbrannten das besagte Auto und selbst das Häuschen von Kusmin.
Der Traum war so auffallend, dass ich am Morgen darüber meinem Mann erzählte, was er sofort freudianisch deutete als Manifestation meiner verborgenen Wünsche und ironisierte dabei, dass ich etwas Schlimmes gegen Kusmin im Schilde führe. Wir lachten darüber und vergaßen es.
Nur der Traum hinterließ ein vages Gefühl.

Das war im letzten Jahr unserer Ehe. In diesen Monaten wurde unsere Trennung so offensichtlich und nah, dass wir sogar nicht mehr zankten; zentrifugale und zentripetale Kräfte - mein Wunsch wegzugehen und sein Wunsch, mich zurückzuhalten - nivellierten sich unerwartet: Ich fürchtete mich, den ersten Schritt zu machen, und er hörte auf, mich davon abzuhalten. Wir hatten sehr früh geheiratet und waren 20 Jahre zusammengeblieben wie für einander geschaffen. Denn selten gibt es Menschen, deren seelische und emotionale Tonart und die Farbe der Stimmung und des Denkens so ähnlich wären. Aber unsere Ehe hatte mächtige Feinde: meine Untreue und sein Trinken. Und unmöglich war es zu bestimmen, was ursprünglicher wäre und wer von uns beiden mehr Schuld hätte. Und wer weiß, wie unser Leben weiter verlaufen wäre, wenn diese Geschichte nicht passierte, die auf unsere Beziehung wie ein Katalysator wirkte, die Kräfte verschob und den damaligen Zustand des labiles Gleichgewichtes zerstörte.

An jenem Abend kamen wir guter Laune von Freunden zurück, ich ging sofort ins Haus und mein Mann blieb bei der Garage. Nach einer Weile vernahm ich im Dunkeln ein vages Gezänk im Hinterhof, ich kam zurück und fand mich im wahr gewordenen Alptraum: mein Mann lag auf dem Boden - zu Hause entdeckte ich in seinem Bauch neun kleine Löcher; es gab kein Blut, nur sein Gesicht wurde immer grauer. Die Operation dauerte die ganze Nacht: er hatte acht Stiche im Darm und einen in seiner Leber. Aber er wurde schnell gesund, und als er wieder auf die Beine kam, reiste ich ab.

Kusmin wurde erst am nächsten Tag gefangengenommen, und in einer Woche wieder freigelassen. Einige Monate später gab es sogar eine angebliche Gerichtsverhandlung, die ihn für unschuldig erklärte, weil der ehemalige Besitzer des „Lada“, der zu dieser Zeit einen Sprung zum Abgeordneten ins Parlament schaffte, den Anwälten befahl, seinen Chauffeur „rauszuhauen“ (wahrscheinlich aus schlechtem Gewissen: der Streit entstand doch wegen seines Autos).





Kusmin lebte weiter unbeachtet in seinem Winkel, nur sein Grinsen wurde verächtlich und die Lippen kräuselten sich spöttisch. Er trank weiterhin jedes Wochenende, aber jetzt hatte er einen Kumpanen - einen neuen Nachbarn: Es war ein wahnsinniger Opa, der systematisch alle Katzen in seinem Revier liquidierte. Einmal, weiß Gott warum, stach er mehrmals Kusmin mit einem Messer in den Bauch, - und kehrte sofort freiwillig in die Psychiatrie zurück. Kusmin verblutete, weil niemand je bei ihm vorbeischaute und ihn retten konnte.

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