Daniel Siegele

Eine Kneipe im Duisburger Norden

Die Zeit sind die mittleren 70er Jahre und der Ort der Handlung ist eine auffallend triste Gegend im nordwestlichen Ruhrgebiet:
Die ganze Szenerie liegt unter einem grau verhangenen Spätherbsthimmel aus dem beständig ein kalter Nieselregen fällt – Seine deutlichste Prägung erhält dieser Stadtteil hierbei von einem nahe gelegenen Stahlwerk, wobei die obersten Teile der Hochöfen an diesem Nachmittag allerdings schon im Regendunst verschwinden.
 
Das Stahlwerk nimmt an sich schon einen großen Teil dieses Stadtteils für sich ein – außerdem gehen von ihm auch noch Rohrbrücken und Eisenbahntrassen aus, wobei die Güterzüge mit ihren grünen Industriedieselloks und den langen Wagenreihen meistens auf Brücken oder hohen Dämmen zwischen den Industrieanlagen und Wohnhäusern unterwegs sind.
Die langen Reihen der Güterwagen sind je nach Richtung und Strecke mit Erz, Koks, Flüssigeisen oder fertigen Stahlbrammen beladen – zu den alltäglichen Geräuschen gehört hier deshalb auch das laute Dröhnen der eindrucksvoll rußenden Motoren der schweren Dieselloks, wenn ein solcher Zug anfährt oder auf eine höhere Geschwindigkeit beschleunigt wird.
 
Ihren Ausdruck findet die lebhafte Aktivität im Stahlwerk auch durch das Quietschen und Rumpeln der rangierenden Güterzüge an den Verladebunkern, das Heulen von Sirenen und das weithin hörbare Geräusch gegeneinander stoßender, großer Metallteile – sichtbare Zeichen sind natürlich auch der immer wieder rot aufleuchtende Nachthimmel und der Widerschein blinkender gelber Lichter an verschiedenen Stellen im Werksbereich.
 
Zu dem Gesamtbild dieser Gegend gehören außer dem dominierenden Stahlwerk mit seinen hoch aufragenden Werksanlagen auch noch ausgedehnte Wohngebiete: In enger Nachbarschaft zueinander gibt es hier ziegelgemauerte Arbeiterhäuser, schwärzlich-schmuddelig gewordene Wohnhäuser aus der Gründerzeit und schließlich – und das immer mehr – die große Zahl der sehr gleichförmig erscheinenden Mehrfamilienhäuser aus der Zeit des Wiederaufbaus nach dem zweiten Weltkrieg.
 
Durchzogen wird diese Stadtlandschaft natürlich auch von unzähligen Straßen und einer Durchgangsstrecke der Bundesbahn, sowie von weiteren Rohrleitungs- und Industriebahntrassen zu benachbarten Schachtanlagen und Kokereien, wobei deren hoch aufragende Anlagen unter dem grauen Herbsthimmel zum Teil noch in der Ferne sichtbar sind.

Zwischen „unserem“ Stahlwerk und den zum Teil weiter entfernt liegenden Kokereien und anderen Anlagen der Ruhrgebiets-Schwerindustrie (wie zum Beispiel Gießereien oder Walzwerken) müssen regelmäßig schwere Güterzüge mit Koks, Roheisen oder fertigem Stahl gefahren werden; Aus diesem Grund sind nicht nur die Durchgangsstrecke der DB, sondern auch einige wichtige industrieeigene Verbindungsstrecken zwischen den verschiedenen Werken elektrifiziert – zur vertrauten alltäglichen und allnächtlichen Geräuschkulisse des Eisenbahnbetriebs trägt hier deshalb noch das deutlich vernehmbare Heulen der Trafo- und Fahrmotorenlüfter der schwer arbeitenden Industrie-E-Loks bei, sowie auch das „Sprotzeln“ der kleinen Überschläge zwischen Oberleitungen und Stromabnehmern in der von Regen- und Nebelnässe durchtränkten Ruhrpottluft.
 
Dieses dichte Nebeneinander von Industrieanlagen, Wohnbebauung und verschiedenen Verkehrswegen führt in einem Fall – den ich hier besonders erwähnen möchte – zum Beispiel dazu, daß die Bewohner der Straße „Am Umspannwerk“ zwischen der DB-Durchgangsstrecke, zwei Industriebahnstrecken und einer begleitenden Rohrleitungs-Trasse regelrecht wie in einem Dreieck zwischen hohen Bahndämmen eingeschlossen sind und ihren Weg in die „Außenwelt“ nur noch durch schmutzig-gelb geflieste, Jahrzehnte alte Unterführungen finden können.

*  *  *  *  *

Wir stehen jetzt am Rand einer lebhaft befahrenen, vierspurigen Durchgangsstraße, die unseren Duisburger Stadtteil in gerader Linie durchzieht – die Abenddämmerung bricht schon herein und der nasse Asphalt reflektiert das Licht der Leuchtstofflampen, die an quer gespannten Kabeln zwischen hohen Rundstahlmasten über den Fahrbahnen aufgehängt sind. Lastkraftwagen und viele Pkw rauschen an uns vorbei, und auf dem Mittelstreifen sind in Abständen von ein paar Minuten cremefarben lackierte Straßenbahnzüge mit Jägermeister- oder Sparkassenwerbung unterwegs.
 
Es ist später Nachmittag oder beginnender Abend im nordwestlichen Ruhrgebiet und in den vorbeirauschenden Autos oder den Straßenbahnzügen mit ihren beschlagenen Fensterscheiben sitzen müde „Normalbürger“ die nach einem anstrengenden Tag einfach nur nach Hause wollen. Es gibt hier aber auch noch eine andere Art von Leuten – und eben das wird uns deutlich bewußt, wenn wir uns jetzt umdrehen, um das Erdgeschoß des hinter uns stehenden Nachkriegsmietshauses zu betrachten:
 
Hinter einer schmucklosen Fassade aus grauweißen Kacheln, dunkelbraunem Holz und grünen Butzenscheiben befindet sich hier „das Paradies des kleinen Mannes“ – die anspruchslos-gemütliche und deshalb so beliebte Kneipe „Am Tor 3“. Das „Tor 3“ hieß früher anders und war damals noch eine einigermaßen bürgerliche Gastwirtschaft – später wurde daraus ein Gewohnheitsdomizil der Stahlarbeiter (daher rührt auch der jetzige Name) – und wiederum später geriet das ganze Lokal immer mehr zu einem Lieblingsplatz des sehr einfachen Proletariats und mancher anderer Zeitgenossen von mehr oder weniger eigentümlicher Art.

 
„Normale“ Gäste „verirren“ sich nur noch sehr selten in unsere ehemalige Stahlarbeiterkneipe, wobei das auch durchaus im Sinne der Stammgäste und sogar des Wirtes ist – von außen läßt auch nur noch wenig darauf schließen, daß das „Tor 3“ überhaupt noch geöffnet ist:
Hinter dem Glasfenster des kleinen Speisekartenkastens neben der Eingangstür steckt schon lange ein Zettel mit der Aufschrift „Ruhetag“ und die Butzenscheibenfenster sind von innen mit dicken Vorhängen zugehängt, damit das trübe Tageslicht draußen bleibt – der außen über den Fenstern und der Eingangstür angebrachte Neonschriftzug „Am Tor 3“ funktioniert schon lange nicht mehr, und die Beleuchtung im Inneren der Kneipe sorgt für eine „schummerig-gemütliche“ Gesamtstimmung.

Heruntergekommene Künstler und fragwürdige Handelsvertreter:

Zu den Stammgästen im „Tor 3“ gehören Zeitgenossen von sehr unterschiedlicher Art:

So gut wie immer findet man hier die sozusagen ortsüblichen, einfältig-harmlosen und manchmal ein wenig unterbelichteten Thekensteher – andererseits gibt es hier zum Beispiel aber auch mehr oder weniger erfolglose und zuweilen eher selbsternannte „Künstler“ von der schreibenden oder malenden Zunft, die hier meistens viel Zeit verbringen, indem sie mit einem schweren Kopf voller eigentümlicher Ideen, vager Vorstellen oder auch reichlich krauser Gedanken über lange Zeit vor einem halb leergetrunkenen Glas und den Resten eines Schnitzels mit Pommes sitzen, um irgendwann frustriert und müde aufzustehen, einen unentschlossenen Blick in die Runde zu werfen, und sich dann schließlich resigniert seufzend wieder auf ihren gewohnten Eckplatz zu setzen.


Weiterhin beliebt ist das „Tor 3“ auch bei ein wenig fragwürdigen Handelsvertretern, die sich hier bei ihren Touren ebenfalls gerne eine Pause gönnen, um sich mit ihren Berufskollegen zu unterhalten, den hier schreibenden und zeichnenden „Kneipenkünstlern“ bei ihrem Tun zuzuschauen, und einfach nur die rustikale Gemütlich dieser Ruhrpottkneipe (mit dem vor sich hin leuchtenden Zigarettenautomaten, der 20 Jahre alten Musicbox, den vergilbten Fotos und dem altersschwachen Flipperautomaten) zu genießen.

Während – nur wenige Meter entfernt – draußen auf der vierspurigen Bundesstraße die Autos und Lastwagen vorbeirollen, geht es im „Tor 3“ – hinter zugezogenen, dicken Vorhängen, bei einem Mindestmaß an Beleuchtung und mit alten Schlagern aus der Musicbox im Hintergrund – doch recht gemütlich zu; Der Wirt – als Besitzer, Koch, Bierzapfer und Gästeunterhalter in einer Person – pendelt ohne jede Eile zwischen der Theke und der kleinen, verwinkelten Küche hin und her, während die obligatorischen Schnitzel und Pommes in der altgedienten Friteuse vor sich hin brutzeln.


Schnitzel und Pommes sind das einzige Gericht, das im „Tor 3“ überhaupt zu bekommen ist – eine Speisekarte gibt es schon lange nicht mehr, und wer erstaunt wissen will, ob die besagten Schnitzel und Pommes hier tatsächlich das einzige Eßbare sind, bekommt als Antwort ein schlichtes, unaufgeregtes „Jawoll-ja!“ zu hören.
Unbelehrbahre, die ihr Schnitzel mit Pommes zurückgehen lassen, um statt dessen anderes Gericht zu bekommen, dürfen bestürzt miterleben, daß ihnen ohne jede erkennbare Gemütsregung des Wirtes doch immer nur wieder Schnitzel und Pommes vorgesetzt werden; Wenn jemand bei Alldem dann auch noch wissen möchte, was mit dem zurückgegebenen Essen eigentlich passiert, genügt es, wenn er den Bauch des Wirtes anschaut – dann weiß er Bescheid.
 
Es ist übrigens keinerlei Boshaftigkeit oder Ähnliches, die den Wirt dazu bringt, daß er seinen Gästen (auch nach deren eventuellem Protest) immer wieder nur Schnitzel und Pommes vorsetzt – unser Kneipenwirt meint einfach nur, das irgend etwas Anderes überhaupt nicht nötigt sei – davon abgesehen gibt es in seiner Küche außer Schnitzeln, Pommes, Fritieröl, Paniermehl und ein paar einfachen Gewürzen auch kaum etwas Anderes; Eines muß man zur Ehre unseres Wirtes allerdings noch sagen – seine Schnitzel mit Pommes gehören zu den Besten, die man in diesem Teil des Ruhrpotts bekommen kann.
Daß unser Wirt selber sein einziger Mitarbeiter im „Tor 3“ ist, liegt übrigens nicht nur an dem gemütlichen Betrieb in seiner Kneipe – für jemand Anderen wäre hinter der Theke, in der kleinen Küche und in dem schmalen, kurzen Gang dazwischen auch kaum noch Platz übrig.


Der Wirt hat zur Zeit unserer Geschichte bereits soviel Zeit mit dem Zubereiten von Schnitzeln mit Pommes verbracht, daß er über sein Tun schon längst nicht mehr nachdenken muß – wenn er in seiner kleinen, mit altgedienten Gerätschaften zugestellten Küche an den Friteusen herumhantiert, schaut er deshalb oft schon gar nicht mehr auf das, was er gerade tut.
Unser Wirt hat auch schon seit vielen Jahren keinen Urlaub mehr gemacht – er hätte dazu auch gar keine Lust, weil er sich in seiner eigenen Kneipe sowieso am allerwohlsten fühlt; Außerdem wäre es für seine Stammgäste ohnehin undenkbar, daß unser Wirt sein Kneipe auch nur für eine Woche schließt – wo sollten sie denn dann wohl ihre freie Zeit verbringen? Und ein völlig Fremder als Urlaubsvertretung für ihren Wirt? – Nein, das könnten sich unsere Pommes- und Schnitzelenthusiasten erst recht nicht vorstellen!
 
In einer Nacht hatte unser sonst eher schlicht angelegter Wirt einmal einen besonderen Traum: Er sah zwei endlos erscheinende Reihen aus Schnitzeln und Pommes, die sich langsam und ohne Unterbrechung durch seine Friteusen schoben!
Selbst die schönste Samstagnacht geht einmal zu Ende – auch im „Tor 3“. An einem nebelverhangenen, spätherbstlichenSonntagmorgen mit noch mäßigem Autoverkehr und wenigen (teilweise verkaterten aber meistens müden) Passanten kann man deshalb vor dem „Tor 3“ mit einiger Wahrscheinlichkeit das folgende kleine „Schauspiel“ beobachten:
 
Zu Beginn wird einer der dicken Vorhänge hinter einem der Fenster unserer Duisburger Kneipe von einer müden Hand mit deutlich erkennbarem Zweifel ganz vorsichtig und langsam ein wenig zur Seite gezogen; als nächstes kommt in der freigewordenen Lücke hinter der grünen Butzenscheibe das nicht weniger müde aussehende Gesicht eines reichlich übernächtigten (und wirklich gründlichst verkaterten) Kneipenkumpanen zum Vorschein – der Vorhang wird hierauf mit sichtlichem Erschrecken wieder zugezogen, und wir müssen ein paar Augenblicke warten, bis von draußen wieder Irgendetwas im Inneren unserer Kneipe sichtbar wird.
 
Nun kann man hören, daß im „Tor 3“ offenbar eine Art von kleiner Diskussion stattfindet: Soll man jetzt raus gehen oder nicht? Einerseits mag keiner die gemütlich-warme Dunkelheit des „Tor 3“ verlassen – andererseits lockt aber auch das mehr oder weniger gemütliche Zuhause und besonders das Bett, weil alle jetzt reichlich müde sind. Jetzt will aber erstmal eine Frage beantwortet sein: „Wer soll als erster die Tür aufmachen, die das kalte und nasse „Draußen“ bisher noch so schön zuverlässig ausgesperrt hat?“ Schließlich rafft sich einer von unseren Kneipengenossen auf (oder wird mit einem gewissen Nachdruck aufgerafft) und öffnet vorsichtig die Eingangstür vom „Tor 3“ – nicht zuletzt auch, weil im Inneren der Kneipe schon die rustikale Putzfrau drängt, die hier ihr Tagewerk beginnen will.
 
Von jetzt an dauert es dann auch nicht mehr lange, bis die knapp zehn „Leutchen“ – die bis in den Sonntagmorgen hinein im „Tor 3“ geredet, getrunken oder auch zuletzt nur noch vor sich hin gedöst haben – nacheinander und sehr vorsichtig aus ihrer Lieblingskneipe „herausstolpern“; Selbst das trübe Licht dieses feuchtkalten Spätherbstmorgens macht unseren übernächtigten Freunden doch einigermaßen zu schaffen und so trollen sie sich – so gut es eben noch geht – auf einem möglichst direkten Weg nach Hause.
Während die „Schnitzel- und Pommesfreunde noch aus dem „Tor 3“ herauskommen und geplagt ins trübe Morgenlicht blinzeln, schaut aus einem Fenster im Erdgeschoß eines Nachbarhauses ein allen Beteiligten bereits wohlbekannter, sprichwörtlicher „alter Knacker“ heraus, der mit seiner Mischung von Skurrilität, Einfalt und Bauernschläue gerne zu allem und jedem seine Meinung zum Besten gibt


 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.10.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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