Tatjana Willig

Eltern

 Ich verlor meinen Vater ziemlich früh - mit 6 Jahren - und in meiner Erinnerung behielt ich nur einzelne Fragmente seiner Gestalt, obwohl selbst diese Bilder von den Vorstellungen von ihm schwer zu trennen sind, die durch die Erzählungen derjenigen, die ihn kannten, durch Fotos oder durch meine eigenen Träume erzeugt sind.  Es kommt mir vor, dass viele Ereignisse vor seinem Tode aus meinem Gedächtnis ausradiert seien, so als ob mein Hirn die für meinen Verstand zu sehr traumatischen Erlebnisse aus dem Selbsterhaltungstrieb gelöscht hätte.
Die eine Erinnerung ist aber zweifellos echt: ich erinnere mich ganz genau, wie mein Vater seine Leinenschuhe mit dem Zahnpulver putzt, und  ich lache, weil es mir absurd vorkommt. Die andere Erinnerung hat sogar ein Teil seines Gesichtes eingeprägt: hell gekleidet - breite Sommerhose und Strohhut - biegt er auf unsere Straße und lächelt mir entgegen, seine Zigarette rutscht in den Mundwinkel und bleibt dort wie angeklebt hängen - das Detail mit der Zigarette überzeugt mich, dass ich es nicht geträumt habe.
Und noch eine Halberinnerung - Halblegende: Sonntags nimmt Papa mich in den Park, wo am bestimmten Ort auf der überdachten Terrasse  mit Tischen und Bänken wöchentlich sich Schachspielliebhaber versammeln;  Papa stellt mich seinen Spielbrüdern vor und  jeder von ihnen erhebt sich und sagt den Namen eines berühmten Großmeisters,  ich drücke jedem die Hand und bin glücklich, dass ich jetzt alle legendären Schachspieler persönlich kenne… Darauf kommt es eben an, dass das Schachspiel die wahre Leidenschaft meines Vaters ist, ihm ist nicht nur jede freie Minute von ihm gewidmet, sondern in seinen Gedanken ist er zum Leidwesen meiner Mutter dauernd mit dem Lösen der Schachaufgaben beschäftigt;  es gibt eine Menge von Schachbrettern jeder erdenklichen Größe in unserem Haus, und er vertieft sich in sein Schachspielgrübeln sogar beim Essen.
Bemerkenswert, dass alle diese Erinnerungen voller Sonnenschein  sind: es ist Sommer, und Licht und Schatten malen bizarre Muster auf den Boden, was diesen Bildern eine fotografische Schärfe verleiht.
Meine Eltern sind Ärzte: Papa leitet die Abteilung für Alkoholiker in einer psychiatrischen Klinik, Mama - das Labor in einem Krankenhaus, das zur Zeit meiner Kindheit in einem alten Haus von wunderlicher Architektur untergebracht war, und der Flügel, wo sich Mamas Labor befand, mir als die Fortsetzung unseres Hauses vorkam.
In Krankenhäusern verbringe ich viel Zeit, weil ich oft untersucht und den Spezialisten gezeigt werde: ich habe ein Loch im Herzen, einen Fehler, der mir wahrscheinlich in der Zukunft schaden könnte, jetzt aber spüre ich keinen Nachteil, außer eines unbestimmten Gefühls der Bedrohung, das nach jeder aufeinanderfolgender Konsultation einer Medizinkapazität stärker wird, weil meine Mutter im Nebenzimmer hinter der verschlossenen Tür laut schluchzt und mein Vater sie leise beruhigt, und ich höre immer öfter fallendes Wort: „Operation“. Allmählich nahm dieses Wort Gestalt an und materialisierte sich; und meine Mutter brachte mich zum Operieren nach Moskau.
 
Es war Winter, in Moskau war Frost, und es war sogar tagsüber dunkel und trübe. In der Kinderabteilung des Klinikums der Thoraxchirurgie befanden sich Kinder mit Herzfehlern aus der ganzen Welt, auch in meinem Zimmer waren Mädchen aus Albanien und China, beide mit schwarz-blauen Lippen. Wir kommunizierten offensichtlich in irgendeiner Weise: ich wusste zum Beispiel, welche Hetzfehler sie hatten und was ihre Eltern von Beruf waren. Sie starben beide während der Operation. Die Schwester sagten, dass sie in den ersten Stock gebracht wurden, aber niemand wurde von diesem Euphemismus getäuscht.
Meine Freundin - ein stilles bleiches Mädchen aus Karaganda - hieß Soja. Soja starb auch auf dem Operationstisch einige Wochen später. Aber in jener Nacht begleitete sie mich bei meinem Ausbruch, als ich aus dem Krankenhaus fliehen wollte, nachdem ich erfahren hatte, dass der Zeitpunkt meiner Operation auf den nächsten Morgen gesetzt wurde. Soja selbst hatte vor ihrer Operation keine Angst, sie floh nur meinetwegen.
Nach den offenkundigen Merkmalen erahnte ich mein Schicksal. Ohne zu warten, bis die Schwester mir ein Schlafmittel injiziert, begab ich mich in Sojas Gesellschaft und mit zwei Puppen auf eine Wanderung durch  unheimlich dunkle Gänge eines grandiosen Komplexes und fand schließlich eine Zuflucht, wo uns tatsächlich niemand vermutete: wir übernachteten auf dem Boden einer Herrentoilette in irgendeiner Krankenhausabteilung.
Im Morgengrauen wurde mir alles egal: Die Angst verdunstete, besiegt durch die Müdigkeit der schlaflosen Nacht, und wir kehrten in unsere Abteilung zurück, wo uns schon meine kreideweiße Mutter in der Begleitung von ebenfalls kreideweißen Schwestern entgegenkam. Wir wurden sogar nicht getadelt. Nur meine Mutter, die sich eigentlich tapfer verhielt, konnte die Spannung nicht mehr aushalten und rief meinen Vater. Er kam.
Es war Silvester. Da meine Operation auf den ersten Tag des neuen Jahres verlegt wurde, erlaubte man meinem Papa, die Neujahrsnacht mit mir zu verbringen: wir saßen im stillen dunklen Schwesterzimmer, wo sogar der geschmückte Tannenbaum stand, und ich schlief ruhig ein, auf seiner Hand sitzend. Am Morgen brachte er mich selbst in den OP und in der Nacht starb er unter einem Auto auf dem Weg zum Hotel.
Ich genas überraschend schnell. In zwei Monaten wurde ich als ein anderer Mensch aus dem Krankenhaus entlassen: lebhaft, mit gutem Appetit. Ich dachte, der Vater sei auf Dienstreise und  wunderte mich, dass meine Mutter sich nicht über meine neue Gesundheit freute, sondern wie früher im Nebenzimmer laut schluchzte.
 
In ihrem weiteren Leben vergaß sie meinen Vater. Aber jetzt träume ich oft von meinen Eltern: sie sind zusammen und  umarmen einander, ihre Gestalten entfernen sich und verblassen. Wir haben einander losgelassen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.10.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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