Alfred Hermanni

Bekifft in Deutschland- Mein letzter Kampf

 

 

von Alfred Hermanni und Peter Jaskewitz 18.Oktober 2010

(Alle Rechte vorbehalten)

 

Über ein Jahr war schon vergangen nach meiner Pleite. Die Sache hatten mein Partner und ich völlig in den Sand gesetzt. Und ich muss zugeben: Hauptsächlich war ich selbst Schuld daran und hatte mich an einer Firma beteiligt, die zu viele Außenstände aufgebaut, zu spekulative Geschäfte gewagt und sich mit den falschen Leuten eingelassen hatte. Und am Ende bin ich auch noch von meinem Partner hereingelegt worden.
Wenn ich nur daran denke, schwillt mir schon der Hals. Ich war einfach zu naiv und habe den guten Rat meiner Freunde ignoriert. Wusste mal wieder alles besser. Die Angelegenheit hat mich lange Monate ungemein belastet und meinem ohnehin ramponierten Selbstbewusstsein fast den Todesstoß versetzt. Eine Zeit der Depression.
Wäre da nicht meine treue Freundin und Gefährtin gewesen, ich weiß nicht, was ich sonst alles angestellt hätte.
Aber nun ist die Angelegenheit zumindest formell soweit reguliert - ich meine Schuldnerberatung, Privatinsolvenz anmelden, die persönlichen finanziellen Verhältnisse bis auf das Kleinste darlegen, Beschluss des Gerichts abwarten, und, und, und… Jetzt brauchte es noch etwa sieben lange Jahre einschließlich Wohlverhaltensphase, und dann habe ich es überstanden.
Doch letztlich ist das Schnee von gestern. Ich muss nun die kommenden Jahre auf niedrigstem finanziellen Niveau meistern, heißt: Alles, was ich überm Pfändungsfreibetrag verdiene, fließt meinen Gläubigern zu. Alles klar? Sie nicken. Gut, dann lassen sie uns besser das Thema wechseln…

 

Völlig mittellos, keine schnelle Aussicht auf Geld, versuchte ich lange Zeit, irgendeinen Job zu bekommen. Mir war völlig egal welche Art Job. Sogar Kanalarbeiter, Müllabfuhr oder Hilfsarbeiter wären Optionen gewesen. Alles, nur keine Sozialhilfe…

Nach wochenlanger Suche ging ich dem Hinweis eines Freundes nach und hatte endlich bei unserer Kirchengemeinde Glück. Gut, dass ich diesmal nicht ganz so ignorant war. Allerdings, ein wenig morbide war die Tätigkeit schon: Totengräber.
Doch ich will nicht undankbar sein. Es läpperte sich. Einige Stunden als Totengräber auf unserem örtlichen Friedhof brachten mir ein paar Mark. Für einen alten Freund fuhr ich am Wochenende Taxi, und an drei Nachmittagen in der Woche chauffierte ich die gelb-schwarze Jugendmannschaft des Fußballbundesligisten meiner Heimatstadt zum Training oder manchmal auch zu den Auswärtsspielen.

Alles in allem kam ich mit dem Geld so gerade eben hin. Und schließlich hatte ich noch etwas in Petto. Wieder morbide, aber Sterben hatte eine gleichmäßig gute Konjunktur. Sie werden lachen. Ich hatte einen Job als Leichentransporteur in Aussicht. Recht gut bezahlt, wenn mich die Informationen nicht täuschten. Ich wollte dranbleiben…
Langsam begann ich mich schließlich von den gröbsten Folgen meines finanziellen Desasters auch mental zu erholen. Die rückwärts gewandte Grübelei ließ endlich etwas nach, und ich blickte zuversichtlicher in die Zukunft. Mein Selbstbewusstsein bekam langsam Oberwasser.

 

*

 

Doch in den letzten Jahren war ich, was körperliche Betätigung angeht, recht faul geblieben. Nicht dass es die fehlende Zeit gewesen wäre. Es war auch ein gerüttelt Maß an Bequemlichkeit dabei. Sie werden das kennen, wenn man spätabends, genervt von den Anforderungen des Tages bzw. gestresst, endlich auf seine Couch in die Ruhestellung möchte… Und dann noch mal zum Sport? Die Verlockungen der Couch waren einfach stärker als ich, denn ich blieb immer öfter zu Hause.

Meine mangelnde Kondition bekam ich als erstes bei meinem Job als Totengräber zu spüren, denn die Kirchengemeinde war zu arm, um sich einen Mini-Bagger anzuschaffen. Also mussten die Gräber noch per Handarbeit ausgehoben werden, und zwar termingerecht. Denn die Toten sind da knallhart und nehmen keine Rücksicht auf Termine oder Unpässlichkeiten des Personals. In den ersten Tagen meiner Tätigkeit kroch ich förmlich auf Brustwarzen nach Hause. Das musste sich ändern!

Ich besann mich auf frühere Zeiten, in denen ich mit Freunden einem Freizeitfußballverein angehörte und auch noch verschiedene Kampfsportarten ausübte. Karate, Kung- Fu und Kickboxen waren hierbei meine Favoriten. Allerdings habe ich sie nie mit der Zielsetzung ausgeübt, mal Meister zu werden oder einen höheren Dan zu erreichen. Und der auch berühmte schwarze Gurt war für mich wenig erstrebenswert - im Gegensatz zu vielen anderen Sportsfreunden, die ihre Gurte wie Trophäen vor sich hertrugen und ihren Grad bei jeder Gelegenheit mehr oder weniger heraushängen ließen.

Mir ging es eher darum, das Kämpfen an sich zu erlernen und nicht nur auf eine Weise, wie es die traditionellen Kampfkünste erfordern. Als Nebeneffekt kam mir zupass, dass ich in der Lage war, mich selbst zu verteidigen.

Jetzt war es an der Zeit, diese, Rückstände wieder aufzuholen, dachte ich. Und um mir selbst Mut zu machen, fragte ich mich: Wann wenn nicht jetzt, du Schlaftablette…. Zeit genug hatte ich abends nun. Und die schöne verlockende Couchgarnitur war ohnehin gepfändet worden. Ausreden zogen nicht mehr.

Ich begann mit Waldläufen, Fahrrad fahren und ab und zu mal bei den alten Freunden im Fußballverein mit trainieren. Das ließ mich ganz langsam wieder an die Fitness vergangener Zeiten herankommen. Aber wirklich nur allmählich.

 

*

 

Doch heute machte ich nur einen Waldspaziergang, denn am Abend wollte ich beim lokalen Taekwondo Verein ein Probetraining absolvieren. Nachdem ich die Beitrittserklärung und andere Formblätter bereits per Post abgesandt hatte, hatte ich den Termin gestern vormittags telefonisch mit dem Übungsleiter vereinbart und wollte mich deshalb nicht schon vorher verausgaben.

 

Der afghanische Windhund meiner Freundin begleitete mich und würde mich garantiert davon abhalten, ein wenig Jogging zu machen. Denn obwohl ein Windhund und zum Rennen geboren, war er die große Ausnahme. Sozusagen eine afghanische Schlaftablette auf vier Pfoten, und eigensinnig noch dazu.

Ich glaube, er war der faulste und bequemste Hund, den ich je gesehen habe. Die orientalischen Lethargie-Gene hatten sich bei ihm voll durchgesetzt.

Er war einfach nicht zum Laufen oder wenigstens zum Traben zu bewegen. Selbst bei Kaninchen oder anderen Hunden spürte ich keinen Zug in der Leine. Völlig aus der Art geschlagen. Nach spätesten zwanzig Metern hatte er wieder etwas zum Beschnüffeln entdeckt, was er dann auch ausgiebig und intensiv durchführte, und zwar langsam und gemächlich - nein, der Hund war noch jung und nicht altersschwach, falls ihnen der Gedanke gekommen sein sollte.

Auch jetzt ließ Ansari sich wieder reichlich Zeit beim Schnüffeln. Meistens nannten wir ihn einfach nur Hans-Harry, oder nur den blonden Hans, weil sein Fell so wunderschön hell, fast blond war.

Ich hatte schon genug und wollte zurück. Aus dem geplanten Waldspaziergang war bereits ein Waldschleichgang für fußkranke Rentner geworden.

Ein Jogger kam uns entgegen gelaufen und brüllte mir mit seltsam röhrender Stimme schon von weitem zu: „Ey, mach deinen Köter fest!“ Ich sah ihn verständnislos an, denn der Hund war angeleint. Also kein Grund zur Panik.

Der Jogger kam näher, wurde langsamer und trat zu uns heran.

Ansari hob den Kopf und wollte an dem jungen Mann schnüffeln. Der blökte wieder los und machte den Lauten: „Pass bloß auf deinen Scheiß-Köter auf. Sonst tret’ ich den weg!“, drohte er völlig überflüssigerweise.

Der Bursche war noch keine fünfundzwanzig Jahre alt, aber dafür doch ziemlich frech.

Mach mal nicht so´n Stress, wir machen doch gar nichts, und der Hund war und ist angeleint. Du brauchst einfach nur weiterzulaufen und uns nicht so nah auf die Pelle zu rücken“, erwiderte ich noch recht ruhig.

Ihr befindet euch im Wege, das reicht ja wohl!“, motzte der Jüngling weiter.

Gehört dir der Wald? Bist du der Eigentümer?“, fragte ich jetzt zunehmend verärgert zurück.

Willst du was auf´s Maul, Arschloch?“, drohte er mir und trat fast bis auf Tuchfühlung an mich heran. Endlich bequemte sich Hans-Harry, so etwas wie leises, laues Knurren anzudeuten. Aber nur ganz langsam, er hob nicht einmal seinen Kopf und schnüffelte weiter am Boden herum. Es war nicht einmal auszuschließen, dass das Knurren mitnichten meiner Unterstützung, sondern nur einer fremden Duftmarke am Boden galt, die ein anderer Rüde gesetzt hatte. Ich tippte auf die fremde Duftmarke… Der Jogger trat aber schnell zurück und musterte den Hund respektvoll. Der muss wohl eine tiefsitzende Hundephobie haben. Wenn der wüsste, wie harmlos Hans-Harry ist, dachte ich belustigt.

Schon für das Knurren brauchst du einige Hiebe, du Wichser“, drohte er weiter.

Versuch’s doch“, forderte ich ihn nun auf.

Solange der Hund dabei ist - nicht. Aber wir sehen uns noch, bald!“, rief er seltsam grinsend, als er auch schon weiterlief.

 

Hoffentlich nicht, dachte ich. Denn der Typ war mir sowas von unsympathisch, wie es schon lange nicht mehr erlebt hatte. Aber meine Hoffnung sollte sich nicht erfüllen.

 

*

 

Zu Hause angekommen packte ich die Trainingstasche mit meiner Kampfsportausrüstung zusammen und freute mich schon auf den Abend.

Um 19:00 Uhr sollte es beginnen. Ich hatte also noch gut zwei Stunden Zeit. Eine leichte Mahlzeit, ein paar Tässchen Tee, und ich fühlte mich gut auf das kommende Training vorbereitet.

In meinem Hinterkopf fragte mich eine leise, wispernde kaum vernehmliche Stimme, ob ich nicht noch einen rauchen wollte. Ich hatte nämlich gutes Material zu Hause. Ein Freund hatte es mir aus Holland mitgebracht. Türkisches Haschisch, seit Anfang der achtziger Jahre nur noch sehr selten zu bekommen.

Denn seit dieser Zeit kam nur noch Heroin aus der Türkei, und damit hatte ich noch nie was zu tun und war auch froh drum. Noch mehr Probleme brauchte ich wirklich nicht.

Nein, sagte ich mir. Ich rauch´ jetzt nicht, ich will noch trainieren.

Aber du hast noch Zeit. Nur einen kleinen Joint, lockte mein innerer Schweinehund ließ nicht nach und lieferte prompt alle Pseudo-Argumente, die mich in meinem ursprünglichen Entschluss schwanken ließen.

Naja, dachte ich, mit mir selbst stets milde gestimmt, `nen Kleinen. Bin ja nur zu einem Probetraining. Ich muss ja nicht gleich voll loslegen. Lass ich es halt mal gemütlicher angehen.

Gedacht, Joint gebaut und geraucht. Breit auf der Couch sitzen, Musik hören und feststellen, dass es plötzlich schon kurz vor 19 Uhr ist… Ist nicht ungewöhnlich, wenn man angetörnt ist. Fast hätte ich noch das Probetraining sausen lassen. Aber diesmal setzte sich mein Pflichtbewusstsein durch.

Ich ging also los. Immer noch angekifft, erschien mir der Fußweg von 15 Minuten irgendwie doppelt so lang. Wahrscheinlich ging ich aber nur halb so schnell wie sonst. Oder doch nicht? Ich weiß es nicht, aber irgendwann schwebte ich langsam zur örtlichen Turnhalle herein und befand mich, als ich den Umkleidebereich betrat, unter einem Haufen johlender Kinder und Jugendlicher. Es war die Anfängergruppe. Hauptsächlich türkische Jungen von sechs bis sechzehn stürmten die Halle und begannen sich gegenseitig mit den bis jetzt erlernten Kampfhieben zu traktieren.

 

Das Gekreische war entnervend. Genau die Geräusche, vor denen mich mein persönlicher innerer Therapeut schon immer gewarnt hatte. Aber die Kids holten mich ein wenig herunter. Ich realisierte so langsam, weshalb ich eigentlich hier war.

Ich hielt mich ein wenig abseits und begann mich warm zu machen.

Plötzlich fuhr ein langgezogener, markerschütternder und seltsam röhrender Schrei durch die Halle. Sofort war es still um mich herum. Die Jugendlichen parierten aufs Wort.

Ein Elch? In dieser Gegend? Von Sichtungen in dieser Gegend habe ich noch nichts gehört, schoss es mir durch meine noch angetörnten Gehirnzellen.
Nein! Der Trainer stolzierte in die Halle. Unüberhörbar.

Die jungen Kämpfer formierten sich zu ihrer Aufstellung, während ich mich umdrehte, um mich beim Meister vorzustellen.

Ich muss ziemlich dämlich aus meiner Kampfwäsche geglotzt haben, als ich erkannte, wer vor mir stand: Es war der unverschämte Schnösel, dem ich beim Waldspaziergang begegnet bin.

Er tat aber so, als erkenne er mich nicht und sagte: „Du hast gestern wegen des Probetrainings angerufen. Herzlich willkommen. Hast du schon irgendwelche Kampfsporterfahrung?“

Ja, ich habe vor Jahren mal ein wenig Karate gemacht“, antwortete ich vorsichtshalber.

Er hat mich erkannt, da war ich mir sicher. Denn als er mich sah, zogen sich kurz seine Augenbrauen zusammen, anschließend weiteten sich seine Augen für einen kurzen, erkennenden Augenblick.

Wie heißt du?“

Alfred.“

Such dir einen Platz und nimm Haltung an, Alfred.“ Das tat ich, und mit einem weiteren Kampfschrei wurde das schweißtreibende Training eröffnet.

 

*

 

Das Training verlief recht gut. Dank meines inneren Schweinehundes hatte ich mich heute aber nicht überfordert und war guter Dinge, den nächsten Tag ohne Muskelkater zu erleben. Naja, dachte ich, vielleicht geht heute Abend auch der Rest gut, und der Trainer ist vernünftiger, als ich dachte - so in seiner Rolle als Vorbild. Doch da sollte ich mich wohl gewaltig täuschen.
 

Die Trainingsstunde war vorüber. Fast alle anderen Teilnehmer waren schon gegangen. Auch ich wollte mich gerade auf den Heimweg machen. Da rief der Meister-Elch nach mir.

Hey, Alfred! Komm mal her!“, verlangte er. Ich trottete voller böser Vorahnungen hin.

Das ist Ibrahim, unser Meisterschüler. Er hat den rot- schwarzen Gurt“, stellte er mir einen jungen, türkischen Mann von knapp zwanzig Jahren vor.

Ibrahim war gut gebaut, sehr gut sogar. Sah genau wie ein Typ aus, mit dem man keinen Ärger will.

Beim Taekwondo hat der rote Gurt die Aussagekraft: Gefahr! Blutrote Gefahr! Rot-Schwarz bedeutete auch, dass seine nächste Prüfung die Meisterprüfung ist.

Mit einem Meister der Kampfkünste sollte man nicht ohne Not spaßen, wenn es drauf ankommt, dass wusste ich aus Erfahrung.

Aber als Ibrahim den Mund aufmachte und ein paar Sätze absonderte war klar: Der ist nicht nur gefährlich, der ist auch noch doof, strohdoof. Eine explosive Mischung aus Intelligenzallergie und roher, triebhafter Muskelmasse, die dem Meister treu ergeben war.

Der tumbe Plasmahaufen ging zur Tür und postierte sich dort wie ein Türsteher, allerdings versperrte er den Weg von innen nach außen. War wohl so abgesprochen mit dem Meister. Ich überlegte, was mir der Trainer eigentlich damit sagen wollte. Ich erfuhr es sogleich.

Du hast gut mittrainiert, Alfred“, lobte er mich scheinheilig.

Danke. Hab mir Mühe gegeben“, antwortete ich leise. Irgendwas war hier faul. Und da war es auch schon heraus.

Hast du Lust auf einen leichten Trainingskampf?“, fragte der Schnösel.

Mir stellten sich die Nackenhaare auf.

Mit Ibrahim?“

Nein. Der, äh…, der ist nur für Notfälle.“ Da lag eindeutig Verachtung in seiner Stimme, als er zu ihm herübersah. Daher wehte also der Wind. Er wollte mich zum Abendbrot verspeisen. Oder sah er mich bereits als sein Dessert an?

Ich hab doch keine Chance gegen dich“, versuchte ich einen vorsichtigen gesichtswahrenden Rückzug.

Ich mach auch nur mit halber Kraft.“

Lieber nicht.“

Brauchst keine Angst haben, ich verletze dich schon nicht. Wir kämpfen auch nur Leichtkontakt“, lockte er weiter.

Vielleicht hat er mich ja doch nicht erkannt, überlegte ich.

Okay. Leichtkontakt ist in Ordnung. Ich kenne aber die Regeln nicht.“

Sind dieselben wie beim Karate. Mach dir keine Sorgen, komm schon.“

Von wegen keine Sorgen machen. Ich hätte auf meine Nackenhaare hören sollen.

 

*

 

Nun standen wir hier, Auge in Auge, nahmen unsere Kampfstellung ein und musterten uns schweigend. Sein Blick wanderte von oben nach unten, langsam wieder hinauf und traf sich mit dem meinen.

Bist du bereit?“, fragte die seltsam röhrende Stimme.

Ja“, antwortete ich.

Dann los!“

Wie von einer Feder geschnellt prallte sein rechter Fußspann auf mein Schienbein, ohne abzusetzen in meine Körpermitte und weiter auf meinen Kopf zu. Ein dreifacher Roundhouse Kick. Ich konnte ihn gerade noch mit meinen nach oben gezogenen Unterarmen kurz vor meinem Gesicht abblocken.

Drei Tritte in knapp einer Sekunde. Beeindruckend. Und wie ein Lehrer benannte er vorher jedesmal mit lauter Elchstimme, welche Übung er an mir vollführen zu gedachte - in englischer Sprache.
Er täuschte nun mit seiner rechten Faust einen Schlag ins Gesicht an, zog aber seinen rechten Oberschenkel an seinen linken und streckte sein Bein in einer schnellen Bewegung von sich. Ein
Sidekick. Eine gefährliche Waffe, wenn man diesen Tritt beherrscht. Er beherrschte ihn perfekt.

In meinen Bauch getroffen torkelte ich drei, vier Schritte nach hinten. Die Wucht des Aufpralls bewirkte, dass mein Unterkörper schneller beschleunigt wurde als mein Oberkörper.

Ich schlug mit meiner ganzen Länge auf den Boden, sprang zwar sofort wieder auf und fing mir gleich einen Frontkick ein. Dieser Vorwärtstritt traf mich in meinen Bauch. Und wieder landete ich auf meiner Nase.

Als ich vor ein paar Jahren längere Zeit beruflich in Irland zu tun hatte, trainierte ich dort auch Karate-do. Daher waren mir die englischen Bezeichnungen für seine Fußtritte geläufig.

Diesmal ließ er mich aufstehen und meine Trainingskleidung richten.

Er winkte mir mit vier Fingern zu, wie es weiland Bruce Lee in seinen Filmen machte.

Er begann zu tänzeln, steppte mal hier hin mal dort hin, täuschte eine Aktion an, zog zurück und blitzschnell traf er mit dem Handrücken meine rechte Wange. Diesmal verzichtete er auf die englische Bezeichnung und sagte grinsend: Backpfeife, nur umgekehrt

Das tat weh. Ich spürte wie das Blut in meine getroffene Gesichtshälfte schoss und meine Wange knallrot werden ließ. Es brachte mich aber ebenfalls in Wallung. Langsam begann ich, richtig sauer zu werden.

Wieder tänzelte er um mich herum, bückte sich leicht und schlug mit seinen Fingerknöcheln mit einer eher stechenden als stoßenden Bewegung in mein Sonnengeflecht.

Er traf meinen Solarplexus, voll.

Ich knickte ein, und ein höllischer Schmerz durchfuhr meinen Brustkorb.

Nur langsam bekam ich wieder Luft. Das hier war alles andere als ein Leichtkontaktkampf. Abgesehen von der mangelnden charakterlichen Eignung des Trainers, der sich ganz und gar nicht als Vorbild präsentierte, war das die Abrechnung eines gestörten Egos. Er tarnte seine persönlichen Rachegefühle allerdings geschickt mit einer Trainingsstunde. Und so einer unterrichtete Kinder und Jugendliche in Selbstverteidigung…

 

Ich richtete mich wieder auf. Er ließ mir Zeit, meine Kampfstellung einzunehmen und legte nun richtig los.

Seine Drehung auf dem linken Fuß, seine Kopfwendung in meine Richtung und sein hoher Beinaufschwung fegte in einer flüssigen Bewegung meine Deckung beiseite. Ein Backspin Kick, vom Feinsten. Mit dem Aufsetzen seines Beines folgte die nächste halbe Drehung, und sein rechter Handrücken prallte mir wieder einmal heftig auf die Wange. Wie durch Watte hörte ich: Backpfeife, umgekehrt. Mit einem hohen Sprung wirbelte er anschließend um seine Längsachse und vollführte den Backspin Kick in seiner gesprungenen Variante. Reflexartig zog ich meinen Kopf zurück und nur um einen Zentimeter verfehlte sein Tritt mein Gesicht.

Der spielt mit mir, das wurde mir nun schmerzhaft klar. Er guckte mir nun voll in die Augen, hasserfüllt, und trat an mich heran.

Ich hab dir doch gesagt, wir sehen uns wieder, Arschloch, nur diesmal hast du deine Scheiß-Töle nicht dabei“, flüsterte er mir zu. “Und wir sind auch noch nicht am Ende.“

Frontkick, Roundhouse Kick, Bein absetzen sich auf dem Fuß drehen und einen Sidekick nachsetzen. So stürmte er vor. Genau wie Bruce Lee.

Ich steppte nach hinten und konnte diesmal alle drei Tritte abwehren. Das gab mir Auftrieb. Ich hatte ja auch nicht alles verlernt, selbst wenn ich bis jetzt noch keine eigene Aktion setzen konnte. Doch jetzt wusste ich, dass er mich verprügeln und demütigen wollte. Sein Verhalten war eines Trainers und Vorbilds unwürdig.

Der Scheißkerl hat dich also doch erkannt und voll in die Falle gelockt. Ich Blödmann tappe auch noch hinein, kam mir etwas zu spät in den Sinn.

Alles in mir lehnte sich gegen diesen Versuch der Demütigung auf, denn ich wollte trotz seiner massiven Überlegenheit nicht zu Kreuze kriechen, mich nicht völlig würdelos verabschieden und ihm diesen Triumph gönnen.

Und jetzt werde ich ihn verarschen. beschloss ich und hoffte, dass mir mein Vorhaben gelang.

Dabei setzte ich auf seine Selbstgefälligkeit. Bei dem Burschen handelte e sich zweifellos um den Typus „Herr über Leben und Tod“, oder so ähnlich. Ich versuchte, ihm meine völlige Unterlegenheit zu suggerieren, indem ich einige etwas unbeholfen wirkende Tritte ansetzte. Die trafen ihn natürlich nicht und ermutigten ihn, einmal mehr mit mir spielen zu wollen. Er grinste mich an und ließ eine Angriffswelle auf die andere folgen. Mehrmals durchzuckten mich heftige Schmerzen. Allerdings wurde er in seinem Überlegenheitsgefühl auch leichtsinniger. Er fing an, mich auch noch zu verhöhnen. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich den erstaunten Gesichtsausdruck von Ibrahim - der schien gar nicht glauben zu können, was sein Meister da tat, Dummheit hin oder her. Die Schikane war offensichtlich.

Der Meister-Elch war gut, zweifellos. Auf Dauer würde ich nicht gegen ihn bestehen können, nicht bei dieser Form. Ich musste handeln. Mal sehen, ob er den Elch-Test besteht, dachte ich in einem Anfall schwarzen Humors, denn ich konnte froh sei sein, aus dieser Nummer ohne Knochenbrüche herauszukommen.

Ich versuchte also einen Bauerntrick und täuschte einen Schlag gegen seinen Kopf an. Zu meinem Erstaunen gelang er. Er deckte sein Gesicht mit beiden Fäusten, während ihn diesmal mein Sidekick auf die Bretter schickte.

Zufallstreffer“, murmelte der Elch bass erstaunt beim Aufstehen.

Soll er ruhig glauben, war meine stille Antwort.

Markenzeichen eines guten Taekwondo ist eine umfassende Beinarbeit.

Er war ein Meister, das bewiesen diverse blaue Flecken an meinem Körper.

Und weiter deckte er mich mit Tritten ein. Sie wurden immer härter und schneller. Er hetzte mich über die Matte. Es schien, als wolle er gar nicht aufhören und ließ ein Trommelfeuer verschiedener Trittkombinationen los.

Wieder musste ich reichlich einstecken, ohne ihn einmal auskontern zu können.

Nun begann er mich mit den Fäusten zu attackieren. Er atmete schneller, weil die vielen Tritte und Figuren auch ihn müde gemacht hatten.

Plötzlich traf mich ein Fauststoß auf die Nase, die sofort zu bluten begann.

Doch mein unmittelbarer Konter erwischte auch ihn an seiner Oberlippe. Sie platzte auf, und er blutete nun auch, allerdings auf dem Fußboden. Er stand auf und wollte sich das Blut von der Lippe wischen. Das gelang ihm auch, allerdings lag er dabei schon wieder auf dem Boden, weil ich ihm die Beine weggetreten hatte.

Er hatte noch immer nicht bemerkt, dass sich etwas am Kampfgeschehen geändert hat. Genauso war es mir recht. Er wurde jetzt richtig sauer, denn seine Verbalaggressionen steigerten sich. Lautstark drohte er mir, mich totzuschlagen…

Ich ließ ihn aufstehen, er griff ohne zu zögern an und knallte mir einen Roundhouse Kick ins Gesicht.

Ich sah Sterne. Schwer getroffen ging ich zu Boden.

Bei jedem regulären Kampf wäre schon längst Schluss gewesen, und er hätte seinen Sieg gehabt. Aber er wollte mich endgültig fertig machen, verprügeln und demütigen.

Dein billiges Karate taugt nichts“, verhöhnte er mich. “Ich beherrsche Hap-Ki-Do, Judo und Taekwondo. Und jetzt bist du reif!“

Ich scheiß auf dein Hap-Ki-Do, ich scheiß auf dein Taekwondo, jetzt zeige ich dir mal Al-fre-Do“, provozierte ich grinsend. Er guckte mich verständnislos an.

Hast wohl vergessen, dass ich Alfred heiße, du Hirni“, erklärte ich.

Er muss wohl noch über meine Worte nachgedacht haben, als mein Sidekick nun ihn unter seinem Kinn traf. Diesmal von mir perfekt ausgeführt und mit einer Wirkung, die selbst mich überraschte.

Sein Kopf schleuderte zurück, ich hörte Knochen bersten, er hob ab, flog rücklings durch die Luft und schlug schwer auf dem Boden auf.

Dort blieb er liegen und rührte sich nicht mehr. Eine kleine Blutlache bildete sich um seinen Hinterkopf herum.

Ich kniete mich hin, atmete tief ein und aus und versuchte meine eigenen Schmerzen zu beherrschen, die mich jetzt mit aller Macht heimsuchen wollten. Und das Adrenalin zu verdrängen. Hinzu kam, dass ich mich selbst zügeln musste, denn mein innerer Rachengel drängte darauf, dem Trainer sicherheitshalber noch einige Tritte in seine Weichteile zu verpassen - er nannte mir auch sogleich die Stellen: Fresse, Rippen, Flanken und vielleicht ein wenig Genitalmassage…. Doch ich beherrschte mich. Und das war gut so, wie sich noch herausstellen sollte. Denn er rührte sich immer noch nicht.

 

*

 

Er sollte sich nie mehr rühren. Jedenfalls nicht mehr in seiner Eigenschaft als Trainer. Mein letzter Tritt war wohl zu hart und hat ihm das Bewusstsein geraubt.

 

Mit Ibrahims Handy verständigten wir den Notarzt. Die Krankenhausärzte konnten mir nicht mit Sicherheit sagen, ob er ohne größeren körperlichen Schaden davonkäme, sie mussten ihn ins künstliche Koma versetzen.

Nach drei Wochen erwachte er daraus.

Er würde nie mehr jemanden verprügeln können, und wenn er Pech hatte, den Rest seines Lebens gelähmt im Rollstuhl verbringen müssen. Das habe ich von Ibrahim erfahren, dem ich zufällig in der Stadt begegnete. Der nun mir seinen Respekt zollte und sich von seinem Meister verachtungsvoll abgewandt hatte. Trotz seiner eingeschränkten intellektuellen Möglichkeiten hatte auch er erkannt, wie beschissen sich sein einstiges Vorbild verhalten hatte.

 

Ja, ich habe den Trainer im Krankenhaus besucht und wollte ihm mein Bedauern ausdrücken. Sogar Blumen hatte ich besorgt. Ich konnte meinen Satz nicht mal zu Ende bringen, da tobte er auch schon los. Der Meister-Elch war noch immer uneinsichtig und suchte die Schuld bei mir und nicht bei sich selbst. Er erging sich mit lauter Elchstimme in wüsten Drohungen und Rachephantasien. Er verwies mich am Ende seiner Tiraden wutschnaubend des Krankenzimmers. Nun, vielmehr habe ich von ihm ohnehin nicht erwartet, aber so viel Ignoranz und Verbohrtheit kannte ich nur aus schlechten Romanen.

Bevor ich ging, sah ich ihm aber eiskalt in die Augen (habe ich in einem Krimi so gesehen) und sagte: „Ich weiß nicht, wer dir ins Hirn geschissen hat. Der Elch-Test ist für Dich jedenfalls schiefgegangen. Und wenn Du es je schaffen solltest, nicht im Rolli zu landen, lade ich Dich zu einem Leichtkontakt-Duell à la „Al-fre-Do“ ein. Habe Dir noch längst nicht alles gezeigt und noch einige Spezialitäten in Petto. Und der Hund darf dann unangeleint dabei zusehen, wenn ich Dich vernasche, Arschloch.“
Ich gebe zu, dass ich an dieser Stelle mein Mütchen gekühlt habe. Aber Typen wie er brauchen eine klare Ansage. Mit Einsicht war bei diesem hoffnungslosen Fall wohl nichts zu machen. Jedenfalls zuckte er zusammen, und ich sah jetzt Angst in seinen Augen. Nun denn, er würde noch Zeit genug haben, über die Sache nachzudenken.

 

Es gab natürlich eine förmliche Untersuchung, die von der Polizei sorgfältig vollzogen wurde. Ausgerechnet Ibrahim, der tumbe Muskelberg, hat der Staatsanwaltschaft wohl glaubhaft genug versichert, dass wir nur einen harmlosen Trainingskampf geführt hatten und mit seinen Worten zumindest die Aggression des Trainers und meine Notwehrsituation umfassend beschrieben. So skurril es war. Ausgerechnet die schriftlich niedergelegten Trainings- und Teilnahmebedingungen des Sportvereins, die ich vorher unterzeichnen musste, wirkten sich am Ende juristisch entlastend für mich aus: Eigenes Teilnahmerisiko, Haftungsausschluss bei Unfällen usw… Alles auch Bedingungen, denen der Trainer selbst ebenfalls unterworfen war. Und der Trainer war kein ungeschriebenes Blatt. Vor einigen Jahren war er bereits wegen verschiedener Straftaten, unter anderem Körperverletzung, verurteilt worden. Das habe ich unter dem Siegel der Verschwiegenheit erfahren, vorsichtig angedeutet vom ermittelnden Polizeibeamten, einem früheren Kumpel von mir.  Der schüttelte den Kopf darüber, wie ein Mensch mit diesem Vorstrafenregister ausgerechnet als Übungsleiter in einem Taekwondo-Verein agieren konnte. Der Vereinsvorstand würde noch einige unangenehme Fragen zu beantworten haben.
Und dass nicht ich den aktiven Part gegeben habe, wurde ja bekanntlich von Ibrahim bestätigt. Das Verfahren wurde eingestellt, die Angelegenheit als Unfall definiert und ad Acta gelegt.

 

Mich selbst belastete dieser Kampf allerdings noch sehr lange. Denn das habe ich so nicht gewollt. Von dem Bekannten, der mir den Taekwondo-Verein empfohlen hatte, erfuhr ich, dass der Trainer tatsächlich von mir wusste. Als Gast einer Party hatte er am Vorabend nebenbei von mir als dem Typen mit dem blonden Windhund gehört. Und da ich bei der Anmeldung nicht nur meine Adresse, sondern wegen der Trainingszeiten auch meinen Hund erwähnt hatte, konnte er sich eins und zwei zusammenreimen und brauchte nur noch abzuwarten, bis ich zum Training erschien.

So spielt das Leben, die Welt ist klein. Die Angst des Trainers vor Hunden hat sich in der Tat als berechtigt erwiesen, denn irgendwie war Hans-Harry auch Grund für die blutige und schicksalhafte Auseinandersetzung. Doch was kann unser Hund dafür, dass er ein vermutlich frühkindliches Hundetrauma mit sich herumschleppt?

 

Heute gibt es nur noch eines, was ich mir schwöre: Natürlich wird es keinen Leichtkontaktkampf mit dem Elchartigen geben.
Ich kämpfe niemals wieder!

 

 

ENDE 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.10.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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