Christine Klaus

Die Lüge und die Wahrheit

Sie stand im Regen, vor seinem Grab.

Hätte sie um ihn geweint, hätte sie es ohnehin kaum gespürt, weil ihr Gesicht schon vom ganzen Regen so nass war.

Aber sie weinte ja nicht. Sie war einfach nur fassungslos.

Er hatte sich tatsächlich umgebracht und damals, als er seinen Tod ankündigte, war es ihr egal gewesen, denn sie hatte ihm nicht geglaubt, bis sie die Nachricht bekam.

So sind die Menschen, dachte sie, manchmal überraschen sie einen, auch wenn sie nur an sich selbst denken!

Aber so war sie natürlich nicht.

Die beiden hatten sich einige Zeit lang viel getroffen und er hatte Gefühle entwickelt, Gefühle, die ganz klar falsche Form annahmen. Er hatte sie bedrängt, es mal mit ihm zu versuchen, während sie sich querstellte und ihm immer wieder auf schmerzliche Weise klar machte, dass Gefühle ihrerseits einfach nicht vorhanden waren. Natürlich hatte er sie nicht in Ruhe gelassen. Und ihr immer wieder vorgeworfen, sie wäre zu stolz, um ihm ihre Liebe zu gestehen.

So sind die Menschen, dachte sie wieder, die verstehen einfach nicht, dass nicht alles auf Gegenseitigkeit beruht.

Nach einer heftigen Diskussion hatte er sich zu Hause verschanzt, eine Tage gelitten, einen langen Abschiedsbrief geschrieben und sich anschließend die Pulsadern aufgeschlitzt.

Natürlich war sie geschockt gewesen, sogar sehr, aber sie trauerte nicht, sie bemitleidete ihn nur.

Nur aus Anstand hatte sie sein Grab besucht.

Es war schon etwas her seit seinem Tod, aber irgendwie war es ihr schwer gefallen, ihn hier zu besuchen.

Sie hatte keine Gefühle für ihn gehabt.

Jedenfalls wusste das ihr Verstand.

Aber ganz tief in ihrem Inneren war sie eine trauernde und zerbrochene Frau, die sich allein die Schuld an seinem Tod gab.

Ich kannte sie und wusste das.

Sie drehte sich um und lächelte schwach.

Ich ging zu ihr hin und strich mit meinen Fingern über ihr nasses Gesicht.

“Das ist nur der Regen”, flüsterte sie.

Wir gingen wieder zurück.

So sind die Menschen, dachte ich, sie verdrängen die Wahrheit mit aller Macht, um mit ihrer Lüge leben zu können!

 

  

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.10.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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