Christa Astl

WEEKEND


 
Eine schwere, anstrengende Woche geht zu Ende. Menschen kommen mit Leid und Leiden zu mir, erwarten Hilfe und Rat. Ich höre ihre Geschichten, ihre Klagen, sie erwarten Trost, Hilfe, Zuspruch. So viel „Schlechtes“ muss ich umwandeln in „Gutes“. Die Menschen wollen ihre Last bei mir abgeben. Nun liegt sie bei mir, auf mir, zentnerschwer und dicht wie Kieselsteine. Das Atmen wird darunter zur Last, Bewegung erstarrt unter dieser Bürde. Ich bin am Zusammenbrechen. Allen Trost, alle Hoffnung, alle Zuversicht habe ich aufgebraucht und abgegeben, mir selbst bleibt nichts mehr, nur Traurigkeit, Verlassenheit und Trostlosigkeit.
Der letzte Besucher schließt die Tür, ich bin allein. Stille um mich, in mir. Ausgebrannt. Leer.
Es kostet Überwindung, den Schreibtisch abzuräumen, das Aufstehen erfordert alle Kraft. Dann fällt die Tür hinter mir ins Schloss.
Die leere Wohnung erwartet mich. Im Briefkasten nur Werbung, keiner schreibt. Wie gut täte jetzt ein Gruß von einem lieben Menschen! Kalte abgestandene Luft herrscht in den düsteren Zimmern. Ich mache Licht, öffne die Fenster für einige Minuten, schalte die Heizung ein.
Obwohl das Thermometer bald angenehme Temperaturen zeigt, friere ich, von innen heraus. Vielleicht sollte ich etwas essen, etwas trinken? Mühsam erhebe ich mich wieder, stelle Teewasser auf, richte ein Brot, esse ohne Appetit, einfach aus Gewohnheit. Der Tee wärmt mich ein wenig.
Mit Furcht denke ich an das vor mir liegende Wochenende. – Wenn ein Abend schon so endlos lang sein kann! – Ich sitze nur da, kann mich zu keiner Tätigkeit aufraffen, nichts interessiert mich. Ich schließe die Augen, lasse den Gedanken freien Lauf. Traurigen Gedanken. Sie wandern zurück in die Zeit der glücklichen Familie, - wie lang schon her? – als munteres Leben in den Räumen herrschte. Im Geist sehe ich die Kleine wieder auf die Couch springen, höre den Mittleren um eine Geschichte betteln, schaue mit der Ältesten die Hausaufgeben durch. Vergangene glückliche Zeit, unwiderruflich vergangen. Alle sind fort, ich bin allein mit meiner Einsamkeit. Ich versuche mir eine Zukunft auszumalen, es gelingt nicht.
Dunkle Mauern um mich, die kein Licht hereinlassen, eine trostlose Welt ohne Hoffnung, ohne Zuversicht.
Von ein paar Tabletten lasse ich mich in einen tiefen ohnmachtsähnlichen Schlaf versetzen.
Irgendwann wache ich auf. Draußen ist es dunkel. Mir ist als ob mich etwas erdrückte. Ich bekomme kaum Luft, Schweiß bricht aus allen Poren. – Angst überfällt mich, panische Angst. – Ich setze mich im Bett auf, das Atmen wird etwas leichter, aber ich kann mich nicht entspannen. An Schlaf ist nicht mehr zu denken. Gedanken kreisen wieder wie schwere Mühlräder durch den Kopf. – Ich halt das nicht mehr aus, ich kann nicht mehr! –
Endlich wird es hell und ich stehe auf. Lustlos gieße ich mir einen Kaffee auf, kaue ohne Hunger an einer gestrigen Semmel. Obwohl bereits das Tageslicht durch die Vorhänge dringt, ist mir plötzlich, als ob sich die Wände dunkel und bedrohlich näherten; die Decke beginnt zu schwanken und droht auf mich herabzustürzen. - In panischer Angst fliehe ich aus dem Haus. Die frische Luft tut gut!
Ein schöner Tag bereitet sich am Himmel vor. Im Osten kündigt sich die Sonne als heller Streifen am Horizont an. Ich flüchte nach Westen. Bald erreiche ich das letzte Haus, der Wald nimmt mich gefangen. Dunkel, still ist es um mich. Ich bleibe stehen. Vom schnellen Gehen gerate ich außer Atem. Ich spüre mein Herz klopfen. Aber nicht ängstlich flach, hastig wie in der Nacht, sondern stark, kraftvoll, gleichmäßig dringt das Schlagen in mein Ohr. – Ich spüre mich leben! –
Leiser Windhauch bewegt das Laub, streift mein Haar. Noch stehe ich, reglos wie ein Baum, fühle mich auch fast wie einer, spüre den festen Waldboden unter mir, fühle wie von diesem eine Kraft ausgeht und in mir aufsteigt. Zaghaft berühre ich die Buche neben mir, streiche mit der Hand über die glatte Rinde. Die Augen beginnen zu brennen. Wie Halt suchend, umklammere ich den dicken Stamm, lehne die Stirn an das kühle Holz und lasse meinen erleichternden Tränen freien Lauf. All das Dunkle, Schwere, Dumpfe spüle ich mit ihnen fort.
Ich weiß nicht, wie lange ich so gestanden bin. Ein Vogelschrei dringt in mein Bewusstsein. Welch wunderbar zarte Töne! Wann habe ich diese das letzte Mal vernommen? Immer mehr Stimmen fallen ein, bald jubiliert und musiziert der ganze Wald Zum erstenmal seit langem dringt wieder etwas positiv Erlebtes in mich. Ich
versuche einzelne Sänger herauszuhören, lasse den Blick schweifen, erkenne plötzlich Buchen, Eschen, Fichten, Tannen, Lärchen! Ich sehe Blumen am Wegrand, bemerke einen großen Käfer vor mir! – Die Welt ist voller Leben, - und meines mittendrin! - Auch ich bin erfüllt davon! Ich stehe und staune und erlebe das Wunder der Natur.
Weit über mir zeigt der Himmel nun schon sein leuchtendes Blau. Langsam gehe ich weiter. Wie durch einen grünen Tunnel führt mich der Weg mäßig ansteigend durch den Wald. Mein Gang ist anders als vorher, nicht mehr hastig, fliehend, nein, ich spüre jeden Schritt, wie der Fuß den weichen Boden berührt; ich nehme meinen Körper wahr, spüre die Bewegung von der Ferse über den Rücken bis in den Kopf und die Arme. Ich finde meinen Rhythmus, mein Kopf wird frei und leicht. Ich denke nicht, ich schaue nur und fühle nur. Das Atmen wird leicht, als ob eine große schwere Last abgefallen wäre.
Sonnenstrahlen funkeln durchs Geäst auf eine kleine Lichtung. Ich verlasse den Weg, gehe der Sonne entgegen. Ihr Glanz umfließt mich, Sonnenwärme durchströmt meinen Körper, erreicht auch mein Gemüt. Ich lächle ganz leise vor mich hin, fühle endlich wieder etwas wie Glück; das Glück in dieser wunderbaren, in diesem Moment und an dieser Stelle noch heilen Welt zu sein.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.10.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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