Gian Keller

Busfahrt

Der Geruch von nassen Kleidern und kaltem Schweiss hing überwältigend in der Luft, als ich um 18:15 Uhr den Bus bestieg. An einem Fensterplatz liess ich mich nieder und schloss erst einmal meine Augen. Was für ein Tag. Im Büro schienen alle gereizt zu sein. Ein Telefonat folgte auf das nächste und an ein konzentriertes Arbeiten war nicht zu denken. Wie oft ich an der Kaffeemaschine war? Mindestens fünf Mal. Nein, sechs…

Ich öffnete die Augen und beobachtete die Tropfen an der beschlagenen Scheibe, wie sie sich vereinigten, wieder trennten, sich aufs Neue vereinigten und, bald in mäandernden Flüssen verschwanden; Flüsse, die urplötzlich die Richtung änderten, waren es mikroskopisch kleine Partikel, die diese Richtungsänderungen verursachten oder war alles nur Zufall? Warum hielt sich eine Stelle trocken und warum so hartnäckig als ob es etwas zu verteidigen gäbe? Selbst das Beben des Busses vermochte keinen entscheidenden Einfluss auf die Wasserläufe zu haben.

Ich war müde und musste gähnen. Ein Bett, auf nichts anderes sehnte ich mich. Die relative Wärme des Busses nach dem kalten Warten, die Nässe, der Tag – Nein, vor dem Einschlafen hatte ich keine Angst. Mein Körper hatte sich an die Dauer der Busfahrt und an die Richtungsänderungen angepasst. Exakt vor meiner Haltestelle wachte ich jeweils auf. Die bekannten Lichter und schemenhaften Konturen, die Bewegungen des Busses dienten nur noch der Orientierung darüber wie lange ich noch die Augen geschlossen halten kann.

Halb im Schlaf, halb wach wartete ich auf den nächsten bekannten Orientierungspunkt. Die weissen Strassenpfosten huschten im immer gleichen Rhythmus vorbei, dahinter nichts als Schwärze. Schwärze, nur vereinzelte kleine Lichtpunkte. Ich überlegte, wo sich der Bus auf der mir doch so bekannten Strecke gerade befinden könnte.

Der Bus raste dahin. Er raste schnell. Irgendwie schneller als sonst. Im Bauch fühlte ich ein wohliges Gefühl von Unsicherheit. Da erst merkte ich, dass der Bus schon lange nicht mehr angehalten hatte. Ich blickte mich im Bus umher und war doch sehr überrascht der einzige Fahrgast zu sein. Als ich eingestiegen war, gab es da mehrere Personen, deren Geruch auch jetzt noch in der Luft klebte. Jetzt aber war ich alleine. Das Gefühl wich nun einem unangenehmen Unwohlsein, und der Bus raste.

Ich blickte nun intensiver in die Schwärze jenseits der Scheiben. Keine Lichter, keine Konturen, nichts Bekanntes. Ja, nur Schwärze. Auch auf der anderen Seite nichts als Schwärze. Das unwohle  Gefühl  wich nun der Erkenntnis, dass ich irgendwie falsch war. Der falsche Bus konnte es zwar nicht sein, weil nur eine Linie diese Strecke bediente, aber wahrscheinlich habe ich meine Haltestelle doch verschlafen – das ist mir noch nie passiert. Jetzt war ich aber hellwach. Vielleicht ist der Buschauffeur auf dem Weg zum Depot und hat mich übersehen. Ärgerlich und unangenehm der Gedanke, dass es jetzt noch länger dauern würde, bis ich endlich daheim war; ich endlich ins warme Bett kann.

Der Bus raste. Durch die Frontscheibe sah ich links und rechts die weissen Pfosten im Lichtkegel des Busses auftauchen und verschwinden. Das Tempo war selbst für mich zu schnell. Endlich konnte ich mich überwinden aufzustehen und zum Busfahrer zu gehen. Doch als ich vorne ankam und in den Führerstand schaute, war dieser leer.

Das Steuerrad bewegte sich nur minimal. Ich brauchte einige Sekunden um zu realisieren in welcher Situation ich mich befand. In plötzlicher Hast riss ich die Tür zum Fahrersitz auf und suchte mit den Füssen nach den Pedalen. Das Steuer gehorchte mir nicht, was mir aber angesichts der Lage in der ich mich befand nicht wichtig war; wichtig waren die Bremsen.  Egal auf welche Pedale ich trat, Einfluss hatte es keinen. Der Bus raste.

Meine Beunruhigung war längst Panik gewichen. Und noch immer versuchte ich in grosser Eile, als ob ich wüsste was ich tue, irgendeinen Einfluss auf das Fahrzeug zu nehmen. Ich betätigte Knöpfe, riss an Hebel und stampfte wie wild auf den Pedalen herum. Der Bus raste.

Es gab noch Details die ich wahrnahm. Vorne tauchten die weissen Strassenpfosten aus dem Schwarz auf und verschwanden links und rechts, während der Bus in der Strassenmitte mit horrendem Tempo dahin schoss. Die Fahrbahn war trocken, oder war sie es nicht? Die Scheibenwischer bewegten sich nicht. Ich sah ein Ahornblatt das sich im rechten Scheibenwischer verfangen hat und nun im Fahrtwind flatterte. Ein Bezug zu etwas Bekanntem, dass irgendwie den Nebel meiner Panik durchdrang. Das war real! Das ist echt! Ich begann aufs Neue hektisch auf sämtliche Arten Einfluss auf das Gefährt zu nehmen. Der Bus raste unbeirrt weiter.

Irgendwann blickte ich nach hinten. Das Licht im Bus war aus. Ich muss bei meinen Bemühungen den Bus zu steuern das Licht ausgeschalten haben. Welcher der Knöpfe könnte das gewesen sein. Warum funktionierte ausgerechnet dieser und sonst nichts? Ich hatte keine Zeit mich länger mit dem Problem zu befassen. Ich stürzte mich nach hinten zu den Sitzen, ohne klares Ziel, einfach weil ich mir nicht zu helfen wusste. Vielleicht hatte ich auch ein wenig die Hoffnung bei einem unweigerlichen Aufprall weiter hinten sicherer zu sein. Hinten angekommen bemerkte ich ein weiteres Detail: Es gab keine Bewegungen, keine Erschütterungen, kein Geräusch verriet, dass der Bus dahinflog.

Auch diese neue Entdeckung half mir nicht meine Situation logisch zu erklären. Ich hetzte wieder nach vorne und blickte durch die Frontscheibe. Kein Zweifel, der Bus stürzte förmlich vorwärts. Wieder ein neues Detail fiel mir auf: Die weissen Strassenpfosten waren verschwunden. Der Bus flog auf einer Fläche. Man sah keine Unebenheit oder Veränderung im Belag. Es war einfach ein etwas helleres Schwarz als das umliegende links und rechts. Das Blatt flatterte noch. Der Bezug zur Realität war wieder da.

Dafür war die Fahrerkabine weg. Auch der Fahrersitz, ja alle Sitze waren weg. Hinter mir war nur noch Schwärze. Dichte undurchdringliche Schwärze. Vor mir verschwand die Kontur zwischen dem helleren und dem dunkleren Schwarz. Ich suchte das Blatt, fand es aber nicht und auch kein Scheibenwischer war mehr zu sehen. Ich streckte meine Hand aus und stellte fest, dass da auch keine Windschutzscheibe mehr war.

Um 22:00 fand der Buschauffeur der Linie 82, gerade als er den Bus ins Depot fahren wollte, einen Mann zwischen 30 und 40 Jahren anscheinend schlafend in einem der Sitze. Die Obduktion ergab Herzversagen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.10.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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