Hans Georg Lanzendorfer

Klagesache Anna H.

Wortlos sass die Angeklagte Anna H. neben dem mächtigen Pult des Richters, und schaute mit unschuldigem Blick und gesenktem Kopf in die Zuschauer-Reihen. Sie schämte sich fürchterlich, hatte sie doch noch nie zuvor in ihrem Leben mit den Gerichten zu tun. Dennoch blieb sie gelassen, zumal nicht Petrus über ihren Einlass in die Himmelspforten urteilend vor ihr stand, sondern nur der alte Richter aus ihrem Heimatdorf.
"Wie war denn das nun wirklich mit der Belästigung des Herrn Hummel, an der Verkehrsampel?", fragte sie der grauhaarige Advokat, der hinter seinem schweren Amtstisch verborgen, und mit durchdringendem Blick, die greise Bäuerin Anna anvisierte. Anna schwieg, zupfte an ihrer Schürze.
Mit langsamer und rollender Stimme, als hätte sie sich vor der ganzen Welt für eine unentschuldbare Verfehlung schuldig gemacht, wiederholte der Richter abermals die Frage.
"Nun antworten sie doch bitte wahrheitsgetreu auf meine Frage und erklären sie dem Gericht den genauen Sachverhalt, wie es zu der vorliegenden Anzeige des Herrn Hummel gekommen ist - haben sie ihn nun belästigt, oder haben sie nicht?

Der Fall war aussergewöhnlich, gar einzigartig und erregte mittlerweile die eher schwerfälligen, dörflichen Gemüter des ansonsten verschlafenen Dorfes.
Vor kurzem war in dem kleinen, abgelegenen Dorf beim Fussgängerstreifen, die erste Verkehrsampel eingeführt worden, denn schon lange hatte ein so hochmodernes Projekt die Dorfbevölkerung in stürmischen Gemeindeversammlungen entzweit, Zwietracht gesäht.

Seit ihrer Kindheit ist die Strasse, welche die alte Bäuerin Anna während vielen Jahren mit ihrem klapprigen Leiterwagen überquert hatte, auf dem sie ihre Milchkannen hinter sich herzog, kaum von dorffremden Autos befahren worden. Doch der Strassenverkehr stieg immer mehr an. Fremde Touristen fuhren vermehrt durch das kleine Dorf in die nahegelegenen Berge. Also einigte man sich vor nicht all zu langer Zeit, und nach heftigen Depatten im Gemeinderat darauf, mitten auf der langezogenen Dorfstrasse, für die Fussgänger einen leuchtenden Zebrastreifen - Ein Mahnmal der Moderne, über die Strasse malen zu lassen. Feierlich fuhren unter den strengen und alles überwachenden Blicken des Bürgermeisters und einiger Gemeinderatsmitglieder, die leuchtend rot gekleideten Strassenarbeiter der Nachbarsgemeinde heran. Diese schwangen Pinsel und Farbkübel, vermassen die Strassenbreite, klebten Streifen auf den Asphalt, spannten Bänder und stellten rotgestreifte Pylonen auf die Fahrbahn. Und so war die einstmals gewöhnliche Dorfstrasse plötzlich nicht mehr einfach nur ,die Strasse', sondern war zur ,Fahrbahn' geworden. Das allein schon fand die alte Anna äusserst lustig und besonders wunderte sie sich über diese eigenartig leuchtenden Streifen auf dem Asphalt. Gelb, so war sie der klaren Meinung, passte sowieso nicht in das Dorfbild - und früher, da konnte man selbst die Hühner noch auf die Strasse lassen.

Es ist lange her, seit das erste Automobil um die Jahrhundertwende durch das idyllische Dorf gerattert kam. Die ganze Kinderschar des Dorfes umringte damals den fahnenschwingenden Warner, der den motorisierten Vehikeln noch vorweg gehen musste, um die Passanten vor dem rauchenden und stinkenden Ungetüm zu warnen. Hatte es doch bereits in der Stadt, einen tödlichen Unfall mit diesen metallenen und motorisierten Pferdekutschen gegeben.

Das kleine Dorf blieb jedoch weitgehend vom Wandel der Zeit verschont. Die ersten Traktoren wurden von der Dorfbevölkerung mit grossem Staunen betrachtet. Einige priesen sie als grosse Arbeitserleichterung, holten sich gar beim Pfarrherren göttlichen Segen für diese technische Gottesgabe an die Menschen. Nur die alteingesessenen jedoch, verwünschten dieses neuzeitliche, ölmetallene und dieselschluckende Machwerk, zurück in des Teufels Höllenschlund, dorthin, wo es hergekommen sei.
Damals war sie noch ein kleines Mädchen, und ihr bescheidener Vater hat während seines ganzes Lebens weder einen Motor-Wagen, einen Traktor, noch eine elektrische Melkmaschinen besessen. Nur das, was der Mensch mit eigenen Händen zu schaffen vermochte war von Segen - und das war gut so.
Kaum jemals ist Anna im Mittelpunkt des Dorfgeschehens gestanden, bis eben zu diesem so verhängnisvollen Morgen, als sie beim Fussgänger-Zebrastreifen an der neuen Ampel, die zwischenzeitlich aufgestellt wurde, wieder einmal auf Herrn Hummel gestossen ist. Er war neu im Dorf - ein Zugezogener. Ein ganz mürrischer Kauz, hiess es, denn er sprach kaum ein Wort, und grüsste selten - seit über zwanzig Jahren. Herr Hummel war einer derjenigen, die sich als erste im Dorf, aus der Stadt kommend, ein kleines Häuschen mit allem Komfort am Dorfrand gebaut hatten. Sogar eine elektrische Waschmaschine und ein Telephon, soll er in seinem modernen Haus besitzen, kam Anna damals zu Ohren.
"Also, dass war so, Herr Richter", begann sie mit ihrer krächzenden Stimme.
"Eigentlich verstehe ich nicht warum ich heute hier ins Gericht zitiert worden bin. Den Herrn Hummel habe ich schon oft bei dem dreifarbigen Licht bei der Strassenüberquerung getroffen, und noch nie hat er sich deswegen beklagt".
"Das ist es ja gerade", mischte sich Herr Hummel lauthals in ihre Darlegung ein.
"Doch irgendwann ist eben einmal zuviel und jedes mal ist mir das bisher so ergangen, wenn ich sie am Fussgängerstreifen angetroffen habe. Ich habe geflissentlich schon versucht, ihr aus dem Wege zu gehen", beklagte sich Herr Hummel weiter vor den Anwesenden. Der Richter hörte ihm geduldig zu. Die Zuhörenden im Saal lachten.
"Ruhe bitte, wir wollen doch der Sache in aller Ordnung auf den Grund gehen. Wie sind sie denn dazu gekommen, den Herrn Hummel an der Ampel jeweils mit ihrem Stock zu belästigen - liebe Anna?"
"Nun, eigentlich habe ich nur das getan, was von mir verlangt wurde, nichts anderes", wehrte sich die Alte.
"Wenn das nicht richtig war, dann seid ihr selbst schuld, wer soll sich denn heute noch zurechtfinden bei all dem neuen technischen Zeugs!"
"Was, und von wem, wurde denn von ihnen verlangt, liebe Anna, dass Sie den Herrn Hummel an der Ampel mit ihrem Stock belästigen sollen? Im übrigen sind noch einige andere diesbezüglichen Beschwerden gegen sie eingegangen."
"Ja, aber Herr Richter, ich habe doch den Herrn Hummel", die Alte schaut lachend auf, "und vielleicht noch ein paar andere bei der Ampel nur deswegen auf den Bauch gedrückt, weil es doch ganz deutlich schwarz auf weiss, auf der glänzend weissen Tafel geschrieben steht - ,Fussgänger drücken'.

Das Älterwerden kann für viele Menschen zu einem Problem werden. Vorallem in unserer schnellebigen Zeit wird man zu oft von technischen Neuerungen und Veränderungen überrascht und überrannt.
Persönlich bin ich nie mit der Bahn unterwegs und ich muss zugeben, dass mich die modernen Billetautomaten kurz vor ein kleineres Problem stellen würden, wenn ich mit ihrer Hilfe zu einem Billet kommen möchte.
Die Geschichte von Anna H. ist gar nicht so abwegig. Als kleiner Junge ging ich mit meinem über 70-jährigen Grossvater auf dem Gehsteig einer vielbefahrenen Strasse. Er kam aus einem kleinen Bauerndorf und hatte keine grosse Erfahrung mit Verkehrsampeln. Am Fussgängerstreifen angelangt war die Ampel auf rot. Er blickte nach links und nach rechts und wollte einfach über die Strasse laufen ohne auf die Ampel zu achten. Als kleiner Junge musste ich ihn zuerst über den Zweck der drei Lichter aufklären - und er war nicht eben senil.
Hans Georg Lanzendorfer, Anmerkung zur Geschichte

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