Ulf Martens litt an einer unbekannten Schreibkrankheit. Er machte keine der bei Legasthenikern üblichen Fehler wie Buchstabendreher oder Auslassungen, sondern setzte willkürlich beliebige Buchstaben selbst in völlig gebräuchliche Wörter. Dieser Makel machte nicht einmal vor seinem eigenen Namen halt. So war es schon mehrmals vorgekommen, dass er bei der Unterschrift unter einen neuen Pass oder beim Unterschreiben von Bankschecks Alp Kortemp statt Ulf Martens geschrieben hatte und der Dokumentenfälschung oder des Schecksbetrugs bezichtigt wurde. Ulf Martens konnte sich noch so sehr konzentrieren – Kuli oder Füller schienen sich völlig selbstständig zu machen und seinem Willen nicht zu unterliegen. In der von seinem Vater ererbten Firma fiel seine Schreibkrankheit nicht weiter auf, weil er eine Sekretärin hatte, der ihr seine Geschäftsbriefe diktieren konnte. Und seine Unterschrift hatte er durch langes Üben endlich so schwungvoll und unleserlich hingekriegt, dass einzelne Buchstaben nicht mehr zu erkennen waren. Doch in seinem Privatleben verfolgte ihn sein Schreibmakel auf Schritt und Tritt. Seine Freundin lag ihm beständig in den Ohren, warum Ulf ihr nie schreibe, nie ihre Briefe beantworte, nur telefoniere, aber keinerlei schriftliche Spuren hinterlasse, was er nur zu verbergen habe. Ihre Vorwürfe gipfelten in der Frage, ob er überhaupt schreiben könne.
Die Anschaffung eines Computers brachte nicht die erhoffte Abhilfe, denn der Krankheit war es egal, ob die falschen Buchstaben per Hand oder durch Tastendruck erzeugt wurden. So ging es nicht weiter. Ulf Martens begab sich in seiner Verzweiflung in die Behandlung einer bekannten psychologischen Koryphäe. Dr. Lettura hatte schon so manche in den Tiefen des Unterbewusstseins verborgene Lese- und Rechtschreibschwäche geheilt, doch ein mysteriöser Fall wie der von Ulf Martens war auch ihm noch nie untergekommen.
Dr. Lettura führte langwierige Versuchsreihen durch, bis er endlich herausgefunden zu haben glaubte, worin die Ursache der unbekannten Schreibkrankheit zu suchen war.
„Hatten Sie als Kind Mühe, das Alphabet auswendig zu lernen?“, befragte er seinen Patienten.
„Ja, hatte ich“, erinnerte sich Ulf Martens, „sehr große sogar. Meine Eltern hätten mich prügeln können, aber das Alphabet wollte einfach nicht in meinen Kopf.“
„Und haben sie Sie geprügelt?“, forschte Dr. Lettura weiter.
„Das nicht. Meine Eltern haben mich nie geschlagen, aber sie haben mir bei jeder Gelegenheit zu verstehen gegeben, wie enttäuscht sie von ihrem Sohn waren, der nicht dazu imstande war, sich lächerliche 26 Buchstaben einzuprägen“, sagte Ulf Martens.
„Sie haben das Alphabet dann aber doch gelernt?“, wollte Dr. Lettura noch wissen.
„Ja, zum Glück, aber es hat Jahre gedauert“, sagte Ulf Martens.
„Eher zu Ihrem Unglück“, sagte Dr. Lettura. „Die langen vergeblichen Lernversuche müssen ein traumatisches Erlebnis für Sie gewesen sein, das Sie bis heute verfolgt. Sie wollen noch heute Ihren Eltern gefallen und deshalb sagt Ihr Unterbewusstsein pausenlos das Alphabet auf in der Hoffnung, Ihre Eltern würden Sie dafür loben. Leben Ihre Eltern übrigens noch?“
„Nein, leider nicht“, sagte Ulf Martens.
„Das war mir klar“, führte Dr. Lettura weiter aus. „Der Umstand verfestigt noch Ihr Schreibtrauma, weil Ihnen Ihre Eltern keine Absolution mehr für ihr kindliches Versagen erteilen können. Und so sind Sie dazu verurteilt, das Alphabet immer weiter aufzusagen. Damit ist ihr Unterbewusstsein so sehr beschäftigt, dass Sie, wenn Sie schreiben, jeweils den Buchstaben des Alphabets einfügen, an dem Sie beim unbewussten Aufsagen gerade angekommen sind.“
„Sie sagen „verurteilt“, fragte Ulf Martens bedrückt, „soll das heißen, dass eine Heilung nicht möglich ist?“
„Ich will nicht sagen: unmöglich, aber schwierig wird es schon werden, die Automatik des Unbewussten zu durchbrechen. Aber ich habe da schon eine Idee“, warf sich Dr. Lettura in die Brust.
„Und die wäre?“, fragte Ulf Martens.
„Wir müssen das Unterbewusstsein durch hartes Training überlisten“, sagte Dr. Lettura.
„Sagen Sie schon, was soll ich machen? Ich bin zu allem bereit“, sagte Ulf Martens.
„Sie müssen das Alphabet noch einmal lernen, aber anders, langsamer und mit eiserner Disziplin. Sie müssen es so in die Länge ziehen, dass es sich nicht mehr in Ihre geschriebenen Wörter mischen kann. Nicht a,b,c,d,e … sondern a – 1- 2 - 3 – 4 - 5 - 6 - 7 – 8 - 9 – 10 - 11 - 12 - 13 - 14 - 15 – b – 1 - 2 - 3 usw.
Jeweils 15 Sekunden zwischen den einzelnen Buchstaben. In den Pausen zwischen den Buchstaben können Sie dann schnell das schreiben, was zu schreiben ist. Ich weiß, das ist mühsam und erfordert äußerste Disziplin, aber mit meiner Hilfe schaffen Sie es schon“, machte Dr. Lettura Ulf Martens Hoffnung.
Einen gewissen Erfolg konnte man Dr. Lettura nicht absprechen. Es gelang ihm immerhin, Ulf Martens altes Schreibtrauma in gewissem Umfang abzubauen. Doch hatte dieser sich im Gegenzug zwei andere eingehandelt.
Ulf Martens, der bisher ziemlich gelassen durchs Leben gegangen war, schaute neuerdings beständig auf die Uhr, hielt peinlich genau Termine und Verabredungen ein und rügte Mitarbeiter, wenn sie sich geringfügig verspäteten. Es wurde sogar gemunkelt, er habe sich eine Stoppuhr angeschafft, um sich und andere noch genauer kontrollieren zu können. Aber immerhin hatte er es geschafft, die Pausen zwischen den Buchstaben des Alphabets bis auf geringfügige Abweichungen von 0,15 bis 0,25 Sekunden einzuhalten. Diese Pausen reichten für kurze fehlerfreie Kartengrüße an die Freundin aus, die endlich glaubte, dass ihr Ulf, wie sie lange befürchtet hatte, wohl doch kein Analphabet sei.
Doch dann bemerkte Ulf Martens zu seiner großen Betrübnis beim Addieren und Subtrahieren in der Firma, dass sich immer wieder Zahlen in seine Kolonnen einschlichen, die er weder gedacht noch ausgerechnet hatte. Dennoch war Ulf Martens zuversichtlich. Dr. Lettura würde ihn von der Zahlenschwäche heilen, so wie er ihn schon von der Schreibschwäche geheilt hatte. Bis es so weit war, konnte er das Rechnen ganz der Buchhaltung überlassen.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.10.2010.
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