Karl-Heinz Franzen

Das Depot. Ein Fragment

War heute beim Zahnarzt. Reine Routine. Wollte mir den Stempel holen für das Scheckheft. Reine wirtschaftliche Überlegung. Ohne Stempel weniger Zuschuss … oder gar keine Kohle von der Kasse. Wenn mal was ist, was richtig was kostet. So drohen die Gesundheitsapostel. Habe sowieso keinen eigenen Zahn mehr sichtbar. Total verbrückt und verkront. Stammt noch aus besseren Zeiten. Muss jetzt halten bis dann. Bis dann? Ja, bis zum Abmarsch. Wer jetzt den Freiheitsdrang verspürt und umsetzt, aus dem Kauwerkzeug auszubrechen, hinterlässt eine Lücke. So, wie ich vielleicht. Früher oder später. Obwohl, die Zahnlücke könnte größer sein.

 

Der Zahnarzt wirkte auf mich schon etwas älter. Sehr nett, sehr erfahren. Ist zufrieden mit der Kunst seiner Vorgänger in meinem Mund. Bin zum ersten Mal bei ihm. War nach dem Umzug noch bei keinem Arzt. Auch die Sprechstundenhilfe bemüht sich sehr um mich. Alles soweit in Ordnung. Da gibt es für mich nicht viel zu tun. Nur eine kleine Entzündung am Zahnfleisch. Dort hinten. Nicht weiter tragisch, meint er, der Zahnarzt, mir sagen zu müssen. Er setzt mir mit einer Spritze, die mit einem etwas dickeren Rohr an der Spitze geschmückt ist, am Backenzahn mit geübtem Druck unter das Zahnfleisch ein Depot. Ein Depot, so nennt er diesen Akt der Zahnerhaltung. Ich werde wiederkommen. So im nächsten Jahr, wenn nichts Außergewöhnliches passiert. Auf Wiedersehen dann.

 

Mit dem Depot trage ich Zahnarztgeschmack mit nach Hause. Ich soll jetzt zwei Stunden nicht spülen. Wieso auch. Ich spüle nur morgens. Der Morgen ist schon gelaufen. Mein Weib lacht. Damit ist auch Essen und Trinken gemeint. Nun gut. Dann esse und trinke ich jetzt zwei Stunden nichts. Hatte ich sowieso nicht vor. Doch jetzt, wo ich so richtig nicht soll, da täten mir ein Stück Schwarzbrot mit luftgetrocknetem Schinken und ein Schluck Rotwein gut. So einen fruchtigen Lübecker Rotspon. Vielleicht noch ein Stück Camembert? Diese Gedanken werde ich die nächsten 100 Minuten mit mir herumtragen.

 

Was ist das? Es ist mir, als ob das Depot sich jetzt bewegte. Es kribbelte ein wenig. Es kitzelte ein wenig. Jetzt schon in der Nähe meines rechten Ohres, das nunmehr direkt in der Nähe des Depots angesiedelt zu sein scheint. Da es mich auch unterhalb der Kniescheibe juckt, messe ich dem Kribbeln am Ohr … Ne, jetzt kribbelt es schon über dem Ohr. Nicht mehr unter dem Ohr, sondern … mitten auf dem Kopf. Jetzt ist es weg, das Kribbeln. So als hätte sich das Kribbeln aus der Kopfhaut hinausgeschossen ins Freie oder … jetzt kribbelt es hinter den Augen.

 

Ein Blick in den Spiegel zeigt mir, dass beide Augen völlig identisch blau wie imm … das darf doch wohl nicht wahr sein … schaut mich doch so ein Wurm direkt aus meiner Pupille des rechten Auges an, nickt mit seinem braunen Kopf und … das ist kein Wurm, das ist eine Made, durchzuckt es mich. Meine Zunge fährt automatisch über die Entzündung am Zahnfleisch. Sie ist weg. Wenigstens etwas Gutes, denke ich. Derweil hat sich die Made mit Kribbeln aus der Pupille verabschiedet und zwickt mich hier … kribbelt mich dort … und dort … und hier… und überall …

 

Was soll ich noch viel schreiben ... Es ist absolut wahr. Ich schwöre es. Ich fühle mich wie neugeboren. Seit mich das Viech kräftig durchgezwickt und durchgekribbelt hat, fühle ich mich sauwohl. Dann verließ es mich auf natürlichem Wege mit meiner Flüssigkeit durch den körpereigenen Abflusshahn. Ich konnte die Made nicht mehr retten. Aufstehen, Unterhose hochziehen, auf das gelbe Wasser schauen und … da ich sie so bewusst betrachtet erst richtig bemerkte, als die Spülung schon lief, schwamm sie, erstaunlich, dachte ich noch im Abschiednehmen, sie hat nicht einmal zugenommen, mit diesem Wasserschwall fort. Nun ja. Offensichtlich tat sie dieses freiwillig, denn sie hatte, so wie ich mich fühlte, ihre Arbeit getan und würde, vielleicht wie die Lachse, sich an ihren Laichplatz zurückkämpfen, oder?!

 

Flugs machte ich mich noch einmal auf den Weg zu meinem neuen Zahnarzt. Der schwarze Wagen vor der Praxistür verhieß nichts Gutes und die verheulten Augen der Sprechstundenhilfe ließen mich meine Frage vergessen.

 

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28. Oktober 2010

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