Diethelm Reiner Kaminski

Trittbrettfahrer



Jeder Raucher kennt die Warnungen auf den Zigarettenschachteln vor Krebs, Herzinfarkt, Siechtum  und frühem Tod. Der Raucher ignoriert sie oder verbirgt sie in Etuis. Abgehalten haben sie vermutlich noch keinen einzigen Raucher von seinem Laster. Eine Gegenoffensive mit Slogans wie „Rauchen ist gesund“ oder „Nikotin verlängert ihr Leben“ hat die Raucherliga wohlweislich nicht gewagt. Das wäre zu plump und unglaubwürdig.
Neuerdings liegen in unserer Stadt überall Handzettel herum – in Bussen und Bahnen, in den U-Bahnstationen, auf Parkbänken, selbst auf den öffentlichen WCs . Die Slogans auf ihnen sind mit denen auf den Zigarettenpackungen fast identisch. Fast. Nur das Wort ‚Rauchen“ ist durch das Wort  ‚Küssen‘ ersetzt worden. ‚Küssen gefährdet die Gesundheit‘; ‚Küssen schadet ihnen und anderen‘; ‚Küssen kann Lippenkrebs hervorrufen‘; ‚Küssen ist tödlich‘usw.
Aus den Zetteln geht nicht hervor, wer hinter der Kampagne steckt. Sind es die Raucher, die in einem Akt der Verzweiflung heimlich den Aufstand proben? Ist es eine Sekte, die der Liebe den Kampf angesagt hat? Auf der Rückseite der Handzettel wird eine Großkundgebung für den ersten Samstag im November angekündigt. ‚Wir kämpfen gemeinsam für ein gesundes Miteinander. Wir leisten freiwilligen Kussverzicht. Unterstützen Sie die weltweite Kampagne. Zeigen Sie am 6. November auf dem Rathausplatz mit einem Heftpflaster über dem Mund, dass sie sich dem Kussdiktat nicht länger beugen.‘
Meistens achte ich kaum auf meine Mitmenschen, wenn ich – selten genug - durch die Innenstadt haste. Heute beobachte ich sie genauer, besonders die Pärchen. Viele haben die Handzettel aufgehoben, machen nachdenkliche Gesichter. Sich küssende Menschen sehe ich nicht. Keinen einzigen. Manche halten sich an einer Zigarette, aber niemand sich an den Lippen eines anderen fest. Die Kampagne scheint Wirkung zu zeigen.
Noch rechtzeitig vor Weihnachten  lässt sich eine überaus positive Bilanz ziehen und bewahrt die Menschen vor sentimentalen Kussexzessen unterm Christbaum.
Die Kampagne hat die Menschen wachgerüttelt, ihnen vor Augen gehalten, worauf sie sich leichtsinnigerweise eingelassen haben. Die Handzettel haben weitreichende Folgen. Fernsehprogramme mussten geändert, Liebesfilme aus den Kinoprogrammen genommen werden. Der Hugging Day im Januar, der in den Vorjahren starken Zulauf fand, wird ausfallen müssen. Der Kuss-Rekord im Guinnessbuch der Rekorde ist auf Verlangen der EU-Gesundheitskommissarin gestrichen worden. Die Zahl der Eheschließungen ist seit dem Beginn der Kampagne stark rückläufig, der Geburtenrückgang in den nächsten Jahren wird noch dramatischer sein. Dafür sinkt die Zahl der Krankmeldungen und das Ausmaß der Dienstausfälle.
Das Rätsel, wer die Antikuss-Bewegung in Gang gesetzt hat, wurde offiziell nicht aufgeklärt.
Nur ich weiß, wer dahinter steckt. Meine Freundin Chloe. Sie konnte Konkurrenz noch nie ertragen. Zwischen ihren leidenschaftlichen Küssen, die mich fast ersticken, flüstert sie mir ins Ohr: „Die schönste Betätigung auf der Welt habe ich ganz allein für uns reserviert. Wir dürfen uns nur nicht erwischen lassen. Halte noch zehn Minuten durch. Du kannst dich gleich von mir erholen. Ich muss heute noch zehn Kartons Handzettel unter die Leute bringen. Sie dürfen nicht rückfällig werden. Das ertrüge ich nicht.“
 


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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.10.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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