Helmut Wurm

Sokrates und die Schule und Schulleitung ohne Profil

  

Sokrates hat von einer größeren Stadt gehört (wo sie liegt, ist unwichtig, das kann im Norden, Süden, Westen oder Ostens sein), in der Schulen zusammengefasst werden sollen und in der neue, zahlenmäßig geringere Schulen dann prägnantere unterschiedlichere Profile entwickeln sollen. Das wird in dieser Stadt insofern als nötig erachtet, weil dort bisher unterschiedliche Schul-Profile nicht immer erkennbar waren.

 

Besonders eine Schule hat seit längerem von sich reden gemacht, weil sie zunehmend ein Leistungs-Profil zu Gunsten einer größtmöglichen allgemeinen Beliebtheit aufgegeben hat. Eigentlich nennt sich diese Schule Realschule, gehört also zum Mittelbau des gegliederten Schulwesens, aber was sie wirklich ist, das kann niemand genau sagen. Sie gehört von ihrem Niveau her mehr zur Hauptschulebene, aber von ihrem Selbstbewusstsein und von den Aussprüchen der Schulleitung her könnte man meinen, dass es sich um ein Gymnasium handelt.

 

Diese Schule hat eigentlich den Zusammenlegungs-Prozess ausgelöst, denn sie hat der Hauptschulebene ständig Schüler entzogen, weil Eltern und Schüler gerne ein Zeugnis mit einem anspruchsvolleren Namen bevorzugen, ohne mehr als die Hauptschüler dafür leisten zu müssen. Die Hauptschule, eigentlich ein großzügiger Baukomplex, hat dadurch immer mehr freie Räume und immer weniger Schüler für ein relativ großes Lehrer-Kollegium. Böse Zungen spotten schon, dass die Hauptschule bald für jeden Schüler einen Lehrer zur Verfügung stellen könne. Und das dortige Gymnasium platzt seinerseits aus den Nähten, weil Eltern und Schüler mit ernsthaften Realschul-Ansprüchen sich mehr nach dem Gymnasium orientieren in der Hoffnung, dass dort ein besseres Bildungsniveau als an dieser Wohlfühl-Realschule vermittelt werde. Durch diesen Zustrom von eigentlichen Realschülern konnte das Gymnasium sein früheres anerkanntes Niveau nicht mehr aufrecht halten und viele Lehrer und besonders die Schulleitung waren darüber nicht glücklich.

 

Hier muss also etwas geschehen, aber so lange die Schulleitung dieser erwähnten Realschule noch im Amt ist, ist das schwer.    

 

Natürlich sind nicht alle Lehrer an dieser Real-Schule dafür verantwortlich zu machen, aber hauptsächlich die Schulleitung und ein Teil der Kollegen hat diesen Prozess der Profillosigkeit zugunsten einer allgemeinen Wohlfühl- und Beliebtheitsschule zu verantworten.

 

Gegen diesen Trend einer zunehmenden Profillosigkeit haben sich nun sowohl viele Eltern, andere Schulen und auch die Schulverwaltung zusammengeschlossen und haben sich für eine neue geschärftere Schullandschaft ausgesprochen. Denn anspruchsvolleren Eltern fehlt bisher die öffentliche Anerkennung der Abschluss-Zeugnisse dieser Beliebtheits-Schule, den anderen Schulen laufen viele Schüler davon, weil sie an dieser Beliebtheits-Schule ein leichteres Lernen erhoffen und die Schulverwaltung will endlich die Querelen im Untergrund beseitigen.

 

Offen ist bisher geblieben, was speziell aus dieser Schule ohne Profil werden soll, mit welchen Schulen sie zusammengeführt werden oder welches Eigen-Profil von ihr verlangt werden soll. Dazu ist von der Schulaufsicht zu einer größeren Konferenz mit Elternvertretern und Vertretern anderer umliegender Schulen eingeladen worden. Sokrates hat von dieser Konferenz gehört und hat sich mit Zustimmung der Schulverwaltung auch angemeldet, hat aber beschlossen wenig zu sagen und möglichst nur zuzuhören. -  Ob es dabei bleiben wird, wird sich zeigen.  

 

Die Konferenz ist auf den Nachmittag angesetzt. Aber Sokrates möchte sich schon vorher einen Eindruck verschaffen, möchte mit einigen Lehrern und Schülern sprechen, besonders möchte er die Schulleitung kennen lernen und hat sich deswegen bereits am Vormittag in diese Wohlfühl- und Beliebtheitsschule Schule begeben.  

 

Sokrates trifft zuerst auf einige Schüler. Er fragte sie, wie sie sich hier fühlen, ob sie gerne hier Schüler sind.

 

Ein erster Schüler: Ich bin gerne hier. Ursprünglich sollte ich auf die Hauptschule, so lautete meine Empfehlung nach der Klasse 6 der Orientierungsstufe, aber meine Eltern meinten, hier käme ich auch gut mit. Und das stimmt… Hier ist es nicht schwer…

 

Ein zweiter Schüler: Hier ist es Klasse! Der Schulleiter ist so freundlich zu uns und auch zu unseren Eltern. Die sind ganz begeistert von der Schule. Wir sollen uns hier wohl fühlen, das ist der Schulleitung das Wichtigste… Und wenn Lehrer zu streng sind oder zu viel verlangen, dann kriegen die einen drüber, dann hält die Schulleitung zu uns.

 

Ein dritter Schüler: Wir machen hier einen sehr modernen Unterricht. Wir arbeiten viel in Gruppen und oft ohne Aufsicht, besonders im Unterricht der Schulleitung. Wir bekommen z.B. einen Auftrag und dann heißt es, dass wir dafür z.B. 2 Wochen Zeit haben. In dieser Zeit sollen wir weitgehend alleine arbeiten. Das würde unsere Selbstständigkeit im Lernen verbessern… (Der Schüler lächelt verständnisvoll)

Aber in Wirklichkeit scheinen der Rektor bzw. der Konrektor in dieser Zeit lieber etwas anderes machen zu wollen… Und wir dürfen, ja wir sollen sogar viel mit dem Internet arbeiten, in der Schule und zu Hause…

 

Sokrates:  Habt ihr denn so viele Computer in der Schule? Und überprüft denn niemand, ob ihr wirklich Eigenes, selbstständig Produziertes und nicht einfach nur gute Beiträge aus dem Internet herunter geladen habt?

 

Ein vierter Schüler:  Wir haben in jedem Klassenraum einen Computer. Da dürfen wir auch in den kleinen Pausen und Regenpausen surfen. Das ist an dieser Schule schwer cool… Und wenn wir unsere Projekte dann vorstellen, dann nehmen viele Lehrer und besonders die Schulleitung an, dass wir alles selber verfasst und zusammengestellt haben… (mit einem feinen Lächeln) Es wird nicht nachgefragt, wo wir das Präsentierte her haben... Hauptsache, es ist interessant und klingt gut… Hier macht das Lernen Spaß und das will unsere Schulleitung auch als Hauptziel… Anstrengungen, Stress und Anforderungen kämen noch früh genug im Leben…

 

Ein fünfter Schüler: Ich bin eigentlich auch gerne hier… Ich gehe hier auf diese Schule, weil ich in der Nähe wohne… Aber ob ich später auf dem Gymnasium gut mitkomme, weiß ich nicht.

Man hört von verschiedenen Schülern, dass dort das Niveau deutlich höher ist, besonders in Fremdsprachen und Naturwissenschaften. Ich soll dann Nachhilfe bekommen, meinen meine Eltern, wenn ich nicht den Anschluss packe…

 

Ein sechster Schüler (fragt Sokrates): Kommst Du auch von einer Wohlfühl-Schule? Oder bist Du einer jenen altmodischen Lehrer, die streng sind und viel verlangen? Das Leben ist doch Spaß und die Schule soll deswegen auch hauptsächlich Spaß machen…

 

Sokrates: Ich fürchte, bei meinen Gesprächen und Fragen haben sich nicht alle wohl gefühlt…

Sicht-Wohl-Fühlen sollte nach meiner Ansicht nicht das Hauptziel der Schule sein. Da werden den Schülern wichtige Erfahrungen vorenthalten, nämlich Sich-Mühen, Sich-Mehr-Zutrauen-Lernen und auch das Verkraften von Enttäuschungen…   

 

(Dann nach einer Denkpause)

Wenn ich zusammenfasse, was ihr eben angedeutet habt, dann seid ihr zwar gerne hier, aber ihr denkt auch darüber nach, ob ihr genügend lernt… Das ist eine wichtige Überlegung, denn Schule soll ja fürs Leben vorbereiten… Ich kann euch nur darauf hinweisen, dass nicht alles, was man lernen muss, macht Spaß. Man muss auch sich anstrengen gelernt haben, ohne dass es Spaß macht… Und wenn man sich anstrengt, dann fühlt man nach einiger Zeit, dass man mehr kann, als man vermutet hat. Und das macht dann verdiente Freude… Aber ich möchte jetzt mal kurz zu eurer Schulleitung.

 

Damit geht Sokrates zum Direktorial-Zimmer und klopft höflich. Der Schulleiter öffnet und

Sokrates fragt, ob er eintreten darf.

 

Der Schulleiter: Ja natürlich, sehr gern (er führt Sokrates freundlich lächelnd in das Zimmer. Anwesend ist auch der junge Konrektor). Sie sind sicher ein ausländischer Kollege, der von unserem neuen Schul-Konzept einer Wohlfühl-Schule gehört hat und sich informieren möchte. Ich führe Sie gerne durch unsere Schule… Sie werden lauter zufriedene, glückliche Gesichter sehen.

 

Dann erkennt er den Gast). Ah, welche freudige Überraschung für mich! Ich vermute, Herr Sokrates. Sie sind uns heute als interessierter Beobachter angekündigt worden. Mit Ihnen wird ein kompetenter Gast unter uns weilen. Sie werden sicher in Ihrer Heimat viel von uns hier  berichten.

 

Es geht heute Nachmittag darum, einige unverbesserliche Kritiker abzuwehren, die wieder die Leistung höher als die Lernfreude stellen wollen, die die alte Schüler-Angst in die Schulen wieder zurückholen wollen, die die Lehrer über die Schüler stellen wollen… Sie merken schon, dass diese Leute in unserer modernen Zeit keine Chance haben, jedenfalls nicht an unserer, ich will sagen an meiner Schule… Mein oberstes Ziel ist, dass sich die Schüler wohl fühlen, dass sie schon mit freudiger Erwartung morgens in die Schule gehen, dass die Schule zur zweiten Heimat für sie wird… Und jeder Schüler soll die Chance haben, einen höheren Abschluss zu erreichen, jeder Schüler trägt nach meiner Ansicht bereits mindestens den Realschulabschluss in der Schultüte, wenn er eingeschult wird. Das meinen Sie doch auch?

 

(Danach schaut er Sokrates erwartungsvoll an, so als wenn er lauten Applaus erwarte. Aber

Sokrates hält sich mit einer Bemerkung zurück. Das versteht der freundliche Schulleiter als stumme Zustimmung und fährt vertraulicher fort)

 

Die Eltern unterstützen mich ebenfalls. Sie melden die Schüler in Scharen bei uns an. Sie wissen, dass wir hier in der Schulleitung die Marschrichtung vorgegeben haben: Wohlfühlen geht vor Wissen, locker vor Leistung, Spaß vor Stress… Das Wissen, was die Schüler später im Beruf benötigen, das mögen die Unternehmen ihnen später gezielt beibringen. Wir legen nur die einfachen Grundlagen dazu…

(dann noch vertraulicher zu Sokrates)

 

Ich könnte es auch gar nicht ertragen, wenn jemand nicht mit mir zufrieden wäre, sei es ein Schüler, ein Elternteil oder ein Vorgesetzter der übergeordneten Schulverwaltung. Das erste, was ich mache, wenn mir ein neuer Mensch begegnet, ist, dass ich mich bemühe, dass wir ein gutes Verhältnis bekommen. So wie mir Wohlfühlen in der Schule das Wichtigste ist, so ist mir

im Privatleben stets ein gutes Verhältnis mit meinen Mitmenschen wichtig… Das sind meine Leitlinien.

 

Sokrates (antwortet wieder nicht, aber er denkt): Wer es allen recht machen will, der macht es keinem recht… Und wer bei allen beliebt sein will, wird von keinem geachtet.

 

Der junge Konrektor (mischt sich ebenfalls vertraulich ein): Der Max, äh Entschuldigung, ich meine der Herr Schulleiter (wir sind natürlich per Du unter uns) hat völlig Recht, wenn er sagt, dass die Firmen später den Auszubildenden das gezielt beibringen sollen, was sie für den Beruf benötigen. Und dasselbe gilt für die Universitäten. Die sollen jeden zulassen, der studieren will,  unabhängig von seinem Schulabschluss. Die Unis sollen für jede Fachrichtung eben Vorkurse anbieten, die das vermitteln, was man für das jeweilige Studium benötigt.

 

Ich gehe in meinen Konsequenzen daraus noch weiter als der Max, äh, der Schulleiter. Ich meine, heutige Schüler brauchen deswegen und weil das jeweilige Wissen sich ständig wandelt und nach 10 Jahren in der Regel schon überholt ist, überhaupt nicht mehr viel an Grundlagen zu lernen. Sie müssen hauptsächlich nur noch in der Schule gelernt haben, wo sie was und wie nachschlagen und nachlesen können. Und dabei stehen Informationen durch das Internet an vorderster Stelle. Die Arbeit damit vermitteln wir hier intensiv. Der Rest ist nicht so wichtig. Eigentlich könnten sogar Zeugnisse weitgehend entfallen…

 

Natürlich bemühen wir uns, dass nach außen unsere Schule einen gewissen Leistungscharakter vortäuscht, aber im Inneren… Das habe ich Ihnen ja eben angedeutet…  

(Jetzt noch vertraulicher)

Ich muss mit meiner pädagogischen Einstellung vorsichtig sein, denn ich möchte irgendwann auch einmal eine Schule leiten und bei den heutigen Bedingungen dazu muss man rundum vorsichtig und unangreifbar sein und einen guten Eindruck machen. Denn wer weiß, welche altmodischen Köpfe bei meiner Bewerbung mit entscheiden werden. Wenn ich dann aber Schulleiter bin, mache ich aus meiner Schule eine ganz fortschrittliche Schule in meinem Sinne. (Und damit lacht er verschmitzt).

 

Sokrates (kann sich jetzt eine Bemerkung nicht mehr verkneifen): ich gebe zu, dass die Lehrpläne teilweise zu viel und zu vielfältiges Wissen verlangen. Aber einen guten Wissens-stock benötigen die Schüler doch für das spätere Leben, denn nicht alles Wissen ändert sich nach 10 Jahren. Bankkaufleute benötigen gute Grundkenntnisse in Wirtschaftskunde und in Mathematik, kaufmännische Lehrlinge benötigen gute Grundkenntnisse in Deutsch und im Außenhandelsbereich gute Englischkenntnisse, angehende Krankenschwestern und Arzt-helferinnen benötigen Grundkenntnisse in Biologie, werdende Apothekenhelferinnen benötigen Grundkenntnisse in Chemie… Und alle benötigen als Erwachsene Grundkenntnisse in Erdkunde und Sozialkunde. Nur gelernt zu haben, wo man was wo und wie nachzuschlagen hat, reicht nach meinen langen Erfahrungen nicht aus.

 

Der junge Konrektor (lachend): Das kann man alles in der Berufsausbildung nachholen. Und dieses Nachholen in Form von Crash-Kursen geht schneller, als Sie denken, wenn man jung ist. In wenigen Wochen ist man auf dem nötigen Stand. Die werdende Krankenschwester und die Arzthelferin lernen schnell die notwendige Biologie und der Banklehrling die notwendige Mathematik… (und dann wichtig tuend)

Je weniger man der Jugend in den Schulen die Freude am Lernen durch hohe Anforderungen verdirbt, desto mehr sind sie bereit, als Auszubildende und Erwachsene zu lernen. Das sind die neuesten  Erkenntnisse aus der Sozial-Psychologie.  

 

Sokrates (leise vor sich hin): … Oder wer nicht in der Jugend lernen gelernt hat, dem fällt das Lernen als Erwachsener schwer…

 

Der Schulleiter (bemerkt hier Auffassungs-Unterschiede und sagt deswegen gemäß seiner Art schnell vermittelnd): Sie sehen, wir sind hier sehr fortschrittlich, was aber noch nicht alle im Schulwesen Tätige sind. Heute Nachmittag werden Sie sehen, wie wir überzeugen werden. Die anderen Schulen in der Umgebung sollen sich unserem Wohfühl-Stil anschließen, dann kommt das Schulsystem hier wieder ins Lot… Und Sie werden sehen, wie mich die Schulbehörde unterstützt. Ich habe mit dem dortigen zuständigen Referenten immer ein gutes Verhältnis gehabt…

Also bis nachher!

  

Draußen auf dem Gang trifft Sokrates einige Lehrer. Er spricht sie an und einige Antworten seien hier wiedergegeben.

 

Ein älterer Lehrer (etwas spöttisch): Der Chef, der versteht sich nicht als ein Schulleiter, sondern als Entertainer auf der öffentlichen Schul-Bühne, der immer auf Applaus aus ist. Wenn irgendwo eine Person erscheint, die wie ein Reporter aussieht, weil sie einen Notizblock in der Hand hat, dann wirft er sich sofort in die Brust und erlaubt dieser Person ein Interview in seinem Büro – auch wenn es sich nur um den Stromzähler-Ableser handelt... Und wenn es irgendwo klickt wie ein Fotoapparat-Verschluss, dann rennt er sofort auf den Gang und stellt sich hin… Aber man darf ja nichts sagen, sonst wird man von ihm schikaniert, immer lächelnd wie ein Chinese schikaniert…  

 

Ein Musiklehrer: Wenn der Schulchor wegen eines gut besuchten und gelungenen Schüler-Konzertes in die Zeitung soll und der Chef sieht den Reporter kommen, dann stellt er sich sofort in die Mitte des Bildes, obwohl er nicht das Geringste zum Gelingen des Konzertes beigetragen hat…

 

Ein Sportlehrer: Und wenn ich als Sportlehrer meine Gewinner-Schulmannschaft  im Bezirks-Schulfußball in die Zeitung bringen will, dann stellt er sich einfach mit dem Ball in der Hand in die Mitte der Mannschaft, so als wenn er entscheidend mitgespielt hätte…    

Eine junge Lehrerin: Unser Chef ist ja so lieb zu mir, der hilft mir wo er kann. Er sagt immer, hübsche junge Lehrerinnen wären ein wichtiges Aushängeschild für eine Schule, so wie junge hübsche Gesichter auf Verkaufs-Prospekten die Kunden anzögen… Ich kann nur Gutes über ihn sagen. 

 

Ein anderer Lehrer: An der Schule und bei dem Chef bin ich richtig. Meine Devise war immer „leben und leben lassen“ und das kann ich hier gut. Ich habe mich nie besonders angestrengt und ich habe mich immer so verhalten, dass ich mit den Schülern und Eltern gut auskam. Was interessieren mich Schulniveau, Leistungen und Schulprofil…

 

Ein weiterer Lehrer: Ich gehöre zur Gruppe der entschiedenen Schulreformer. Schule muss völlig anders werden. Vor allem muss jeder Stress, jede Anspannung, jede Mühe aus dem Schulalltag verschwinden. Schule muss ein Ort des Wohlfühlens, des Glücks, der Harmonie werden. Das mühevolle Lernen, das Leistungsdenken müssen ein Ende haben. Ich unterstütze unseren Schulleiter mit seiner Wohlfühl-Schule in allem. Das ist die Zukunft des Schulwesens.

 

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Es ist Nachmittag und die Konferenz hat begonnen. Es sind neben den Lehrern Vertreter der Eltern, der anderen Schulen und der übergeordneten Schulbehörde anwesend – und eben auch Sokrates. Es ist nicht unbedingt notwendig, den Konferenzverlauf und alle geäußerten Beiträge  protokollarisch wiederzugeben. Nur einige Argumente seien als Schlaglichter mitgeteilt:

 

Ein anspruchsvoller Kollege (heftig zum Schulleiter): Sie sollten diese Schule nicht nur im Sinne einer Wohlfühl-Schule verwalten, sondern zu einer anerkannten Realschule mit Niveau wieder umgestalten…

(Der Schulleiter lächelt nur freundlich und unberührt)

 

Der Schulleiter der Hauptschule: Mit ihrem billigen Konzept einer Wohlfühl-Schule nehmen Sie uns immer mehr Schüler weg und bringen allgemein die ganze Schullandschaft hier aus dem Gleichgewicht. Hat das denn die Schulaufsicht nicht bemerkt? Wenn ja, weshalb hat sie nichts dagegen unternommen?

(Der Schulleiter lächelt nur freundlich und unberührt)

 

Der Vertreter der Schulbehörde: Wir haben das wohl bemerkt. Aber den Eltern kann man keinen Vorwurf machen. Die meisten Eltern wählen verständlicherweise diejenige Schule, die den nominal höherwertigeren Abschluss mit weniger Lern-Aufwand anbietet. Das ist natürlicher Eltern-Egoismus. Und diese Eltern sind verständlicherweise einer solchen Schule sehr dankbar.

Hier hilft nur eine generelle Neuordnung und deswegen sitzen wir ja hier.

(Der Schulleiter lächelt nur freundlich und unberührt)

 

Ein Vater: Ich bin Psychotherapeut und mir fällt auf, dass Sie immer nur lächeln, bei jeder Kritik sogar noch mehr lächeln. Können Sie überhaupt anders reagieren als nur lächeln? Oder fühlen Sie sich so sicher, dass alle anderen außer ihnen gewissermaßen nur irrende Menschen sind? 

(Der Schulleiter lächelt nur freundlich und unberührt)

 

Eine Mutter: Ich bin so froh, dass sie so großen Wert auf eine Wohlfühl-Schule legen. Meine Tochter ist sehr sensibel und sie könnte überhaupt nicht in einer anderen Atmosphäre lernen.

Ich danke Ihnen für dieses Konzept.

(Der Schulleiter lächelt sehr freundlich und ist glücklich und gerührt)

 

Der Vertreter der übergeordneten Schulbehörde:  

Wir haben uns schon im Vorfeld häufig überlegt, was hier organisatorisch zu machen sei, um diese unbefriedigende Situation zu bereinigen. Es kann so nicht weiter gehen, dass eine Schule keine Rücksicht auf die umliegenden Schulen nimmt, die zumindest ein gewisses abgestuftes Profil anstreben. Ganz ohne Profil und Profil-Stufungen geht es nicht, wenn auch über zu viele Stufungen derzeit eine heftige wissenschaftliche Diskussion geführt wird. Stufungen bedeuten Orientierung für die Eltern, die Schüler, die Wirtschaft und die Universitäten. Und lernen ohne Mühe und ohne Leistungsziel ist gegen die Erkenntnisse der Lern-Psychologie.

 

Wir haben in der übergeordneten Schulbehörde deswegen beschlossen, dass hier ein neues Schulverteilungs-System und Stufungs-System eingerichtet wird. Die bisherige Realschule hier, die die Hauptschule infolge permanentem Schülerabzug fast existenz-unfähig gemacht hat, wird mit der Hauptschule zusammen gelegt. So entsteht eine neue, starke Hauptschule, die sich die Option bezüglich eines anerkannten Aufbauzweiges zum Realschulabschluss offen halten kann. Das Gymnasium soll seine Ansprüche steigern, um wirklich ein anspruchsvolles Profil entwickeln zu können. Und dazwischen wird es eine neue mittlere Schule geben - wie sie heißt ist noch offen -, die die Aufgaben einer anspruchsvollen Realschule wahrnehmen und dieses Niveau auch behalten soll.

 

Dem Schulleiter der bisherigen Wohlfühl-Schule bieten wir den vorzeitigen Ruhestand unter Zahlung der vollen Bezüge an, denn es ist uns nicht sicher, ob er an einer anderen Schule, welche es auch sein möge, nicht wieder seiner Konzeption erliegt, allen gefallen zu wollen. Wir fürchten, dass er auch anderswo kein anspruchsvolles Profil aufbauen wird. Zu einem solchen anspruchsvollen Profil gehören aber Schulleiter mit Ecken und Kanten… Wir hoffen, der hiesige Schulleiter freut sich über unser Angebot.

 

Der bisherige Konrektor ist noch zu jung für eine vorgezogene Pensionierung. Sein Idealismus

wird sicher an einer kleinen Schule mit einem speziellen Profil nützlich sein. Wir schlagen ihm

eine Stelle in der Leitung einer kleinen Sonderschule vor, in der Schüler, die sehr ausgeprägte Lernhemmungen haben, geduldig zu einem Minimalbestand an Kompetenzen und Fertigkeiten

hingeführt werden. Bei diesen Schülern wäre ein großer Erfolg erreicht, wenn sie wüssten, wo man was und wie nachschlägt und wie sie mit dem Computer umgehen können. Wir würden uns freuen, wenn er dieses Angebot annimmt.

 

Eine Mutter (außer Fassung, ruft entsetzt): Wie soll dann meine Tochter, die sich doch beim Lernen so schwer tut, ohne größere Anstrengungen einen höheren Abschluss erreichen? Ich bin verzweifelt. Und so wie mir wird es vielen Eltern gehen…

 

Der Leiter der Wohlfühl-Schule (lächelt nicht mehr, sondern stammelt, ebenfalls völlig außer Fassung): Ich hatte mich doch immer um ein gutes Verhältnis mit der Schulaufsicht bemüht und glaubte das auch zu haben... Und jetzt diese Undankbarkeit…

 

Ein Lehrer (murmelt verbissen): Jetzt ist also die bequeme Zeit vorbei… Jetzt heißt es sich umstellen…

 

Damit ist die Konferenz vorbei. Sie lässt Erleichterte, Zufriedene, Hoffnungsvolle, Enttäuschte und Niedergeschlagene nach Hause gehen. Sokrates hat seinen Vorsatz, sich möglichst wenig zu äußern, durchgehalten. Als er aber an dem Vertreter der Schulaufsicht vorbei kommt und gefragt wird, welche Einsichten er von dieser Konferenz mitnehme, da antwortet er ehrlich:

 

Sokrates: Ich vermute, dass es eine  ganze Reihe solcher Wohlfühl-Schulen ohne Leistungs-Profil und solcher Schulleitungen ohne Führungs-Profil in Deutschland gibt. Die Deutschen neigen dazu, von einem Extrem in das andere zu fallen. In früheren Jahrzehnten waren sie führend in der Bildung, hatten aber strenge Schulsysteme, an die sich später die Erwachsenen nur ungern erinnerten. Jetzt streben viele das Gegenteil an und vernachlässigen dabei den Leistungsgedanken. Es gilt, einen ausgewogenen Mittelweg zu finden. Dieser beinhaltet zwar Bemühen um eine möglichst angenehme, zumindest erträgliche Schul- und Lern-Atmosphäre, aber ohne Anstrengungen, Stress und Enttäuschungen geht erfolgreiches Lernen auch nicht. Solch ein Mittelweg benötigt Schulleiter, die Freundlichkeit als auch Durchsetzungsvermögen besitzen, und Lehrer, die sich zu mühen bereit sind. Das konnte man von dieser Schule hier weitgehend nicht behaupten.

 

(Verfasst von discipulus socratei, der als Begleiter des Sokrates auch bei dieser Konferenz dabei war und der auch meint, dass diese Wohlfühl-Schule und ihre Schulleitung ohne Profil kein Einzelfall in Deutschland gewesen ist)

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.11.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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