Helmut Wurm

Sokrates und der Neue-Methoden-Prediger in der Schule

 

 

Sokrates hat von einer Schule gehört, in der neueste lern-methodische Experimente gemacht würden, in der ganz neue Wege des Lehrens und Lernens gegangen würden. Er möchte sich diese Schule natürlich gerne anschauen, denn die unterschiedlichen Lehr- und Lernmethoden und ihre Ergebnisse in der Praxis haben ihn schon seit seiner Zeit im Alten Athen interessiert. Er weiß, dass gute Pädagogen immer auf der Suche nach den jeweils situativ-passenden Lehr- und Lernmethoden sein müssen und er hat immer gefordert, dass sich die menschliche Phantasie  bemühen muss, auf neue Bedingungen und Herausforderungen bei den Lehr- und Lernprozessen zu reagieren und neue passende methodische Formen zu entwickeln.

 

Sokrates ist  froh, dass in Deutschland nach der pädagogischen Theorie-Erstarrung in den Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg dann gegen Ende des 20. Jhs. die damals üblichen Lehr- und Lernmethoden zu hinterfragen begonnen wurden und nach anderen Ansätzen gesucht wurde. Es zeigte sich bei einer Analyse dieser neuen Ansätze aber, dass es sich in den meisten Fällen gar nicht um wirklich neue Methoden, sondern um das Ausgraben und die Reaktivierung von Vorschlägen handelte, die in früheren Jahrzehnten und sogar Jahrhunderten verbreiteter üblich oder auch nur lokal praktiziert wurden. Die Schulgeschichte erwies sich als ein großer Fundus, den man auch bezüglich der Methodenvielfalt gründlich durchsuchen sollte.

 

Natürlich mussten und müssen weiterhin einige dieser alten und dann wieder vergessenen  Methoden für die Gegenwart angepasst werden, aber wirklich Neues war selten. Und es steht zu erwarten, dass alle Methoden, die bisher in der Schulgeschichte bekannt gewesen und praktiziert worden sind, bei bestimmten Gegebenheiten ihre Berechtigung hatten und weiter haben werden. Es geht also um die jeweils richtige Mischung und die jeweils passende Auswahl der Lehr- und Lernmethoden und nicht darum, frühere Methoden generell zu verdammen und prinzipiell durch andere, die dann als neu etikettiert werden, zu ersetzten.

 

Sokrates hat also diese Schule aufgesucht und geht den Hauptgang entlang Richtung Lehrerzimmer und Schulleiterzimmer. Auf dem Gang kommt ihm ein Herr entgegen, der einen auffällig selbstbewussten Gang und Gesichtsausdruck hat und im Arm ein dickes Buch mit der Aufschrift „Neue Methoden im Unterricht“ trägt. Sokrates spricht ihn an, wo er sich für einen Unterrichtsbesuch anmelden könne, denn ihn interessierten die neuen Methoden, die hier erprobt und angewendet würden.

 

Der Herr (ernst-würdevoll-selbstsicher): Da sind Sie gleich an die richtige Adresse bei mir gekommen. Ich bin der Schulleiter und ich bin der Motor, die treibende Kraft für diese neue Methodenrichtung, die diese Schule nun nach so vielen Jahren der methodischen Erstarrung und des methodischen Irrens einschlägt. Wir werfen alles Alte über Bord und unterrichten völlig anders als früher. Alles was früher war, ist falsch und ungeeignet, wir haben jetzt den richtigen Weg gefunden… Kommen Sie bitte in mein Zimmer. Ich werde Ihnen meine Schriften zeigen, die ich gesammelt und teilweise auch selbstverfasst habe… Falls Sie das interessiert.

 

Sokrates (denkt zuerst bei sich): Solche Haltung, solchen Gesichtsausdruck und solche Formulierungen habe ich früher oft bei Missionaren erlebt. Dieser Mann kommt mir wie ein Missionar, aber nicht wie ein flexibler aufgeschlossener Pädagoge vor. (Dann laut zu dem Reform-Schulleiter). Mich interessiert natürlich alles Neue gerade in der Pädagogik…

 

Sie gehen in das Schulleiter-Zimmer. Unterwegs begegnen sie Schülern und Lehrern, die bunte Stifte, Papierrollen, Klebestreifen, Plakate, usw. tragen. Alle Wände sind beklebt mit Plakaten, es ziehen sich sogar Schnüre über die Gänge, an denen wie Wäsche an einer Wäscheleine weitere Plakate hängen. Manchmal muss man sich bücken, um unter diesen vielen Plakaten unterschiedlicher Länge hindurch zu kommen. An einer Stelle ist sogar die Decke des Ganges mit Plakaten beklebt.

 

Der Reform-Schulleiter (stolz): Hier sehen Sie schon eine unserer neuen Methoden. Alles wird von Schülern auf Plakaten visualisiert. Durch Schreiben und Zeichnen machen die Schüler  

anderen deutlich, was sie gelernt oder als Ergebnisse gefunden haben. Und durch das ständige gewollte und noch mehr ungewollte Betrachten beim Passieren der Gänge prägen sich diese Ergebnisse und Inhalte dann allen ein. Das ist wirkungsvoller als ein Schulbuch. Das ist so wie die Werbung es herausgefunden hat und anwendet, dass nämlich die unbewussten Eindrücke und Bilder, wenn man sie nur oft genug sieht, sich fest im Unterbewusstsein verankern und so behalten werden… Wir arbeiten also mit den modernsten wissenschaftlichen Tricks… Alles Frühere war schlecht und muss abgeschafft werden!

        

Sokrates (wendet vorsichtig ein): Das waren einmal frühe Erkenntnisse eines Instituts für Werbepsychologie in den USA. Aber sie haben sich nicht dauerhaft bestätigt. Das Gegenteil ist nach neuen Ergebnissen der Fall: Eine Bilderflut mindert die Aufmerksamkeit… Dürften die vielen Plakate hier nicht auch solch eine mindernde Wirkung haben?

 

Der Reform-Schulleiter (würdevoll und selbstsicher-zurechtweisend): Dafür dürften Ihnen die wissenschaftlichen Kenntnisse fehlen… Ich habe diese. Ich werde eine völlig neue Methodik in den Schulen einführen… Alles andere vorher war falsch und schlecht. Es muss völlig aus dem Schulwesen entfernt werden!

 

Sokrates (wagt den vorsichtigen Einwand): Aber Deutschland hat doch früher hervorragende Wissenschaftler und Techniker hervorgebracht – trotz veralteter Methoden, wie Sie sagen. Wie war das möglich?

 

Der Reform-Schulleiter (würdevoll und selbstsicher): Mit meinen Methoden hätten wir noch mehr solcher Wissenschaftler und Techniker hervorgebracht… Früher war alles falsch, schlecht und unpassend. Alles Frühere muss abgeschafft werden!  

 

Sokrates: Und wenn nun ein Kollege hier doch auch ältere Methoden benutzt oder wieder benutzt, weil er am Erfolg der neuen Methoden zweifelt? Wie reagieren Sie da?

 

Der Reform-Schulleiter (würdevoll, selbstsicher und etwas ärgerlich): Alles andere als das, was ich hier eingeführt habe, war falsch und schlecht. Es muss völlig aus dem Schulwesen entfernt werden. Wer sich dem nicht anschließt oder sich sogar widersetzt, muss die Folgen tragen… Es gibt genügend Möglichkeiten, ihm das Leben als Lehrer so schwer zu machen, dass er sich endlich der richtigen Erkenntnis anschließt oder krank die Schule verlässt. Wir haben hier viele Möglichkeiten: Er wird vor den Schülern schlecht gemacht… Er wird vor den Eltern schlecht gemacht… Er wird ständig zu mir zitiert… Er bekommt einen miesen Stundenplan… Seine Arbeiten werden von mir alle auf mögliche Korrekturfehler hin durchgesehen…

 

Sokrates (etwas entsetzt): Da fehlt nur noch, dass man solche unangepassten Lehrer in einen Schulkeller einsperrt… So sind ja Diktaturen mit politisch Andersdenkenden verfahren und so sind oft Religionen in Ländern, in denen sie die Mehrheit errungen hatten, mit der Minderheit der Andersgläubigen umgegangen… Man sollte von dem Wert und Erfolg der neuen Methoden zu überzeugen versuchen und gleichzeitig Toleranz anders unterrichtenden Lehrern gegenüber wahren, sofern diese den Schülern viel beibringen…

 

Der Reform-Schulleiter (selbstsicher, würdevoll und entschieden): Ihre Vergleiche sind unpassend. Hier geht es um die Wahrheit der richtigen Lehr- und Lernmethodenrichtung. Die vertrete ich, die habe ich gründlich erforscht. Früher war alles falsch, schlecht und unpassend. Alles Frühere muss abgeschafft werden. Nur meine neue Methodenrichtung ist richtig!  

 

Es ist jetzt unnötig, den weiteren Verlauf des Besuches des Sokrates an dieser Schule genauer darzustellen.Gleichgültig, welche vorsichtigen und toleranten Argumente Sokrates gegen eine neue andere Einseitigkeit in den Methoden anführte, alles wurde mit dem gleichen Argument abgeblockt: Früher war alles falsch, schlecht und unpassend. Alles Frühere muss abgeschafft werden! Es wurde kein offenes Gespräch geführt, es wurde nicht um Erkenntnis gerungen, es wurden bewährten anderen Möglichkeiten keine Toleranz eingeräumt, es wurde nach keinen wissenschaftlichen Argumenten gesucht, es wurde geglaubt und behauptet – so wie bei einem Missionar einer Religion, die man für sich annehmen und glauben, aber nicht beweisen kann.

Und wenn Sokrates nach dem praktischen Lern-Erfolg dieser und jener neuen Methode und der ganzen neuen Methodenrichtung fragte, dann wurde darauf hingewiesen, dass der Erfolg sich erst nach einer Umstellungszeit von einigen Jahren zeigen werde.

 

Sokrates verließ deswegen bald und nachdenklich diese Methoden-Reform-Schule, obwohl er sich doch seit seinen Lehrer-Anfängen im Alten Athen immer für die Methoden des Lehrens und Lernens interessiert hatte und allen neuen Methoden gegenüber sehr aufgeschlossen war - und immer noch ist. 

 

(Aufgeschrieben von discipulus sokratei, der in seiner früheren Lehrerzeit auch einseitige und etwas intolerante Neue-Methoden-Vertreter kennen gelernt hat)     

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.11.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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