Diethelm Reiner Kaminski

Auf den Weg gebracht



Oma Schmalenbach schlägt alle Warnungen der Polizei in den Wind. Nicht aus Naivität oder Leichtsinn, sondern wohlüberlegt und mit System. Mit ihren 78 Jahren liest sie immer noch täglich die Lokalzeitung und weiß sehr wohl, was so alles in ihrer Stadt passiert: Handtaschendiebstähle, Wohnungseinbrüche, ja sogar Raubüberfälle auf alte Menschen. Trotzdem weigert sicht Oma Schmalenbach, aus lauter Ängstlichkeit zur Stubenhockerin zu werden. Sie macht bei jedem Wetter ihren täglichen Spaziergang, vorzugsweise zum Teich im Stadtpark, wo sie Enten und Schwäne füttert.
Ihre Handtasche trägt sie nicht, wie von der Polizei empfohlen, an kurzem Riemen über der Schulter und unter der Achsel eng an den Körper gepresst und auch nicht auf der von der Straße abgewandten Seite. Sie lässt sie lässig an langem Gurt baumeln und schlenkert damit munter durch die Gegend. Da kann es gar nicht ausbleiben, dass sich eines Morgens ein Radfahrer im Vorbeifahren kurz bückt und Oma Schmalenbach die Handtasche aus der Hand reißt. Es ist Arne Bratzows erster Handtaschenraub. Er ist seit Tagen völlig blank. Und Gelegenheit macht Diebe. Jetzt wundert er sich, wie leicht das geht. Die alte Frau ist weder gestrauchelt noch gestürzt. Fast ist ihm, als habe sie ihm die Tasche in die Hand gedrückt. Oma Schmalenbach blickt ihm voller Genugtuung hinterher. Wie der sich freuen wird über die Beute.
In der alten schäbigen Handtasche befindet sich nichts außer einer Papiertüte mit altem Brot und eine „persönliche Botschaft für den Handtaschenräuber“.
„Ihr Pech. Ich kenne Sie und weiß, wo Sie wohnen. Sie haben die Wahl. Entweder kommen Sie morgen um 17.00 Uhr zu unserem Seniorentreff in der Drosselgasse 16, 1. Stock rechts, damit wir gemeinsam beraten, wie Sie mit unserer Hilfe auf den rechten Weg gebracht werden können, oder aber Sie kommen nicht und werden morgen von der Polizei abgeholt. Sie wissen hoffentlich, was auf Straßenraub steht. Und kommen Sie nicht zu spät. In Sachen Pünktlichkeit verstehen graue Panther keinen Spaß.“
Arne Bratzow steht am nächsten Tag schon fünfzehn Minuten vor der Zeit vor dem Haus Nr. 16. In der Hand hält er die gestohlene Tasche. Oma Schmalenbach erscheint als erste. Arne murmelt eine Entschuldigung: „Tut mir leid. Kommt bestimmt nicht wieder vor. Hier ist auch Ihre Tasche zurück.“
„Sehr vernünftig, dass Sie unser Angebot annehmen. Freuen Sie sich aber nicht zu früh. Bevor wir Ihnen helfen, müssen Sie erst einmal Wiedergutmachung leisten. In welcher Form und in welchem Umfang, wird die Gruppe gleich beschließen. Die olle Tasche brauche ich nicht, die wollte ich sowieso in den Müll werfen.“
Arne kauft vierzehn Tage lang für die grauen Panther ein, trägt die Einkäufe die Treppen hinauf, jätet Unkraut in den Vorgärten, schließt Lampen an, repariert Möbel, malt und tapeziert. Dafür darf er reihum bei den alten Herrschaften essen.
Dann eröffnet ihm Frau Schmalenbach: „Sie haben die Bewährungsprobe bestanden. Sie haben geschickte Hände, und zupacken können Sie auch. Wenn  Sie wollen, beschäftigen wir Sie auf Dauer. Schwarz natürlich. Bei 30 Vereinsmitgliedern in unserem Viertel gibt es immer was zu tun. Wir sind ja nicht mehr die Jüngsten. Ist ein Stundenlohn von 10 Euro in Ordnung? Versichern müssen Sie sich selbst. Und werden Sie nicht wieder rückfällig. Eine zweite Chance kriegen Sie von uns nicht.“
Auf der nächsten Sitzung erntet Oma Schmalenbach viel Lob. „Seit du den Arne an Land gezogen hast, geht es uns allen viel besser. Wir sollten mal überschlagen, ob wir uns noch einen zweiten Handtaschenräuber leisten können.“
Dass Oma Schmalenbach geblufft und Arne nie vorher im Leben gesehen hat, behält sie für sich, sonst kann sie den Trick nicht ein zweites Mal anwenden. Eine ausrangierte Handtasche hat sie schon bereitgelegt.
 



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