Ute Abele

Schlaganfall

 


Das Leben verändert sich schlagartig. Er hat die Frau mitten aus dem Leben gerissen. Jetzt liegt sie da, kann nicht sprechen und nichts bewegen außer den rechten Arm. Mit ihren Augen versucht sie auszudrücken wie es ihr gerade geht. Mehr ist nicht möglich. Sie wird künstlich ernährt. In Deutschland ist es verboten, damit aufzuhören. Es wird definiert als „Verhungernlassen" und somit als Tötung. Deswegen lebt die Frau auf diese Weise schon seit acht Jahren. Seit acht Jahren höchste Pflegestufe. Seit acht Jahren betrachtet sie bei klarem Verstand das Kommen und Gehen der Pfleger und Pflegerinnen... die sie ausziehen, saubermachen, anziehen, neue Flüssignahrung und Wasser anhängen, mehr oder weniger empathisch, mehr oder weniger sanft oder grob...  Das ist ihre Welt, Tag auf Tag. Ihre Augen sind wach und sie versteht alles, was man sagt. Sie antwortet mit ihren Augen, wenn man mit ihr spricht. Aber wer spricht schon mit ihr außer ein paar oberflächlicher Sätze während der Pflege? Sie kann ja nicht antworten. Manchmal packt sie der Frust, dann schlägt sie mit dem gesunden Arm um sich. Manchmal erfasst sie ein zärtliches Gefühl, dann möchte sie streicheln. Einmal streichelte sie mein Gesicht, so zart und liebevoll, dass ich mich schämte, so wenig Zeit für sie zu haben und mich nicht mehr um Kommunikation mit ihr zu bemühen...

Ohne die Errungenschaften der Medizin hätte diese Frau den Schlaganfall nicht überlebt. Sie wäre gestorben. Wäre das schlimm gewesen? Was ist schlimm? Manchmal heißt es, die Natur sei grausam. Fressen und Gefressenwerden... es ist nicht schön zuzuschauen, wie ein Gepard eine Antilope tötet... Leidet die Antilope und wenn ja, wie lange? Gibt es irgendein Wesen in der Natur, das acht Jahre lang Tag für Tag leiden muss? Ich bin nicht mehr an dem Ort, in diesem Heim, bin nicht mehr dort angestellt und weiß nicht, wie es dieser Frau jetzt geht... nicht einmal, ob sie noch lebt. Doch heute tauchten plötzlich in mir ganz intensive Gedanken an sie auf... plötzlich kamen Sturzbäche von Tränen aus mir heraus. Vielleicht ist sie heute hinübergegangen. Ich denke daran, wie oft sie versuchte, sich die Bauchsonde, über die die künstliche Nahrung in ihren Körper fließt, herauszuziehen. Ich musste sie manches Mal mit aller Kraft daran hindern... obwohl ich sie so gut verstand. Noch klarer hätte sie ihren Wunsch zu sterben auch mit Worten nicht ausdrücken können. ...  Ich denke an die Wärme ihrer Hand,  die mein Gesicht berührte... soviel Liebe war in ihr, trotz all des Leids.




© Ute Abele





 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.11.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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