Christine Wolny

DER ROTE VORHANG




Jedes Jahr um diese Zeit fällt mir Omas roter Vorhang ein.
Oma wohnte im dritten Stock eines Bäcker Wohnhauses.
Unten war die Backstube und der Verkauf, und  unter dem Dach juchhe, wohnte Oma.
Wir Kinder nahmen zwei Treppen auf einmal, aber Oma brauchte lange, bis sie oben war. Bei jedem Treppenabsatz blieb sie eine Weile stehen. Wir Kinder schauten ihr dann von oben zu und kicherten.
Verstanden haben wir es damals noch nicht, aber mit jedem Jahr wird mein Verständnis für Oma größer…..
Im Haus roch es so gut. Ich rieche heute noch das Brot und die Brötchen und kann mich in den Geruch ganz verlieben.
Oma hatte nur ein Zimmer. Das war Küche, Wohn- und Schlafzimmer in einem.
Aber im Treppenhaus neben ihrer Tür, gab es einen Abstellplatz,  eine Art Vorratskammer ohne Tür, die ersetzte der rote Vorhang.
Es war ein ganz dicker Filzstoff, und als Kind wickelte ich mich gerne dort ein.
Bevor wir Kinder bei Oma klopften, schlichen wir erst einmal hinter den Vorhang, um zu sehen, ob Oma etwas eingekauft hatte.
Gerade vor Weihnachten war das ein Ort, wo sie gern etwas versteckte.
Wir kamen aber nicht überall dran. Da waren Kisten und Schachteln an der Wand aufgetürmt, und lesen konnten wir noch nicht.
Körbe mit Kartoffel und Äpfel gab es auch. Holz und Holzspähne zum Feueranzünden, eine Kohlenschütte, eben Dinge, die Oma tagtäglich brauchte, waren wichtiger Vorrat, um das lästige, schwierige Treppensteigen zu vermeiden. Eine Wanne zum Baden, die viel Platz wegnahm war uns Kindern bekannt, und es war immer ein besonderer Spaß, wenn uns Oma am Samstag plantschen ließ.
Doch das interessierte uns nicht.
Wie kleine Mäusekinder schnüffelten wir überall herum.
Da war Mehl und Zucker. Doch was sollten wir damit anfangen?
Oma hatte sicher schon ihre Weihnachtskekse versteckt. Doch wo?

Eine Leiter gab es nicht, und an die oberen Schachteln kamen wir nicht dran.
Wenn wir danach fragten, war Oma streng. Sie sagte dann: „Da müsst ihr noch ein wenig warten bis das Christkind kommt.“
Und wir Kinder schauten ein wenig enttäuscht drein.
Doch Oma konnte uns schnell ablenken. Sie öffnete den Brotkasten und holte die Butter, Milch und ein Honigglas hinter dem Vorhang hervor, denn einen Kühlschrank gab es damals noch nicht. Den brauchte sie auch nicht, denn im Treppenhaus war es im Winter so kalt wie in einem Eisschrank.
Wir Kinder saßen schon auf den Stühlen und sahen Oma beim Broteschmieren zu. Wer kriegt das erste?
Kein Problem. Oma schnitt es in der Mitte durch, und ehe sie das zweite Brot fertig hatte, war das erste schon aufgegessen.
„Ihr futtert mir noch die Haare vom Kopf,“ sagte sie manchmal und lächelte dabei.
Und schon hatten wir wieder etwas zum Kichern.
An diese Kindheitserlebnisse denke ich gerne, und hinter den roten Vorhang würde ich heute noch schauen.
 
© C.W 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.11.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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