Helmut Wurm

Die Moritat vom Lehrer Michel Gutwill

 

Die Moritat vom Bemühen und unglücklichen Ende des Lehrers Michel Gutwill - oder hohe pädagogische Visionen verlangen Opfer  

 

Ein Kurz-Schauspiel in 4 Akten. Alle eventuellen Parallelen mit derzeitigen schulisch-methodisch-pädagogischen Strömungen, Zielen, Forderungen und Personen sind rein zufällig.

 

1.  Aufzug:

 

Schulleiterzimmer der SGW-Schule (Schülerglück- und Wohlfühlschule, kurz: Wellness-Schule) in EUP-Stadt (Euphoria-Utopia-Pädagogika-Stadt).

 

(Das Zimmer gleicht einem unaufgeräumten Kinderzimmer, an den Wänden hängen Spruchbänder mit Aufschriften wie: Super-Lehrer braucht das Land; ideale Lehrer für die ideale Einheitsschule; durchschnittliche Akademiker gehören an das Fließband, nicht in die Schulen; wir schaffen den neuen Ideallehrer; der neue Lehrer ist in allem ein Super-Lehrer; Super-Kinder brauchen den Super-Lehrer usw.)

 

In diesem Büro erwarten der Schulleiter, der Schulelternsprecher und ein Schuljurist den jungen Lehrer Michel Gutwill. Michel Gutwill hat sich voll guten Willens an der Wellness-Schule beworben. Er ist ein natürlicher, sympathischer, etwas naiver junger Mann, der gerne Lehrer ist und gern mit jungen Menschen umgeht. Seine Gegenüber haben einen unnatürlich glücklich-fröhlichen, maskenhaften Gesichtsausdruck. Der Schulleiter lässt in seinem Gehabe den euphorischen Reformpropheten erkennen, die Elternsprecherin ist eine sehr gepflegte, kühl-stolze Karriere-Frau und der Schuljurist ein kompromissloser, akribischer Richtigkeitsfanatiker.

 

Der Schulleiter begrüßt den jungen Bewerber: „Ich begrüße Sie herzlich hier an unserer Schülerglück und Wohlfühlschule, Sie können auch kurz Wellness-Schule sagen. Denn in der Schule sich rundum wohlfühlen, dort ungetrübt glücklich sein, das ist unsere pädagogische Vision. Glückliche Kühe geben mehr Milch, glückliche Schüler lernen mehr. Sich anstrengen, sich mühen sind veraltete Prinzipien. Alles muss aus lauter Freude, aus lauter Schul-Wellness von den Schülern wie von selbst gelernt werden.

 

Dazu gehören aber auch perfekte Lehrer, Lehrer, die alles können. Ich freue mich, dass Sie sich vorgenommen haben, an unserer Aktion „Durchschnittslehrer raus, Super-Lehrer rein“ mitzuwirken. Wir wollen neue Qualitätsstandards bezüglich der künftigen Lehrertypen setzen. Die Zeiten sollen bald vorbei sein, wo Durchschnittsakademiker Lehrer werden konnten. Wir haben erkannt, dass an dem bedauerlichen Tatbestand, dass nicht alle Schüler das Abitur erreichen, nur das gegliederte Schulwesen und die bisherigen durchschnittlichen Lehrer schuld sind.

 

Wir wollen Erziehung, Lehren und Jugendtherapie produktiv und kompetent an einem Ort und in einer Hand zusammenfassen, nämlich in der Hand der neuen Lehrerschaft an der ganztägigen Einheitsschule. Hier werden allseits kompetente Fachkräfte die Erziehung und Bildung der Jugend übernehmen, nämlich Lehrer, welche Spezialisten in Pädagogik, Methodik, Psychologie, Psychotherapie, Soziologie und in ihren Lehrfächern sind, Lehrer, die perfekt die neuen Medien beherrschen, jederzeit bilingualen Unterricht halten können, jederzeit die teuren Psychologen und Psychiater ersetzen, Lehrer, die jeder Situation gewachsen sind. Diese Lehrer sollen Leuchttürme der Orientierung für Jugendliche und Eltern werden. Dazu gehört, dass diese Lehrer  stets Freundlichkeit, Fröhlichkeit und positive Einstellungen zeigen, dass sie immer lächeln und immer Geduld, Ruhe und Gelassenheit bewahren und nie schlechte Laune haben“.

 

Die Schulelternsprecherin: „Wir modernen Frauen wollen jetzt endlich nachholen, was uns Jahrtausende verwehrt blieb: Nämlich die berufliche Emanzipation und die Karriere. Die Kindererziehung - sofern wir überhaupt noch bereit sind Kinder zu bekommen - langweilt und unterfordert uns und wir sind dafür auch gar nicht ausgebildet. Wir geben diesen historischen Ballast an die pädagogischen Fachleute ab, an die Lehrer. Die haben schließlich Pädagogik studiert. Wir ersetzen die Familie durch die Einheits- und Ganztagesschule. In der Wirtschaft herrscht der Trend zur Konzentration, in der Erziehung soll es auch so sein. Wir erwarten von den Lehrern eine perfekte Erziehungsarbeit. Und dass diese an den Schulen zentrierte Erziehung freie, selbstbewusste, selbstständige, gebildete, allseits kompetente, kooperative und überall einsetzbare junge Menschen hervorbringt, dafür haften uns die Lehrer. Wir werden diese wegen jedem kleinen Erziehungsfehler ansprechen, bei wiederholten Ungeschicklichkeiten und Fehlern werden wir ihnen gnadenlos ein Beschwerdeverfahren anhängen“.

 

Der Schuljurist: „Wir sind dafür zuständig, dass im Schulwesen alles reibungslos und fehlerfrei läuft und dass bei jedem Fehler oder Schaden sofort klar ist, wer schuldig ist und welche juristischen Konsequenzen das jeweils hat. Bei uns ist Fehlermachen nicht vorgesehen. Wir haben unsere Vorschriften ständig verfeinert und differenziert. Wichtig sind uns vor allem die Schüler und Eltern, die vor den Irrtümern und Schwächen der Lehrer geschützt werden müssen. Wir geben genaue Anleitungen an die Hand, wie und wann und in welcher Form Aufsicht in den Pausen, im Unterricht, an Wandertagen und Klassenfahrten vor sich gehen muss, welche Rechte Schüler und Eltern in der Schule haben, wann, in welcher Form und worüber schriftliche Arbeiten geschrieben werden dürfen, wie die Noten im Einzelnen zustande kommen müssen, worüber und in welcher Form am besten Eltern und Schüler informiert werden müssen, welche pädagogischen Maßnahmen in welcher Situation ergriffen werden sollten, worüber sich Schüler und Eltern alles beschweren können. Wir haben den unseligen pädagogischen Freiraum in der Praxis fast ganz abgeschafft, die letzten Reste davon werden wir durch weitere Anweisungen und Hinweise auch noch beseitigen. Denn pädagogische Freiräume bedeuten die Möglichkeit sich zu irren. Sich-Irren bedeutet aber Rückfall in die normale Menschlichkeit. Die hat bei den Lehrern der Zukunft keinen Platz mehr. Lernen Sie alle unsere Gesetze, Verordnungen, Bestimmungen, Anweisungen, Interpretationen und Empfehlungen auswendig. Achten Sie in jeder Minute genau auf deren Einhaltung. Lehrer, die juristische Fehler machen, machen dem Ministerium nur unnötig Kosten und schwächen das Bild der Wellness-Schule in der Öffentlichkeit. Es wird derzeit die Abschaffung der Verbeamtung der Lehrer eingeleitet. Lehrer können dadurch schneller als bisher die Rote Karte bekommen. Denken sie immer daran“.

 

Michel Gutwill (seine anfängliche Natürlichkeit ist einer erheblichen Verunsicherung gewichen, stotternd): „Aber... ob ich das alles kann... ich bin nur ein durchschnittlicher Mensch... ich mache Fehler... ich habe Schwächen... ich ärgere mich manchmal... ich weiß nicht alles... ich dachte, auch ein Durchschnittsmensch könne ein guter Lehrer werden...“.

 

Seine drei Gegenüber (schauen sich entsetzt an; dann teils gemeinsam, teils nacheinander): „Wir wollen ja gerade keine Durchschnittsmenschen als Lehrer, keine Lehrer mit natürlichen Schwächen, die Erschöpfung zeigen, die Fehler machen, deren Nerven einmal blank liegen, die Kompetenzlücken zeigen, die nicht alles wissen...“.

 

Der Schuljurist: „Wir wollen den stets fehlerfrei arbeitenden Lehrer“.

 

Die Schulelternsprecherin: „Wir wünschen den pädagogischen Wunderkünstler und Wunderheiler“.

 

Der Schulleiter: „Wir erwarten den methodischen-didaktischen Superstar und  Alleskönner“.

(Alle drei stehen in erstarrt-verzückter Pose bei diesen ihren Visionen vor dem verwirrten Michael Gutwill).

 

Michel Gutwill (mit hängendem Kopf, stammelnd): „Ich werde es versuchen... aber ob ich das alles kann... ich bin nur ein normaler Menschen... mit vielen Schwächen“. (verlässt das Bureau mit schleppendem Gang).

 

Die drei anderen (blicken ihm mit bedenklicher Miene nach und murmeln): „Nur ein normaler Mensch... der wird nie die Erwartungen der modernen Eltern erfüllen ... irgendwann macht der einen juristischen Fehler... Was werden die modernen Schüler von ihm denken ... Was wird die Wellness-Schulaufsicht sagen“

2.  Aufzug:

 

(5 Jahre später in Gutwills Wohnung) 

 

Michel Gutwill (sitzt in gebrochener Haltung, das Gesicht in die Hände vergraben, auf einem Stuhl. Vor ihm steht weinend seine Frau. Er stammelt): „Immer nur lächeln, immer vergnügt ... Ich kann das nicht mehr durchhalten... Ich kann nicht mehr mein unvollkommenes Menschsein, mein natürliches Wesen verleugnen... Ich bin ein Mensch mit all seinen Schwächen... ich kann nicht immer nur lächeln und fröhlich sein und positive Einstellungen ausstrahlen... Ich ärgere mich manchmal... Ich habe manchmal schlechte Laune... Wenn etwas in der Schule nicht klappt, dann bin ich nicht immer der Schuldige... Ich habe nicht für alle Probleme der Schüler die passende Lösung oder Methode... Ich weiß nicht alles... Ich bin kein pädagogischer Wunderheiler und didaktisch-methodischer  Superstar... Ich vergesse auch einmal eine der vielen Rechtsvorschriften ... Ich bin ein Mensch, ein normaler Mensch, so wie die Eltern und Schüler auch ... ich halte diesen Erwartungsdruck an mich nicht mehr aus...“

 

Frau Gutwill: „Du warst früher ein so fröhlicher, ungezwungener Mann. Deine kleinen Fehler hat dir jeder nachgesehen. Jetzt gleichst du immer mehr einer Maske, einer unnatürlichen Schauspielerrolle mit deinem ständigen Lächeln, deinem stereotypem freundlichem Gesichtsausdruck, deinen ständigen Phrasen: seid fröhlich, ich verstehe euch, ich nehme auf euch Rücksicht, ihr seid so gut wie ihr seid, ich werde alle euere Fragen beantworten... Du gleichst einem Menschen nach einer Gehirnwäsche... bis auf die Zeiten wie jetzt, wo du in tiefe Depression versinkst. Das geht so nicht weiter.

 

Nimm bitte an der von der Schulaufsicht angebotenen Therapie für Lehrer teil, die in der Wellness-Schule Schwierigkeiten haben und machen. Du hast doch selbst gesagt, dein Schulleiter weise auf diese pädagogischen Therapie-Kurs mit der Begründung hin: „Nicht  normale Lehrer brauche das Land, sondern Lehrer, die den Erwartungen der Öffentlichkeit entsprechen“. Du musst die Zeit bis zur Pension noch überstehen, denke an unseren Lebensunterhalt.

 

Herr Gutwill (verzweifelt): „Ich werde mich für diese Therapie anmelden... Vielleicht hilft sie ja, die Berufszeit bis zur Pensionierung zu überstehen... Aber dann, wenn ich pensioniert bin, dann werde ich wieder ein normaler Mensch werden, dann mache ich lauter kleine Fehler“.

 

3.  Aufzug:

 

In der pädagogischen Therapie-Klinik für Lehrer, die wieder Rückfälle in normal-menschliche Verhaltensweisen zeigen; Herr Gutwill zusammen mit einem Wellness-Sozialarbeiter; im Hintergrund warten Schüler auf ihre jeweiligen Rollenspiele.

 

Der Wellness-Sozialarbeiter: „Kopf hoch, Herr Gutwill! Wir tun, was wir können. Wir werden jetzt einige schulnahe Rollenspiele durchführen. Alle Rollenspiele basieren auf realen Vorkommnissen in Schulen. Wir helfen ihnen, darauf vorbereitet zu sein und richtig zu reagieren. Auf Kinder, es geht los, spielt so, wie es an Wellness-Schulen zugeht. Wir fangen mit einem relativ harmlosen Rollenspiel an“.

 

1. Rollenspiel:

 

Die Schüler (stürzen auf Herr Gutwill zu und stellen lauter Fragen, was ihnen gerade durch den Kopf geht oder was sie zu Hause bruchstückweise gehört oder in den Medien bruchstück-weise mitbekommen haben):

Was heißt Perestroika?

Wie heißt der höchste Berg im Kaukasus?

Was ist ein Anachronismus?

Was bedeutet dialektisch?

Weshalb kam es zu den Kreuzzügen?

Weshalb schreibt man im Deutschen nicht alles  klein?

Wie entsteht Heuschnupfen?

Weshalb kann der Bundespräsident nicht bis zu seinem Lebensende im Amt bleiben?

Weshalb schreibt man einmal „das“ und dann „dass“?

Wozu kann man Nano-Röhrchen verwenden?

Wie funktioniert ein Halbleiter?

Kann unsere Sonne auch eine Supernova werden?

Bei welcher Gelegenheit wurde das Penizillin erfunden?

Weshalb hat ein Amerikaner und kein Deutscher die Glühbirne erfunden?

Wer war eigentlich Bismarck...?“

 

Herr Gutwill: „Aber bitte nicht so viele Fragen auf einmal... und immer der Reihe nach... ich bin doch kein wandelndes Lexikon“.

 

Der Wellness-Sozialarbeiter (zu dem verwirrten Gutwill): „Lächeln, immer geduldig bleiben, den Kopf oben behalten, keine Schwäche zeigen, antworten Sie einfach, was Sie als richtig vermuten oder verweisen Sie die Schüler auf gemeinsame nachmittägliche Stöberstunden, freuen Sie sich über die Wissbegierde der Schüler, ermuntern Sie sie zu weiteren Fragen, kaufen Sie sich das neue Schülerlexikon auf CD und hören Sie es sich so lange an, bis Sie es auswendig können, denn Sie brauchen ein umfassendes Wissen bei den Schülern...

 

Und machen Sie kein so müdes Gesicht bei dieser täglichen Fragenflut, die auf Sie nieder prasselt, geben Sie sich permanent jugendlich-frisch, die Schüler mögen das. Denken Sie daran, dass es in unseren Wellness-Schulen keine festen Pausen gibt, nur noch Freiräume zwischen den einzelnen Unterrichtsaktionen und keine abgeschlossenen Lehrerzimmer zum Entspannen, nur noch Gemeinschaftsräume für Lehrer und Schüler, denn die Schüler sollen das Recht haben, ständig auf ihre Lehrer mit Fragen zuzugreifen, sie ständig zu beobachten und sich mit ihnen zu unterhalten. Erholen können Sie sich abends zu Hause... Aber jetzt eine Stufe schwieriger für Sie.“

 

2. Rollenspiel:

 

Der Wellness-Sozialarbeiter:“ Sie stehen vor einer Klasse am Montagmorgen und wollen mit ihrem Deutschunterricht beginnen. Versuchen Sie ihr Glück“.

 

Die Schüler simulieren eine Schulklasse, die in kleinen oder größeren Grüppchen zusammen sitzt und sich laut über die privaten Ereignisse des Wochenendes unterhält, aber nicht bereit ist, dem Unterricht irgendwelche Aufmerksamkeit zu widmen.

 

Michel Gutwill (beginnt einen Unterrichtsversuch, bricht aber resigniert ab): „Das kann ich mir nicht gefallen lassen, das kann doch so nicht ablaufen...“!

 

Der Wellness-Sozialarbeiter: “Verfallen Sie jetzt ja nicht in Konsequenz und Strenge. Das widerspricht völlig unserer Wellness-Philosophie. Versuchen Sie es mit Tricks. Lächeln Sie und zeigen Sie zuerst einmal Verständnis für die Rückbesinnung der Schüler auf das Wochenende.

 

Hier haben Sie ein Paket mit Themen- und Fragenkärtchen zum Deutschunterricht. Immer wenn eine Gesprächsgruppe gerade eine Pause macht, teilen Sie solche Kärtchen aus, wie z.B. diese hier...

 

(Die Schüler lesen sie nur kurz und reden dann weiter)...

 

Verzagen Sie nicht, sehen Sie dieses Verhalten positiv, dass es ihnen eben nämlich gelungen ist, die Schüler für eine Minute von ihren Privat-Gesprächen abzubringen... Diese Gruppe da drüben liest die Fragenkärtchen sogar genauer und macht Witze darüber... Verbuchen Sie das positiv. Sie haben die Schüler sogar einige Minuten von ihren privaten Erzählungen abgelenkt und dazu noch erheitert...

 

Wechseln Sie schnell die ausgeteilten Kärtchen gegen andere Fragen aus und registrieren Sie die zunehmende Zeit, während der die Schüler ihre Privatgespräche unterbrechen, um sich mit den Kärtchen zu beschäftigen. Vielleicht beginnt eine Gruppe sogar ein Gespräch über ihr Kärtchenthema.  Das wäre noch positiver und vielleicht der Anfang einer Art Unterricht mit dieser Gruppe... Wechseln Sie schnell wieder die Themenkärtchen aus, wo das nicht zu gelingen scheint. Sie müssen einige Tausend Kärtchen ständig mit sich herumtragen, für jedes Fach und für jedes Thema. Pädagogische Tricks, nicht konsequente Führung sind bei uns gewünscht. Lassen Sie sich nicht entmutigen durch das Montags-Chaos. Versuchen Sie bei jeder Schüler-Gesprächsgruppe die Gesprächsenergie nur durch Tricks in Unterrichtsenergie umzulenken. Jede Strenge ist pädagogisch falsch. Lächeln Sie montags am gewinnendsten. Denken Sie daran: Montag ist pädagogischer Trick-Tag.

 

Klappt die Kärtchen-Methode nicht, gehen Sie zur Witz-Methode über. Lenken Sie die Aufmerksamkeit der Schüler durch Witze auf sich. Gelingt Ihnen das, gehen Sie zu Witzen über deutsche Dichter über. Manchmal gelingt es so, Schüler zu Gesprächen über Dichter zu motivieren. Besorgen Sie sich das Buch „Deutscher Humor und deutsche Witze“ und lernen Sie es auswendig. Betrachten Sie das nicht als Verlegenheitslösung, sondern als Trick. Sehen Sie das alles positiv, lächeln Sie stets dabei. Denken Sie daran: Montag ist pädagogischer Tricktag.

 

Klappt auch diese Methode nicht, achten Sie darauf, ob sich Schüler von amourösen Abenteuern des vergangenen Wochenendes erzählen. Beginnen Sie dann sofort, amourösen Klatsch über deutsche Dichter in die Gespräche einzubringen. Das wirkt oft. Lächeln Sie stets dabei und denken Sie daran, kein Trick ist unwert, die Schüler wenigstens etwas dem Unterricht zuzuführen. Sehen Sie alles positiv, wenden Sie nur keine Strenge und Disziplin an, die passt nicht in unsere pädagogische Philosophie. Wir arbeiten mit Tricks und besonders der Montag ist pädagogischer Trick-Tag. Da ist der pädagogische Zauberkünstler gefordert... Aber nun noch ein Grad schwieriger“.

 

3. Rollenspiel:

 

Die Schüler (umringen Herrn Gutwill tanzend und johlend und rufen Sprüche wie diese): Hallo Michi, hast du auch ein sexy Wochenende gehabt?... Hast du gut mit deiner Frau gebumst?... Warst du fit bei deiner Frau?...  Hast du bereits auch Viagra nötig?“.

 

Michel Gutwill (völlig perplex und verlegen): „Nicht einmal die intimsten Bereiche verschont die heutige Jugend...“.

 

Der Wellness-Sozialarbeiter: „Aber Herr Gutwill, jetzt auf keinen Fall verlegen werden. Lächeln Sie. Sie sind wirklich noch verklemmt. Und das in unserer sexualfreundlichen Zeit. Wir an den Wellness-Schulen wollen keine verklemmten Schüler und Lehrer. Gehen Sie auf diese verständliche Neugierde und liebevoll-harmlose Provokation der Schüler mit irgendeiner lustigen Bemerkung ein.

 

Denken Sie daran, dass an unseren Wellness-Schulen Sexualkunde und Verhütungskunde einen hohen Stellenwert haben. Biologieunterricht ist bei uns zu einem großen Teil Sexual- und Verhütungskunde-Unterricht. Die Schüler sollen ihre aufkommenden Interessen und Triebe mental ausleben können. Das entspannt die Schüler. Sexualkunde als ein Mittel gegen den Schulstress, das ist unser Kunstkniff. Empfehlungen für häufiges regelmäßiges Sporttreiben befolgt doch kaum noch jemand. Regelmäßige Beschäftigung mit dem Thema Sexualität tritt bei uns an die Stelle der körperlichen Entspannung durch Sport. Unbeschwerte Sexualität ist schließlich der Kern jeder menschlichen Partnerschaft. Kommen Sie mir ja nicht mit verstaubten Vorstellungen von Ehe und Familie. Die Schüler wollen das nicht hören, die sind aufgegeilt durch Medieneinflüsse. Die Schule muss auf dieser Schiene weitermachen, wenn sie die Schüler einfangen will. Finden Sie es nicht geschmacklos, im Biologieunterricht Kondome zu Luftballons aufblasen zu lassen. Wenn ein Unterrichtsthema in Geschichte, Erdkunde, Sozialkunde, Deutsch nicht ankommt, versuchen Sie über das Sexualverhalten von Einzelpersonen oder Menschengruppen Interesse an historischen Personen, an Politikern, an Völkergruppen zu wecken...

 

Aber jetzt kommt es dick, jetzt werden die Schüler Sie an ihre vielen berechtigten Freiheiten in unseren Wellness-Schulen erinnern. Damit haben viele ihrer Kollegen besondere Probleme“.

 

4. Rollenspiel:

 

Die Schüler und Schülerinnen (haben Mützen und Kopftücher verschiedenster Typen und in verschiedenster Tragehaltung auf, haben schreiend bunte Jacken und löchrige Hosen an. Die Jungen tragen Ketten um die Hüften, die Mädchen zeigen viel Bauch. Viele rauchen völlig ungeniert. Ihre Ausdrucksweise untereinander ist grob und gewöhnlich. Sie rempeln Herr Gutwill an, der ihnen offenbar im Weg zu stehen scheint und raunzen in an. Einige nennen ihn sogar respektlos mit Vornamen):

„Mensch, pass doch auf. Mach uns doch lieber mal die Klasse auf und halte die Türen für uns auf. Meine Eltern machen das auch immer für mich.

Guck nicht so blöde über unsere Kleidung. Hast du was dagegen, Michel?

Du bist aber kein bisschen locker und modern. Wenn du das wärest, wäre dein Unterricht nicht so Scheiße.

Aber tröste dich, der Arsch von Mathelehrer ist noch schlimmer als du...“.

 

Hier hakt der Wellness-Sozialarbeiter ein (und sucht den fassungslosen, verängstigten Michel Gutwill aufzumuntern):

„Bleiben Sie tatsächlich cool und lächeln Sie. Die Schüler haben völlig Recht, Sie sind nicht locker genug.

 

Unsere Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Kinder dann zu erfolgreichen und wertvollen Menschen werden, wenn sie ohne jegliche Einengungen aufwachsen. Jedes Gebot, jede Norm, jedes Verbot verkrüppelt die gute seelische Grundstruktur des Kindes. Von Natur aus ist jeder Mensch gut, er wird nur durch Zwänge deformiert und dann schwierig oder schlecht.

 

Bei uns kann jeder Schüler sich anziehen wie er will, kann Kopfbedeckungen jeder Art und in jeder Trageweise im Unterricht auf haben. Wenn dadurch angeblich der Unterricht zu leiden scheint, ist in Wirklichkeit nur ihr schlechter Unterricht daran schuld. Ketten, alberne Mützen, Irokesen-Frisuren  und freie Bauchnabel lenken von einem guten Unterricht nicht ab.

 

Und Sie haben jeden Tag so exzellent guten Unterricht zu halten, dass alle Schüler ihn gebannt verfolgen. Mittelmäßigkeit hat bei uns nichts verloren. Und so genanntes gutes Benehmen und gepflegte Wortwahl gehören auch zu den Einengungen, die nur seelischen Schaden anrichten. Kinder müssen so frei wie möglich reden dürfen. Das machen heute ja auch viele Eltern.

 

Außerdem ist eine solche freizügige Laissez-faire-Erziehung auch bequemer. Man hat weniger Ärger mit den Kindern. Das haben viele moderne Eltern erkannt. Machen Sie es so wie diese und verschleißen Sie ihre Kraft nicht mit der Anerziehung von Benehmen und Werten. Wir verfahren in dieser Beziehung ganz geschickt. Wir reden in der Öffentlichkeit über möglichst viele Werte und ihre Vermittlung an die Schüler. Aber je mehr Werte wir nach außen hin anstreben, desto weniger kann man sie in der Schule umsetzen und desto weniger bemühen sich die Kollegen darum.

 

Machen Sie sich nach allen Seiten beliebt. Hängen sie Antiraucher-Poster in die Gänge, aber übersehen Sie Schüler, die rauchen. Denken Sie daran, dass Sie nach allen Seiten hin nur das machen, was ihnen Pluspunkte einbringt. Das betrifft auch die Raucherecken, die wir natürlich klugerweise eingerichtet haben, aber kümmern Sie sich nicht darum, wer dort raucht. Verschleißen Sie sich nicht durch unnötige Erziehungsversuche.

 

Und jetzt zum Finale, zum letzten Schock-Rollenspiel. Nun sind ihre Kraft und Härte gefragt. Die Schüler simulieren eine größere Pause auf dem Schulhof. Überlegen Sie, wie Sie sich richtig verhalten“.

 

 

5. und letztes Rollenspiel:

 

Die Schüler stürzen mit wildem Gebrüll auf den Pausenhof. Es bilden sich einige Gruppen, die miteinander aus Spaß raufen oder echten Streit miteinander haben und diesen Streit hand-greiflich austragen. Die einen halten sich im Schwitzkasten, die anderen boxen sich, andere treten sich, wieder andere schlagen mit Stöcken aufeinander los. Andere Schüler stehen als Zuschauer dabei und johlen Beifall.

 

Herr Gutwill (will sofort einige Streitende trennen, bekommt aber nun selbst einige Schläge ab).

 

Der Wellness-Sozialarbeiter (zieht ihn schnell aus der Gefahrenzone und belehrt ihn eindringlich):

 

„So verhalten Sie sich der Situation unangepasst und unpädagogisch. Die modernen Schüler sehen in den Medien täglich körperliche Gewalt und haben Freude daran, diese selber zu praktizieren oder zumindest als Zuschauer mit zu erleben. Und viele Schüler müssen sich ja schließlich auch austoben. Sexualkunde genügt nicht allen zum Stressabbau. Beobachten Sie bei der Pausenaufsicht nicht mehr als notwendig, übersehen Sie vieles. Solange Sie nicht gerufen werden, reagieren Sie besser nur in Extremfällen. Die Polizei macht das ja auch so, sie kommt erst, wenn die Schlägerei vorbei ist und die Schuldigen ermittelt werden müssen. Achten Sie aber aus Versicherungsgründen immer darauf, als Aufsicht auf dem Pausenhof anwesend zu sein. Sie können sich bei Unfällen immer darauf berufen, dass sie nicht alles sehen konnten, dass sich die Schüler aber beaufsichtigt fühlten.

 

Wenn ein Schüler körperlich aggressiv wird, hat er meistens das Bedürfnis, Misserfolge in seinen Leistungen durch Überlegenheit im Raufen auszugleichen. Gönnen Sie diesem Schüler solchen Erfolg. Fragen Sie sich dann immer, was die Schule pädagogisch falsch gemacht hat, dass es zu solchen Aggressionen kommt, ob z.B. die Notengebung noch entgegenkommender werden müsste. Selbst wenn ein Schüler mit einem Messer oder mit einer Pistole Mitschüler und Lehrer bedroht, ist die Schuld dafür in seiner Umwelt, in seiner Schule zu suchen, dann hat seine sozialpädagogische Betreuung nicht funktioniert. Es gibt keine Macht der Gene und schon gar nicht Gene für eine aggressive Veranlagung. Das ist eines der Märchen der Naturwissenschaften, die nichts vom realen Menschen versteht. Unsere großen pädagogischen Theoretiker haben das richtiger erkannt. Alles ist nur eine Folge von Umwelteinflüssen.

 

Einige Schulen planen ein sehr interessantes neues Modell zum Ableiten angestauter Aggressionen und zur Festigung des Selbstbewusstseins bei Schülern. Die Lehrer bekommen in einer bestimmten Stunde dicke Schutzanzüge mit dicken Helmen und die Schüler dürfen dann auf die Lehrer mit Fäusten und Füßen einschlagen und eintreten. Man erhofft sich anschließend eine entspanntere Schulatmosphäre.

 

So, das war’s.

 

Wir haben jetzt gemeinsam 5 markante Problemfälle in der Schulpraxis durchgespielt und ich habe ihnen aus unserer Wellness-Sicht richtige Verhaltens- und Lösungsvorschläge vorgestellt. Damit müssten Sie künftig in der Schulpraxis besser als bisher zurechtkommen.

 

Denken sie daran: immer lächeln, immer freundlich, immer Verständnis für die Schüler, kein kantiges Profil, nach allen Seiten immer Pluspunkte sammeln, keine unnötigen Ansprüche stellen, dafür Visionen von Schülerglück und Wohlfühlschule verfolgen, Schuld immer bei den Lehrern suchen, möglichst alle Freizeit für Schule opfern, normal-menschliche Regungen bei sich unterdrücken, bereit sein bis zum 70igsten Lebensjahr als Lehrer tätig zu bleiben und zu akzeptieren, dass Visionen  Opfer fordern. Sollten sie noch Schwierigkeiten in der Wellness-Schule bekommen, haben wir noch einige Rollenspiele gegen schlechte Laune und Ärger-Zeigen. Solches normal-menschliche Verhalten muss in den Wellness-Schulen ausgemerzt werden.“

 

Michel Gutwill (wankt völlig verstört und erschöpft aus dem Raum. Er stammelt nur): „Ich will ja alles versuchen, was die neue Glücks- und Wohlfühlpädagogik fordert... Wenn das die Wellness-Professoren so meinen, dann muss es ja stimmen“.

 

4. Aufzug:

 

Weitere 5 Jahre später. Im Wartezimmer einer psychiatrischen Klinik. Frau Gutwill führt mit verweintem Gesicht ihren Mann in den Raum.

 

Herr Gutwill (hat einen seelenlosen, unnatürlich-freundlichen Gesichtsausdruck. Er begrüßt alle Wartenden mit denselben Floskeln): „Immer nur lächeln... seien Sie immer freundlich... haben sie immer Geduld... sehen Sie bei allem das Positive... zeigen Sie nie Ärger... seien Sie zu großen persönlichen Opfern bereit... unterdrücken Sie bei sich normal-menschliche Reaktionen... normale Durchschnittsmenschen sind als Lehrer ungeeignet“.

 

Der Psychiater (erscheint und ruft Frau und Herrn Gutwill ins Sprechzimmer. Er scheint seinen schweren Alltagsjob nur durch gelegentliche platte sarkastisch-humoristische Einlagen zu verkraften):

 

„Mein Bedauern für Sie, Frau Gutwill, ihr Mann hat es also nicht bis zur Pensionierung durchgehalten. Der Erwartungs- und Anforderungsdruck hat ihn wie viele andere Lehrer überfordert. Wir sagen privat dazu: Durch zu große Anspannung ist er wie eine Glühbirne durchgeknallt, ha, ha, ha.

 

Aber nach den heimlichen  Plänen der Finanzbehörde sollen auch nicht alle Lehrer bis zur regulären Pensionierung durchhalten. Je früher sie schlapp machen, desto mehr Abzüge von der Pension sind möglich. So spart das Land Geld, ha, ha, ha. Aber ihr Mann hat noch Glück im Unglück gehabt. Er hat nur die Idiotica pädagogica pazifica bekommen, d.h. er ist ein friedliches Opfer seines Berufes. Nach einigen Jahren Abstand von Schule und Schülern kann sich wieder eine gewisse Normalität einstellen.

 

Ernster ist die Idiotica pädagogica rabiata. Diese Opfer ihres Berufes stürzen sich auf jeden Schüler und wollen ihn würgen, ha, ha, ha. Da hilft nur in eine Gegend umziehen, wo es keine Schulen und keine Kinder mit Schultaschen gibt. Ich schreibe ihren Mann natürlich sofort für immer dienstunfähig. Aber als Lehrersfrau wussten Sie ja, dass große Visionen auch Opfer verlangen“.

 

Frau Gutwill: „Mir wäre es lieber gewesen, wenn es in den Schulen keine großen pädagogischen Visionen geben würde, wenn die Eltern ihre Kinder selber mehr und anspruchsvoller erziehen würden, wenn die Schüler mehr an Ordnung und Leistung gewöhnt würden, wenn strengere Rahmenbedingungen in den Schulen bestünden und auch konsequenter durchgesetzt würden, wenn auch normale, gutwillige Menschen Lehrer sein könnten... dann wären die Opfer sicher auch nicht so groß“.

 

Sie geht weinend, ihren Mann hinter sich herziehend, ab. Man hört diesen noch rufen:

„Immer nur lächeln... immer freundlich... normale Durchschnittsmenschen sind als Lehrer ungeeignet“.

 

(Verfasst von Helmut Wurm;

abgedruckt in: Realschule in Rheinland-Pfalz, 2/2004, S. 54-59)

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.11.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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