Jürgen Berndt-Lüders

Der Single-Experte

Es ist erst ein paar Tage her, da wartete ich vor der Ampel. Ich konnte kaum die Farben unterscheiden. Alles um mich herum verschwamm im Tränenmeer, als es plötzlich neben mir hupte. Ich wischte mir über die Augen, blickte hinüber und sah einen heftig gestikulierenden Mann.
 
Die Ampel wurde grün, er hupte wieder, fuhr los und bog mit quietschenden Reifen rechts ab. Ich fuhr hinterher. Was wusste ich denn, was der Unbekannte mir so Wichtiges zu sagen hatte?
 
„Mensch, Jürgen, alter Kumpel“, rief er, als er ausstieg. „Welche ein Zufall. Lange nicht gesehen.“
 
Ich musste erst einmal überlegen, aber dann erkannte ich ihn.
 
„Justus, der Gerechte“, rief ich. Meine Begeisterung hielt sich in Grenzen, denn der Kerl war mir nie sympathisch gewesen. Mein Mitschüler, ein Angeber erster Güte.
 
„Komm, Alter, lass uns einen trinken gehen“, rief er und schlug mir auf die Schulter. „Na, wie geht’s dir denn?“
 
Er sah meine rot geweinten Augen. „Hast du Zug gekriegt?“
 
Ich überlegte. Was ging diesen Typen an, dass Marion mich verlassen hatte? Andererseits war es nicht schlecht, wenn ich mich mal ausheulen konnte.
 
„Nee, es ist einfach...“ Ich kriegte nichts raus.
 
Er zog mich in eine Eckkneipe. „Ich sehe schon, dass du Kummer hast. Komm, pack aus und schäm’ dich nicht. Wir haben alle mal im Keller gewohnt.“
 
Er lachte über seinen eigenen Witz.
 
Ich klemmte mich auf eine Eckbank am Fenster. „Es wird das erste Weihnachten, das ich allein feiere.“
 
Er nickte bedächtig. „Okay, deine Alte ist also auch weg. Genau wie meine. Hast du keine Kinder, mit denen du feiern kannst?“
 
„Die hassen Weihnachten und sind über die Festtage auf den Kanaren. Nein, ich werde am Heiligen Abend an die vielen Jahre denken, wo Marion und ich unterm Weihnachtsbaum gesessen und Weihnachtslieder gesungen haben. Oh du Fröhliche und so“, spottete ich bitter.
 
Die Tränen traten mir schon wieder in die Augen, und ich war froh, dass Justus viel zu oberflächlich und unsensibel dachte, als dass er es bemerkt hätte.
 
„Weißt du was?“, rief er. „Wir suchen uns zu Weihnachten gemeinsam eine Frau, und dann feiern wir zusammen. Das wär’s doch, oder?“
 
"Ich will noch keine Neue. Ich hänge noch meiner alten."
 
"Na, ein Mann wie du wird sich doch nicht entmutigen lassen. Komm, ich zeige dir wie's geht. Falls du mal wieder..."
 
„Eine für dich, und das war's dann", sagte ich. Ich lächelte ein wenig und versuchte, mich aufzumuntern.
 
„Für jeden eine, falls du dann doch eine willst. Ich teile nicht gern, Jürgen, Alter, das weißt du doch noch von früher, oder?“ Er haute mir ansatzweise auf die Schulter, und ich erinnerte mich, dass er nie etwas von dem abgegeben hatte, was er besaß.
 
„Wie willst du denn innerhalb eines Monats zwei Frauen klar machen?“, fragte ich in dem Versuch, seinen Jargon nachzuahmen. „Jede anquatschen, so lange, bis eine einwilligt? Das klappt nicht, glaube mir.“
 
Er sah mich an und schüttelte grinsend den Kopf. „Komm, ich zeige dir, wie man das macht. Du wirst staunen. Staunen wirst du, Alter. Aber wie...“
*
Unsere Autos standen im Parkhaus, als wir uns eine günstige Stelle an der Kasse der Lebensmittelabteilung eines berühmten Kaufhauses in Berlin suchten.
 
„Guck mal“, spottete Justus und zeigte auf die Schlangen an den Kassen. „Viele ältere Ehepaare. Sie sammelt ein, er schiebt den Wagen und wuchtet den Kasten Bier hinein. Zahlen tut sie vom Haushaltsgeld, was er ihr vorher in die Hand gedrückt hat.“
 
„Ja und?“, fragte ich. "Was hat das mit uns zu tun?"
 
„Nun warte doch, Alter, es kommt gleich. Jede zehnte Kundin ist Single und im passenden Alter“, rief er.  „Die erkennst du daran, was sie einkauft. Ein fast leerer Wagen mit geringen Mengen je Artikel deutet immer auf eine Singlefrau hin.“
 
Ich hob die Augenbrauen und lächelte. Stimmt, daran hatte ich noch nicht gedacht. „Und wie sprichst du sie an?“
 
„Das kommt darauf an, auf was sie anspricht. Wenn sie keine Plastiktüte kauft, will sie mit dem Einkaufswagen an ihr Auto im Parkhaus. Das ist umständlich, weil sie dann den Wagen wieder weg bringen muss. Da holst du einen Karton aus der Ecke, wo die leeren stehen und bietest ihr den an. Dann hilfst du ihr beim Umpacken. Du sagst, dass du auch ins Parkhaus musst und den Karton gern für sie trägst.“
 
„Du scheinst ja Menschenkenntnis zu haben“, rief ich bewundernd.
 
„Übung, reine Übung. Oder du folgst ihr ins Parkhaus, drückst ihr einen Euro in die Hand und sagst, dass du für sie den Wagen zurück bringst. Weil du eh einen brauchst.“
 
„Und wenn das alles nichts bewirkt?“
 
„Dann stellst du dich hinter einer an die Kasse und nimmst den Stab zwischen euren Sachen raus. Dann zahlt sie deins mit. Muss ja nicht viel sein, was du einkaufst. Irgendwas Flaches, sonst sieht sie es zu früh. Und hinterher müsst ihr alles auseinander rechnen. Da hast du massig Zeit, deinen Charme spielen zu lassen.“
 
Ich lachte bewundernd. „Und das klappt?“
 
„Das klappt immer“, behauptete er. „Es hat noch nie, nie, nicht geklappt.“
 
"Zeigen", forderte ich. "Sonst glaub' ich es dir nicht."
 
"Da, da", rief Justus plötzlich. "Da ist eine Frau mit minimalen Einkäufen. Die ist bestimmt Single. Ich stell' mich hinter sie und leg' eine Packung Zigaretten an den Schluss ihrer Einkäufe. Die zahlt sie dann mit und..."
 
Justus huschte hinter die Lady, holte eine Packung Luckies aus dem Kasten, verschob ihren Einkaufsstab, legte die Ziggies dazwischen und pfiff sich eins. 
 
Vom Ausgang der Kasse her näherte sich ein junger Mann, während die Kassiererin die Ware eine nach der anderen über den Scanner zog.
 
"Schatz, hast du an Zigaretten... ah, da sind sie ja."
 
Der Typ griff die Schachtel und verschwand, während sie zahlte.
 
Ich ging dann, aber Justus filtert - glaube ich - immer noch Singles für Weihnachten.
 
Justus' System ist ganz schön störanfällig, aber wenn ich Glück habe, klappt's, falls ich irgendwann  mal wieder Bedarf an einer Frau habe sollte.
 
© Jürgen Berndt-Lüders

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.12.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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