Regina Sedelke

Weihnachtsgeschenk

Weihnachtsgeschenk
Er saß allein am Küchentisch. Allein, wie seit langem.  Auf dem Tisch  die Tabletten. Er hatte sie schon unzählig Male gezählt. Über Wochen hatte er sie gesammelt. Er wollte sicher sein, dass es genügte.
Als er sie in die kleine Schachtel zurücklegte, nahm er jede einzelne in die Hand und betrachtete sie sehnsuchtsvoll.  Sie waren seine einzigen Freunde, seine Verbündeten. Sie würden im letztlich helfen von hier fortzukommen.
Morgen war Heiligabend, der zweite seit seine Frau gegangen war, die Kinder hatten sich schon lange vorher von ihm abgewandt. Heimlich trafen sie sich mit ihrer Mutter, er wusste davon, aber er ließ  sich nichts anmerken, er ging dann in sein Arbeitszimmer  und schrieb… schrieb was sowieso niemand lesen wollte.
Er war müde. Es war jetzt genug…fand er. Morgen würde er Heilig Abend feiern, mit seinen Freunden, die ihm schon seit Wochen zur Seite standen. Seinen einigsten Freunden.
Er legte die Schachtel mit den Tabletten zurück auf den Schrank und schlürfte mit müden Schritten ins Wohnzimmer. Schon lange machte er sich nicht mehr die Mühe, zum schlafen ins Bett zu gehen. Er legte sich aufs Sofa, schaltete lustlos den Fernseher ein, nur um sich sofort über den Inhalt der Programme zu ärgern. Alles Lug und Trug. Die Welt an sich war ungerecht, das wusste er schon lange. Insbesondere  hatte sie sich gegen ihn verschworen. Überall  Bilder von glücklichen Menschen, die sich gegenseitig beschenkten. Er fragte sich, warum all die Menschen so glücklich waren, er konnte sich nicht daran erinnern, jemals im Leben wirklich glücklich gewesen zu sein. Es war auch kaum zu erwarten, dass ihm jemand etwas schenken würde. Aber wozu sich jetzt noch aufregen! Morgen würde er Weihnachten feiern. Er würde mit seinen Freunden eine Flasche Wein trinken. Da hatte er nicht gespart. Er hatte keinen billigen Fusel  ausgewählt, sondern einen, der vor den Augen der Welt bestehen konnte. Sogar an eine Kerze hatte er gedacht. Es war ja schließlich Weihnachten.
Er ließ seine Gedanken abschweifen, dachte über das Fest am kommenden Tag nach und seine Reise die er machen würde. Die Worte aus dem Fernseher waren jetzt weit weg. Er hörte sie irgendwo von weither, aber sie waren nicht mehr wichtig. Eine Frau und ein Mann erregten seine Aufmerksamkeit. Das Scenario war unwirklich. Die Landschaft  verwüstet.  Staub, Schlaglöcher, Brandgeruch in der Luft. Die beiden schienen wie auf der Flucht, sie schienen gehetzt, kamen aber nur langsam voran.
Das war irrwitzig. Es musste ein Traum sein! Klar ein Traum war die einzige Erklärung! Aber warum fühlte es sich dann so an, als wäre er mit Leib und Seele hier zugegen. Wie man es in solchen Situationen tut, versuchte er aufzuwachen. Aber vergeblich. Da drehte der Mann sich plötzlich  um und rief ihm etwas zu. Verblüfft sah er zu ihm herüber. Er hatte doch nicht wirklich mit ihm gesprochen? Nein das konnte nicht sein. Jetzt war aber genug. Wieder versuchte er gewaltsam die Augen zu öffnen.  Erfolglos, er konnte nicht entkommen. Sollte das  ein Scherz sein?  OK, ignorieren! Es würde schon vorbeigehen. Wenn er ihn nicht mehr beachtete, würde sich alles in Luft auflösen und er würde auf seinem Sofa aufwachen.
-Bitte! So helfen Sie uns doch!- rief der Mann ihm verzweifelt zu.
Fassungslos sah er ihn an, mit dem Finger auf sich selbst deutend. –Meinen Sie mich?-
-Ja wen denn sonst?  Bitte schnell! Helfen Sie uns ein Versteck zu suchen. Wenn sie uns finden, werden sie uns töten!-
Langsam kam Bewegung in ihn.
-Was zum Teufel geht hier vor?-  rief er. –Wo sind wir hier?-
- Im Krieg, mitten im Krieg! Wir schaffen das nicht alleine. Sie müssen uns helfen!-
Er fragt sich einen Moment von welchem der vielen Kriege auf dieser Welt dieser Mann gerade sprach. Aber egal, von welchem auch immer. Hier war etwas nicht in Ordnung! In seinem Land gab es keine Kriege.  Aber er konnte sich der offensichtlichen Verzweiflung der beiden nicht entziehen. Sie nahmen die Frau zwischen sich, stützten sie ab. Sie schien ungelenk. Das Laufen viel  ihr schwer.
Die Landschaft war karg und unheimlich. Hier und da ein vertrockneter Busch, Gras, das kläglich versuchte sich seinen Weg an die Oberfläche zu bahnen und es heulte ein furchterregender Wind der ihnen den Staub in die Augen trieb. Etwas abseits, zur Rechten, konnte er einige kleinere Felsbrocken erkennen. Weit draußen am Horizont ein riesiger Gebirgszug, auf dessen Gipfeln er Schnee erkennen konnte. Gehetzt sah er sich um. Sie mussten irgendwo einen Unterschlupf finden. Die Frau schien am Ende ihrer  Kräfte zu sein. Da fiel sein Blick auf zwei eng aneinander stehende Felsblöcke.
-Da!- schrie er dem Mann, mit vom Wind verzerrter Stimme, zu und deutete mit dem Kopf auf die Felsen. Dieser folgte seinem Blick, musterte die Felsen einen Moment und schüttelte den Kopf.
-Nein, die sind viel zu klein, dahinter finden wir keinen Schutz-
Er wunderte sich. Wieso konnte er nicht sehen was doch so offensichtlich war?
-Kommt- Sie durften keine Zeit verlieren.  Er zog die beiden in Richtung der Felsen. Dort angekommen hastete er zielstrebig auf die kleine Spalte zwischen ihnen zu. Er duckte sich, tastete einen Moment im Dunkeln und war dann verschwunden.
Der Mann und die Frau draußen sahen sich erschrocken an, dann hörten sie ihn dumpf und begeistert rufen.
-Hier ist eine Höhle. Klein aber fein!  Hier dürfte uns niemand finden.-
Nach einer Weile saßen sie sich alle gegenüber. Während sie versuchten, ihren Atem zu beruhigen, konnte er die beiden zum ersten Mal richtig wahrnehmen und erschrak. Die Frau war offensichtlich hochschwanger! –Nein! Was für ein Traum!- Er fragte sich was noch alles kommen würde bevor er endlich wieder erwachen konnte.
Aber er hatte keine Zeit, weiter Nachzudenken. Plötzlich war alles hektische Betriebsamkeit, in der kleinen Höhle. Er zündete ein Feuer an, was natürlich nur im Traum möglich war. Er musste Lächeln, als er daran dachte, dass sie sich in Wirklichkeit dadurch verraten würden. Aber dies war nicht wirklich. Er träumte und im Traum war alles möglich. Er musste einfach nur wollen und fest an die Dinge glauben. Damit war also auch das Problem mit dem Wasser gelöst. Entschlossen sah er auf die Felswand zu seiner Linken… und da war es! Das kleine Rinnsal mit glasklarem Wasser, das lustig aus den Steinen plätscherte. Jetzt mussten Decken her! Sie brauchten etwas um das Kind zu wärmen, das in wenigen Minuten geboren werden würde. Er sah fest in das Innere der Höhle…und da waren die Felle, die irgendjemand hier liegengelassen hatte.
Dann saßen die drei im Kreis und bestaunten das Kind, das gut vom Feuer und den Fellen gewärmt in ihrer Mitte lag.
-Danke. Wir werden dir nie vergessen was du für uns getan hast-
Die Frau lächelte ihn dankbar an. Es war das erste Mal, dass sie mit ihm sprach. Er blickte verlegen zur Seite und winkte ab.
-Aber das war doch nichts. Ihr hättet das auch ohne mich geschafft.-
-Nein! Das konntest nur du. Dazu waren dein Wille und deine Fantasie nötig. Es ist sehr wichtig für unser Land, das unser Kind lebt. Es hat noch viel zu tun hier. Jeder hat in seinem Leben  seine Aufgaben. Darum dürfen wir dich jetzt nicht mehr weiter in Anspruch nehmen. Du musst zurück in dein Land, denn dort brauchen sie dich.-
In diesem Moment erwachte das Kind in ihrer Mitte. Es schlug die Augen auf und lächelte ihn an. Pflanzte sein Lächeln direkt in sein Herz.
Er hörte das Stimmen des Fernsehers in seinem Unterbewusstsein auftauchen. Sein Arm war eingeschlafen und das Kreuz steif von der unbequemen Lage auf dem Sofa. Da war er also wieder. In seiner Wohnung, in seinem Leben. Es war sechs Uhr morgens. Der Tag des Heiligen Abends. Aber dies war nicht sein altes Leben.
Er stand auf, mit dem Lächeln auf den  Lippen, dass das Kind ihm geschenkt hatte. Das beste Weihnachtsgeschenk, das er je in seinem Leben bekommen hatte.
Er ging in die Küche und verabschiedete sich von seinen Freunden, die falschen Freunde waren.
Danach ging er ohne Angst und Groll in die Welt, um richtige Freunde zu finden und sich den Aufgaben zu stellen, die dort auf ihn warteten…

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.12.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Spiele mir auf meiner Flöte: Minnepoesie aus dem 21. Jahrhundert (1001 Minne) von Giovanni Vandani



Er, der sehnsuchtsvoll Begehrende - sie, die Klare, Nüchterne und vielfach Engagierte. Dazwischen viel Alltag, fast 30 Jahre Ehe, eingeschliffene Gewohnheiten. Beide haben mittlerweile die 50 überschritten. Die erotische Spannung ist aus dem Leben gewichen. Im Schreiben sucht Giovanni einen Weg, seine Liebe neu zu finden. In einer poetischen Sprache voll Sehnsucht und Erotik, die bei aller Deutlichkeit der Bilder nie ins Vulgäre abgleitet und streckenweise an mittelalterliche Minnelieder erinnert, spürt er seinen Gefühlen nach, singt von Lust und Ekstase, enttäuschten Erwartungen und unerfüllten Sehnsüchten...

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