Patrick Schleicher

Fünf vor zwölf

Es war fünf vor zwölf. Sie waren in Eile. Die Ampel sprang auf grün, die Fahrzeugkolonne setzte sich in Bewegung. Sie erwischten den letzten Parkplatz, öffneten die Türen, stiegen aus. Der Schweiß stand ihnen auf der Stirn. Der Große drückte dem Kleinen ein paar Geldstücke für die Parkuhr in die Hand, stürmte zum Kofferraum, hob den Deckel und stemmte den Feldrucksack aus dem Wagen. Er wunderte sich oft, wie die schmalen Schultern seines Freundes dieses Gewicht tragen konnten. Da kam er hastig von der Parkuhr zurück.

Hoch oben am prunkvollen Bahnhofsgebäude verrichtete seit den Pionierjahren der Eisenbahn eine Uhr ihren Dienst. Noch viermal sollte der Minutenzeiger an jenem Tag vorrücken, bis es zwölf schlug, der Fernzug abfuhr und sich die Wege zweier Freunde trennten.

Der Große schulterte den Rucksack und schritt zügig voran, als wollte er die Zeit zurückgewinnen, die sie im Stau und im Innenstadtverkehr verloren hatten. Doch die Uhr ließ sich nicht zurückdrehen, sie tickte unaufhaltsam weiter. Ihnen blieben drei Minuten.

Er betrat die Halle des Bahnhofsgebäudes. Der Kleine hatte Mühe, Schritt zu halten. Obwohl sie sich ihres Zieles, Gleis 18, bewusst waren, blieben sie stehen. Aus allen Richtungen strömten Menschen. Das letzte Mal waren sie hier vor ein paar Jahren als Schuljungen. Hier tat sich nicht viel in der Zeit, und doch war alles anders. Sie betrachteten ihre Umgebung mit den Augen Erwachsener. Sie wirkten verstört, denn sie fühlten, wie sie es früher nicht taten. Sie nahmen Details wahr, die bislang verschwommen am Rande ihres Blickwinkels lagen. Sie durften nicht lange verweilen und setzten zügig ihren Weg fort.

Eine Gruppe Schüler kam flachsend entgegen. Wie unbekümmert sie auf ihrem Heimweg waren. Wie weit waren Hausaufgaben, der nächste Schultag, ihre Zukunft entfernt. Welch Heiterkeit sie in diesen tristen Gang zauberten. Ein Obdachloser lief wie von Tieren getrieben von Mülleimer zu Mülleimer, leuchtete mit seiner Taschenlampe hinein und zog Flaschen heraus, die er in einen dreckverschmierten Plastiksack steckte. Eine Katze roch zu seinen Füßen an einem verlorenen Stück Speck, stieß mit der Tatze daran und entschwand schreckhaft, als der Gehstock eines gebrechlichen Alten an eine Dose stieß. Das von den Jahren gezeichnete Gesicht seiner Begleiterin rührte sich nicht. Ihr Kopf blieb gesenkt. Sie suchte Halt an ihm, für den selbst jeder Schritt eine Herausforderung war. Es stank nach Schweiß und Abfall.

Sie erreichten die Stufen zum Gleis, hielten kurz, blickten hinauf, stiegen und kamen oben ohne Atem an. Gleis 18. 11:58 Uhr und ein paar Sekunden. Ihnen blieben keine zwei Minuten. Der Zug war nicht da. Er setzte den Rucksack ab. Wie abstrus war ihm dieser Anblick. Das Gesicht seines Freundes, der einen ganzen Kopf kleiner war als er, in dieser Uniform. Einen Moment lang sah er im Gedanken wie sie beide in Kindertagen im Sandkasten spielten. Es war dasselbe Gesicht. Da waren keine Falten. Es waren dieselben Augen. Sein Blick wirkte zurückhaltend und forsch zugleich. Dieselben Züge. Seine schmalen Lippen berührten sich sanft. Markant fielen seine Wangen zum Kinn. Wie ein Kind sah er heute noch aus, nur steckte er in dieser Uniform.

Der Minutenzeiger sprang um. Weit hinten auf der Höhe des Güterbahnhofs tauchte der Fernzug auf. Eine Ansage verkündete es. Sie nahmen beides nicht wahr. Umgeben von Unsicherheit und Angst sahen die Freunde einander an. Sie waren frei wie die jungen Vögel, die sich im Winter in Nachbars Garten um die Meisenknödel rankten. Frei und doch gefangen.

Die Lippen des Kleinen begannen zu beben. Er wollte etwas sagen - er sagte nichts. Er wollte weinen, doch sein Wille stark zu sein, siegte über die Tränen, die zum Abperlen bereit auf seinen Augen lagen. Er wollte fliehen - ihm fehlte der Mut. Ihm fehlte der Mut, der in dieser Gesellschaft nichts zählte. Der Mut zum Nein, zum Rückzug, zur Freiheit, zum Leben. Denn diese Gesellschaft gierte nach einer anderen Form des Mutes. Es war der Mut zum Sieg, der zählte, der Mut zum Sieg und sei es um jeden Preis. Er war Mensch und gefangen.

Der Zug war eingefahren, es blieb eine halbe Minute. Die Heimkehrenden betraten den Bahnsteig, während die Abreisenden gierig drückten und schoben im Kampf, um die wenigen freien Sitzplätze. Eine Tochter stürzte heraus, ließ das Gepäck fallen und fiel voller Tränen in die Arme ihrer Eltern. Glücklich klopfte ihr der Vater auf die Schulter, während die Mutter von ihr losließ und nach Taschentüchern suchte.

Unbekümmert davon standen sich die beiden Freunde gegenüber. Der Schaffner schaute auf die Uhr und griff zur Pfeife. Es war kurz vor zwölf. Der Große hielt seinen Freund fest, der sich zum Einsteigen drehte. Er umarmte ihn kurz und flüsterte "Gute Reise". Es blieb keine Zeit, zu antworten. Er stieg ein, hob die Hand zum letzten Gruß und zwang sich zu einem Lächeln.

Es schlug zwölf.

Der Schaffner setzte die Pfeife an seine Lippen. Wie der kreischende Schrei eines Kindes erreichte der Pfiff den Zugführer. Mit einem dumpfen Schlag fielen die Türen zu. Die Lok schleppte die Waggons aus dem Bahnhof. Der kleine Soldat war fort.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.12.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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