Diethelm Reiner Kaminski

Mein Mann, das unbekannte Wesen



Wie mein Mann ist, möchten Sie wissen? Da bringen Sie mich direkt in Verlegenheit. Da müsste ich, glaube ich, lange nachdenken, bevor mir was einfällt, was sich zu erzählen lohnte. Der lebt so neben mir her. Unsichtbar, ja, das ist das richtige Wort: unsichtbar. Meist wird er gar nicht bemerkt, auch nicht von mir. Er wird überhaupt nur zusammen mit mir wahrgenommen. Wenn ich nicht neben ihm stehe, ist der gar nicht vorhanden. Die Leute sagen nicht etwa: „Und das ist bestimmt Ihr Mann“, sondern mit Häme in der Stimme: „Ist das Ihr Mann?“
„Ja,“ sage ich dann bissig, „ist er“, womit der Fall  für mich erledigt ist und er wieder aus dem Rampenlicht der Öffentlichkeit ins totale Vergessen zurückfällt. Wenn ich meinem Mann eine Farbe zuordnen sollte, käme nur Grau in Frage, ja genau, Grau, keine andere, nicht mal ansatzweise eine andere Farbschattierung. Mein Mann ist die Langeweile in Person. Keine Interessen, keine beruflichen Ambitionen, keine eigene Meinung, keine Fantasie. Ein Schatten, wenn Sie wissen, was ich meine. Er ist einfach nur da.
´n bisschen wenig, nicht wahr? Ob man ihn braucht oder nicht braucht, er ist einfach da. Ich brauche ihn aber nie. Ist natürlich auch bequem, jemanden zu haben, der nie widerspricht, nie streitet, nie aufmuckt, sich nie aufdrängt, aber auf Dauer ist das nur lästig. Denn ein Mann ist das nicht. Eine Memme, ein Pantoffelheld.
Wie ich an den geraten bin? Der ist mir zugelaufen. Ich befand mich in einer momentanen emotionalen Schwachphase, weil mich mein Traumtyp im Stich gelassen hatte, und da lernte ich den Lothar zufällig kennen. Irgendwie tat mir seine stille Anhimmelei in meiner Situation gut, und da bin ich halt, ohne lange drüber nachzudenken, in die Ehe gestolpert. Egal, es gibt Schlimmeres. Er ist mir nicht im Wege. Kein Mann zum Vorzeigen und Repräsentieren, aber wenn schon ... Es gibt ja auch noch andere.
Neulich beobachte ich, wie Lothar, als ich unverhofft in sein Arbeitszimmer trete, hastig etwas in seine Schreibtischschublade schiebt. Höchst verdächtig. Heimlichkeiten kenne ich sonst gar nicht von ihm. Was sollte Mister Gray auch groß für Geheimnisse haben? Ich lasse mir nichts anmerken, bin jedoch neugierig geworden, was sich Lothar neuerdings für Freiheiten herausnimmt.
Ich schicke ihn zum Einkaufen und untersuche seinen Schreibtisch. Von sechs Schubladen ist nur eine verschlossen. Kein Problem. Mit einer Nagelfeile lässt das primitive Schloss sich unschwer öffnen, ohne dass irgendwelche Spuren zurückbleiben. Ich traue meinen Augen nicht: Briefe bündelweise, alle mit der gleichen zarten Schrift auf den Umschlägen. Parfumduft steigt mir in die Nase. Obenauf liegt ein begonnener Brief mit dem heutigen Datum:
 
Meine über alles geliebte Katja,

nicht mehr lange, und wir haben uns für immer. Ich kann diese graue Maus nicht mehr ertragen. Ohne Gefühle, ohne Tiefe, ohne Fantasie, und herrschsüchtig noch dazu. Mich hält sie nicht nur für einen Idioten, sie stellt mich auch in aller Öffentlichkeit als Idioten hin. Sie wird sich noch wundern. Alles ist vorbereitet. Marianne traut mir zum Glück keine Schlechtigkeit zu. Ich kenne ihrer Meinung nach keine eigenen Bedürfnisse. Deshalb hat sie es nicht für nötig gehalten, Ihre Bankkonten zu sichern. Ich habe zu allen Konten eine Zugangsberechtigung. Morgen räume ich sie ab. Heute verkaufe ich noch das Haus, das Marianne mit in die Ehe gebracht hat. Einen Termin mit dem Käufer habe ich bereits vereinbart. Die Flugtickets nach ….“
 


Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Diethelm Reiner Kaminski).
Der Beitrag wurde von Diethelm Reiner Kaminski auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.12.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Diethelm Reiner Kaminski als Lieblingsautor markieren

Buch von Diethelm Reiner Kaminski:

cover

Von Schindludern und Fliedermäusen: Unglaubliche Geschichten um Großvater, Ole und Irmi von Diethelm Reiner Kaminski



Erzieht Großvater seine Enkel Ole und Irmi, oder erziehen Ole und Irmi ihren Großvater?
Das ist nicht immer leicht zu entscheiden in den 48 munteren Geschichten.

Auf jeden Fall ist Großvater ebenso gut im Lügen und Erfinden von fantastischen Erlebnissen im Fahrstuhl, auf dem Mond, in Afrika oder auf dem heimischen Gemüsemarkt wie Ole und Irmi im Erfinden von Spielen oder Ausreden.
Erfolgreich wehren sie mit vereinten Kinderkräften Großvaters unermüdliche Erziehungsversuche ab.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (3)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Mensch kontra Mensch" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Diethelm Reiner Kaminski

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Der Wettlauf von Diethelm Reiner Kaminski (Fabeln)
Nazis, Stasi und andere verdiente Bürger von Norbert Wittke (Mensch kontra Mensch)
VERZWEIFLUNGSSCHREI EINES KINDES von Julia Thompson Sowa (Trauriges / Verzweiflung)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen