Jutta Schroth

Die Honigbiene Elocin

Die Geschichte von der Honigbiene Elocin

Mich fragte eines Tages jemand, ob ich mir vorstellen könnte, eine Biene zu sein. Zunächst dachte ich, es handele sich um eine Scherzfrage, doch ich hatte mich geirrt. Mein Gegenüber meinte es völlig ernst. So begann ich, darüber nachzudenken. Eine Biene? In einem großen Staat leben? Keine Privatsphäre haben? Kein eigenes Leben führen, sondern nur, um der Gemeinschaft zu dienen? Immmer arbeiten, Nektar sammeln, Honig machen, die Königin versorgen?
„ Nein,“ antwortete ich entschieden. Mein Gegenüber lächelte. Er fragte nicht nach meinen Gründen, sondern sagte nur einen Satz.
„ Du kennst Elocin also nicht.“
„ Wer soll das sein?“
„ Eine Honigbiene war sie. Willst du ihre Geschichte hören?“
„ Warum nicht.“ Besonders interessiert war ich eigentlich nicht, doch im Fernsehen kam nichts Vernünftiges und es war zu früh, um heimzugehen. Also konnte ich mir auch eine Geschichte anhören. Und Elocins Geschichte begann so:

Weit entfernt, in einem Land, dessen Namen niemand weiß und das auf keiner Karte zu finden ist, gab es einen großen Bienenstock. Dort lebten mehr Bienen, als du dir überhaupt vorstellen kannst. Es waren so viele, daß der Himmel schwarz wurde, wenn der ganze Schwarm ausflog. Alle Bienen kannten nur einen Sinn und Zweck in ihrem Leben: Nektar zu sammeln und der Königin zu dienen.
Elocin war eine von ihnen. Wie jede Biene war sie gelbschwarz gestreift, hatte zwei kleine Flügel und einen spitzen Stachel. Sie sammelte jeden Tag fleißig Honig, versorgte die Larven der Königin und kümmerte sich um das Wohl der Gemeinschaft. Trotzdem war die Königin nie ganz zufrieden mit ihr.
„ Elocin, du sammelst viel weniger Nektar als die anderen Bienen!“ schimpfte sie.
„ Du bist immer eine der Letzten, die abends heimkommt. Strenge dich mehr an!“
Elocin versuchte es. Doch manchmal, wenn sie eigentlich wie die andern Bienen emsig Nektar sammeln sollte, schaute sie in die Ferne. Der Himmel war so weit und hoch. Das Blumenmeer wollte nicht enden und es roch nach Ruhe und Freiheit.
‚ Könnte ich doch in die Unendlichkeit fliegen,’ dachte Elocin dann immer.
Doch sofort schämte sie sich für ihre Gedanken und beeilte sich, ebenfalls Nektar zu sammeln.
Versorgte sie abends die Larven, schweiften ihre Gedanken ab. Sie träumte von der Weite, dem unendlichen Blumenmeer und der Freiheit.
„ Elocin, träumst du schon wieder?!“ schalt sie die Königin, wenn sie sie erwischte. Elocin senkte den Blick und deckte die Larven zu.

„ Siehst du, hab ich doch gesagt. Das Bienenleben ist bescheuert!“ rief ich aus.
Mein Gegenüber seufzte.
„ Es ist hart, ja, aber du könntest dir wirklich eine andere Ausdrucksweise angewöhnen.“
„ Ist doch wahr, es ist bescheuert,“ brummelte ich. Doch mein Gegenüber überhörte mich und erzählte weiter.

Es war spät am Nachmittag. Einige Bienen machten sich schon auf den Rückweg. Elocin jedoch saß auf einer Blüte und sah in die Ferne. Sie wußte zwar, daß die Königin sie wieder ausschelten würde, wenn sie zu spät zum Stock zurückkehrte, doch sie konnte nicht aufhören, zu träumen. Plötzlich hörte sie ein lautes Summen über sich. Es wurde immer stärker und dann tauchte eine große, dicke Hummel über ihr auf, die landete und sich neben sie setzte. Elocin war verärgert. Ihre Träume waren jäh zerplatzt und sie hatte nicht die geringste Lust, sich mit dem schweren Brummer zu unterhalten. Als Biene gab man sich mit Hummeln nicht ab.

„ Die ist aber ganz schön versnobt,“ meinte ich.
„ Willst du nun hören, wie es weitergeht oder nicht?“ fragte mein Gegenüber tadelnd.
„ Ich sag ja nur,“ blaffte ich beleidigt, doch ich beschloß, mich zurückzuhalten. Ich wollte schließlich wirklich hören, wie es weiterging.

Die Hummel saß still neben Elocin und schien es zu genießen, ein Sonnenbad zu nehmen. Mit der Biene sprach sie kein Wort. Elocin wurde immer wütender. Sie hatte erwartet, daß die Hummel sie frech ansprechen würde. Jede Biene wußte, daß Hummeln grob, unverschämt und faul waren. Na, die sollte nur ein Wort sagen, dann würde Elocin es ihr zeigen. Doch die Hummel schwieg und schien sie zu ignorieren. Elocin betrachtete sie finster und sagte schließlich:
„ Diese Blüte hatte ich mir ausgesucht.“
Die Hummel blinzelte und fragte gemächlich:
„ Seit wann hat eine Biene Zeit, sich auszuruhen und die Sonnenstrahlen zu genießen?“
„ Wozu ich Zeit habe und wozu nicht, geht dich gar nichts an!“ gab Elocin aufgebracht zurück. „ Ich war zuerst hier und ich wäre gerne allein!“
Die Hummel schloß ihre Augen wieder.
„ Weiß deine Königin eigentlich, daß du lieber rumsitzt und träumst, anstatt Nektar zu
sammeln? Paß auf, zur Strafe wirst du sicherlich eine Extraschicht Larvensitten
machen müssen.“
Elocin entging der spöttische Ton der Hummel nicht und sie raste vor Zorn.
„ Woher willst du überhaupt wissen, wofür wir bestraft werden oder was für ein Leben
wir führen?!“
Die Hummel lachte.
„ Was glaubst du, wie oft ich euch Bienen schon beobachtet habe? Ihr seid immer die
Ersten an den Blumen, ihr fliegt und fliegt, sammelt und sammelt, arbeitet und
arbeitet. Nie habt ihr einen Blick für die Schönheit der Erde, das Blau des Himmels
oder den Duft des Regens.“
„ Oh, daß eine Hummel dafür einen Blick hat, glaube ich dir gerne. Darüber vergeßt ihr
aber, daß die Gemeinschaft leben muß, daß das Leben harte Arbeit ist und Faulenzen
den Staat nicht weiterbringt.“
„ Wer hat dir das denn erzählt. Deine Königin? So kann nur jemand reden, der selber
nichts tun muß.“
„ Unsere Königin arbeitet sehr wohl!“
„ Was macht sie denn so den ganzen Tag?“
Elocin öffnete den Mund, schloß ihn aber sogleich wieder. Was machte die Königin eigentlich? Wenn Elocin mit ihr zusammentraf, paßte sie nur auf, daß alle ihre Arbeit taten und schalt die, die zuwenig leisteten.
„ Sie legt Eier,“ sagte sie schließlich leise.
„ Oh, ich wäre auch total erschöpft, wenn ich an ihrer Stelle wäre. Sie legt Eier,
kommandiert euch und die Dronen herum und läßt sich bedienen. Vielen Dank, da bin
ich doch lieber eine freie Hummel.“
„ Das darfst du nicht sagen. Ohne sie könnten wir nicht überleben. Sie kann als Einzige
Eier legen. Sie sorgt für den Fortbestand unserer Art.“
„ Ja, aber ihr sorgt für ihre Nahrung und die der Larven. Sie könnte ohne euch auch
nicht leben.“
So hatte Elocin die Angelegenheit noch nie betrachtet. Sie mußte zugeben, daß die Hummel in manchen Punkten Recht hatte.
„ Bevor wir uns weiterstreiten, wüßte ich gerne deinen Namen. Ich heiße Snej.“
„ Mein Name ist Elocin.“
„ Ich mache dir einen Vorschlag, Elocin. Wollen wir nicht die Sonne genießen, solange
sie noch scheint, anstatt uns wegen deiner Königin an die Gurgel zu gehen?“
„ Na gut,“ lenkte Elocin ein. Eigentlich wollte auch sie lieber die Sonne genießen, bevor sie unterging. Bevor sie unterging? Elocin schoß in die Luft.
„ Ich muß zurück! Oje, ich werde zu spät kommen. Oje, alles nur, weil ich mit dir
geredet habe, alles nur, weil ich wieder geträumt habe! Oje, ich lerne es nie. Träume
sind nicht gut, Träume sind nicht gut für eine Honigbiene! Leb wohl!“
Und sie flog auf und davon, schnell, schnell zum Bienestock. Snej sah ihr nach, bis sie ganz verschwunden war.
„ Arme kleine Biene,“ sagte er wehmütig, dann flog auch er davon.

Elocins Strafe betrug nicht eine, sondern drei Extraschichten Larvensitten. Die Königin war sehr böse auf sie, schimpfte und zeterte und schlug mit ihrem Zepter nach ihr. Sie verbot ihr einfürallemal zu träumen und schloß sie in den Larventrakt ein. Erst bei Sonnenaufgang würde sie Elocin zum Honigsammeln wieder herauslassen. Die kleine Biene wagte gar nicht daran zu denken, wann sie wieder Zeit zum Schlafen finden würde.
‚ Ich bin es ja selber schuld,’ dachte sie, während sie in dem Gang saß und dem Atem der Larven lauschte.
‚ Was mußte ich mich auch mit diesem Snej unterhalten? Und wenn ich nicht geträumt
hätte, hätte ich sicher mehr Honig gesammelt. Ich muß damit aufhören, sofort!“
Doch schon während sie das dachte, kullerten ihr die Tränen aus den Augen.

„ Ist was?“ unterbrach sich mein Gegenüber, als ich mir geräuschvoll die Nase putzte.
„ Ich habe mich nur erkältet,“ sagte ich verlegen.
„ Ich dachte schon, Elocins Schicksal würde dich so berühren.“
„ Pah, es ist nur eine Geschichte. Nein, nein, ich bin nur erkältet,“ beharrte ich.
Mein Gegenüber grinste und erzählte weiter.

„ Pst, kleine Biene.“
Elocin sah auf. Wie lange sie schon hier saß, wußte sie nicht mehr.
„ Pst, hallo,“ flüsterte jemand. Am Wabenfenster tauchte Snej auf.
„ Was tust du hier?“ fragte Elocin erschrocken.
„ Ich wollte wissen, wie es dir geht. Bist du hart bestraft worden?“
„ Es geht. Drei Sonderschichten, aber die gehen auch vorbei,“ antwortete Elocin heiter und flog zu ihm. Snej betrachtete sie aufmerksam. Ihm entgingen weder die Spuren der Tränen noch die Schrammen, die das Zepter der Königin hinterlassen hatte.
„ Es ist meine Schuld,“ sagte er leise.
„ Ach was. So schlimm ist es ja gar nicht. Ich werde in den nächsten Tagen wenig Schlaf
bekommen, aber das geht auch vorbei. Ich bin ungehorsam gewesen, nun muß ich
dafür büßen.“
„ Aber das ist doch nicht richtig,“ sagte Snej wütend.
„ Nicht so laut,“ mahnte Elocin. „ Ich bin froh, daß sie alle schlafen. Weck sie bloß nicht
auf.“
„ Soll ich dir ein bißchen Gesellschaft leisten?“
Elocin blickte sich ängstlich um.
„ Snej, ich habe schon genug Schwierigkeiten. Wenn sie uns erwischen, wird die Königin
schrecklich böse auf mich sein.“
„ Verdammt, die Königin ist mir völlig egal. Sag mir, was du willst!“ brauste Snej auf.
So eine Frage hatte Elocin noch niemand gestellt und sie wußte nicht, was sie darauf antworten sollte.
„ Ich möchte so gerne etwas schlafen,“ sagte sie müde.
„ Gut, dann mach das. Ich paß auf die Larven auf und morgen früh wecke ich dich.“
„ Das geht doch nicht.“
„ Doch, niemand wird uns erwischen. Sollte eine der Larven aufwachen, wecke ich dich
und versteck mich. Wenn nicht, schläfst du bist morgen und ich mach dich wach,
bevor die Königin kommt.“
„ Und wann willst du schlafen?“
„ Ich habe doch den ganzen Tag. Mach dir keine Gedanken. Schlaf, kleine Biene.“
Elocin wußte viele Gründe, warum sie Snej fortschicken sollte. Doch es gab einen Grund, warum sie es nicht tat: Sie fühlte sich in seiner Nähe sehr wohl.

Snej sollte Recht behalten. Niemand erwischte sie. Er half Elocin nicht nur bei dieser einen Sonderschicht, sondern bei allen Dreien. Tagsüber schlief er und abends flog er zum Bienenstock. Elocin zweigte etwas Nektar für ihn ab,damit er sich stärken konnte.
Kurz vor Ende der dritten Sonderschicht saßen beide am Wabenfenster und sahen hinaus. Snej erzählte Elocin von den Orten, an denen er gewesen war und den Dingen, die er gesehen hatte. Elocin konnte sich nicht satthören an seinen Geschichten und ihre Sehnsucht nach Freiheit wurde immer größer.
„ Wenn ich doch all das auch tun könnte,“ seufzte sie. „ Ich möchte so gerne die Welt
kennenlernen, fortfliegen, weit fort. Ich möchte niemals zurückkehren.“
„ Warum tust du es nicht?“ fragte Snej.
„ Du weißt doch, daß ich Pflichten habe. Ich kann den Bienenstock nicht so einfach
verlassen. Das wäre der schlimmste Verstoß gegen unsere Gesetze. Damit wäre ich aus
der Gemeinschaft ausgeschlossen.“
„ Was ist das eigentlich für eine Gemeinschaft, die alles fordert und nichts verzeiht?
Wenn wir Hummeln aufeinandertreffen, freuen wir uns, uns wiederzusehen. Wir
bleiben eine Zeitlang beieinander und trennen uns in dem Wissen, daß´wir auch beim
nächsten Zusammentreffen noch gute Freunde sind.“
„ Bei uns ist es eben anders. Ich weiß nicht, wer die Gesetze gemacht hat. Ich weiß nur,
daß es nunmal so ist. Wer der Gemeinschaft den Rücken kehrt, den schließen sie aus.
Er gehört nicht mehr zum Staat.“
Snej erwiderte nichts. Elocin verteidigte ihr System zwar immer noch,doch er merkte, daß sie darüber nachdachte und viele Dinge nicht mehr gutheißen konnte. Irgendwann, das wußte er, würde sie sich dagegen auflehnen und ausbrechen und er hatte sich fest vorgenommen, ihr dabei zu helfen.
„ Ich muß fort,“ sagte er. „ Doch vorher möchte ich dich noch etwas fragen. Kommst du
heute abend mit zum Schmetterlingsball? Er findet am See statt.“
Elocin überlegte.
„ Ich versuche es, aber ich muß vorsichtig sein. Wir treffen uns dort, ja?“
„ Einverstanden.“
Snej lächelte. Er hatte befürchtet, Elocin nach diesen drei Nächten nicht mehr wiedersehen zu können und der Gedanke daran hatte ihn sehr traurig gemacht.

„ Sag mal, bahnt sich zwischen den Beiden was an?“ fragte ich.
„ Was meinst du?“
„ Verlieben sie sich ineinander? Das geht doch nicht. Er ist eine Hummel, sie eine
Honigbiene. Vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus ist das unmöglich.“
„ Ich will dir zwei Dinge sagen: Erstens, im Märchen ist alles möglich. Zweitens, wenn
du mich nicht dauernd unterbrechen würdest, würdest du erfahren, ob sie sich ineinander verlieben.“
Ich wurde rot.
„ Na gut. Dann erzähle aber auch endlich weiter. Diese Ungewißheit hält ja keiner aus.“

Den Schmetterlingsball sollte Elocin für immer in Erinnerung behalten. Sie schaffte es tatsächlich, den Bienenstock unbemerkt zu verlassen. Da alle Bienen, die Königin eingeschlossen, dachten, sie schliefe nach drei Sonderschichten erschöpft in ihrer Wabe, paßte niemand auf sie auf. Sie schlüpfte durch ihr Wabenfenster und flog zum See. Die Stelle, an der Ball stattfand, wurde von hundert Glühwürmchen in goldenes Licht getaucht. Die Schmetterlinge tanzten zu lautloser Musik. Elocin war glücklich. Das Gefühl wollte sie überwältigen. Für eine Nacht war sie frei, an den Morgen wollte sie nicht denken. Sie entdeckte Snej sofort und flog zu ihm. Er lächelte erleichtert.
„ Ich dachte schon, du schaffst es nicht.“
„ Es war ganz einfach. Aber lassen wir das. Ich möchte nicht nachdenken, sondern mich
nur darüber freuen, daß ich hier bin.“
Schweigend beobachteten sie das Treiben um sie herum. Die Schmetterlinge waren ausdauernde Tänzer. In einem großen Blatt hatte man Nektar gesammelt. Elocin und Snej flogen hin, um etwas davon zu trinken.
„ Er ist leicht gegoren,“ erklärte Snej, als Elocin das Gesicht verzog.
„ Schmeckt er dir nicht?“
„ Oh, doch er ist sehr gut, nur so ganz anders.“ Elocin nahm noch einen tiefen Schluck.
„ Trink lieber nicht zuviel davon. Der Nektar versetzt dich in einen angenehmen
Rausch. Dein Staat käme sofort dahinter, daß du ungehorsam warst.“
„ Mußt du mich immer wieder daran erinnern?“ fragte Elocin.
„ Du hast Recht, laß uns lieber den Abend genießen.“
Snej spürte sofort, daß er beinahe zu weit gegangen wäre. Das wollte er nun wirklich nicht. Die kleine Biene war ihm sehr wichtig geworden und er wünschte sich, daß sie glücklich war.
Elocin konnte sich nicht sattsehen an den Schmetterlingen, Marienkäfer und Libellen, die an ihr vorbeitanzten. Etwas abseits hüpften ein paar Grashüpfer zur Musik, die die Grillen machten und die Elocin nun auch hören konnte. Sie wiegte sich zu den leisen Klängen und begann zu singen. Erst sang sie ganz leise, doch je mehr die Musik Besitz von ihr ergriff, desto schöner und voller wurde ihre Stimme. Snej rührte ihr Gesang bis tief in sein Herz. Die Insekten unterbrachen ihren Tanz und hörten Elocin verzückt zu. Als sie geendet hatte, wurde ihr die Aufmerksamkeit der anderen bewußt. Die Schmetterlinge, Marienkäfer und Libellen jubelten und die Grashüpfer sprangen immer wieder in die Höhe. Elocin sah sich verlegen um. Schließlich blickte sie Snej direkt in die Augen und die Zuneigung, die sie darin las, berührte sie tief und wärmte ihr Herz. Was hatte er doch alles für sie getan. Ihr wurde bewußt, wieviel er ihr bedeutete und daß er ein Teil ihres Lebens geworden war. Die übrigen Insekten widmeten sich wieder ihrem Tanz. Snej sah Elocin an und fragte:
„ Hast du schon mal getanzt?“
„ Nein, noch nie.“
„ Möchtest du gerne?“
„ Ja, schon, aber ich weiß nicht wie.“
„ Es ist ganz leicht. Schließ die Augen und laß dich von der Musik forttragen. Der Rest
kommt von selbst.“
Sie flogen zu den anderen Tänzern und schwebten über den Boden. Anfangs kam Elocin sich ungeschickt und lächerlich vor, doch dann schloß sie die Augen. Sie hörte nur noch die Musik, die ihren ganzen Körper ausfüllte. Nichts bedrückte sie mehr. Nichts war mehr wichtig. Sie hatte vor nichts mehr Angst. Und plötzlich löste sich etwas in ihr, verselbständigte sich und ließ sie spüren, daß sie lebte, intensiv, in diesem Augenblick.
Zum ersten Mal in ihrem Leben war Elocin wirklich frei.

Nachdem der Ball geendet hatte, flogen Snej und Elocin zum Bienenstock. Elocin war seltsam nachdenklich geworden. Sie fühlte sich hin- und hergerissen zwischen dem berauschenden Gefühl der Freiheit und ihrem Pflichtbewußtsein.Ihr war klar geworden, daß sie sich irgendwann zwischen diesen beiden Dingen entscheiden mußte, doch dieser Schritt machte ihr Angst.
„ Sehen wir uns eines Tages wieder?“ fragte Snej vorsichtig.
„ Nichts wünsche ich mir mehr. Aber es wird nicht einfach sein. Ich fürchte, wir müssen
es dem Zufall überlassen.“
„ Ich werde da sein, wenn du mich brauchst,“ versprach Snej.
„ Ich muß gehen. Doch vorher möchte ich dir danken, für diesen wunderbaren Abend,
den schönsten in meinem Leben. Und für deine Freundschaft bin ich dir dankbar. Sei
dir dessen immer bewußt: Auch beim nächsten Zusammentreffen werden wir noch die
besten Freunde sein. Richtig?“
„ Richtig. Ich bin froh, daß ich dich kennenlernen durfte. Vergiß nicht, du bist nicht
eine von vielen Bienen, du bist die eine unter vielen Bienen.“
Elocin lächelte, berührte sanft seine Flügel und verschwand durch ihr Wabenfenster im Bienenstock.

„ Und jetzt?“ fragte ich ungeduldig.
„ Ich versteh dich nicht.“
„ Was wird nun aus den Beiden? Sie kann doch nicht weiter im Bienenstock leben, dazu hat
sie zu viele eigene Erfahrungen gemacht.“
„ Warte es ab. Ich mach mir jetzt erstmal ein Brot. Möchtest du auch was?“
„ Ich will wissen, wie es weitergeht!“
Wie konnte mein Gegenüber jetzt nur ans Essen denken?

In den nächsten Tagen sahen Snej und Elocin sich nicht. Zwar war Elocin am Abend des Balls ohne Zwischenfall in ihre Wabe gelangt, doch die Königin wollte sie vorerst nicht nach draußen lassen, um ihr das Träumen auszutreiben.

„ Oh, entschuldige,“ sagte mein Gegenüber.
„ Mußt du unbedingt mit vollem Mund reden?“ schimpfte ich und wischte mir die Krümel von der Wange.
„ Das ist doch wirklich die Höhe. Du wolltest doch, daß ich sofort weitererzähle!“
„ Ja ja, ich gebe es zu. Also weiter, aber paß auf, wo du hinspuckst!“

Nach einigen Tagen ließ die Königin Elocin endlich wieder mit den anderen Bienen nach draußen. Gegen Mittag flog sie mit ihren Hofdamen über die Blumenwiesen und beaufsichtigte die Bienen bei der Arbeit. Plötzlich tönte lautes Geschrei zu den Bienen herüber.
„ Hilfe, Hiiilfe! So helft mir doch!“
Elocin horchte auf. War das nicht Snejs Stimme?
„ Oh, oh Hilfe!!“
Ja, das war Snej! So schnell sie konnte, flog sie los, dorthin, von wo das Schreien gekommen war. Die übrigen Bienen folgten ihr.
Jetzt hatte sie Snej entdeckt. Er war in einem Spinnennetz gefangen. Seine verzweifelten Befreiungsversuche führten nur dazu, daß er sich immer mehr in das Netz verstrickte.
„ Elocin!“ schrie er gellend. „ Elocin, hilf mir!“
Vom Rande des Netzes aus bewegte sich eine große, schwarze Spinne langsam auf Snej zu. Sobald sie bei ihm war, würde sie ihn töten. Elocin drehte sich zu den Bienen hinter ihr um.
„ Wir müssen ihm helfen!“ rief sie aufgeregt. Die Bienen zögerten.
„ Nein!“ rief die Königin. „ Das ist eine Hummel. Was hast du nur für dumme Ideen.“
„ Das ist mein Freund,“ sagte Elocin fest. Sie flog zur Erde und hob mit ihren Beinen ein ganz dünnes Ästchen hoch.

„ Aua!“ rief ich und lutschte an meinem Finger.
„ Warum kaust du auch an deinen Nägeln rum,“ sagte mein Gegenüber kopfschüttelnd.
„ Das ist nicht sehr appetitlich.“
„ Das muß jemand sagen, der mir Krümel an die Wange spuckt!“ fuhr ich ihn an und steckte den Finger wieder in den Mund. Mein Gegenüber antwortete nicht, sondern erzählte weiter. Das war mir im Augenblick auch am wichtigsten.

Mit dem Ästchen flog sie mit Höchstgeschwindigkeit direkt auf das Spinnennetz zu. In dem Moment, als sie es berührte, riß sie das Netz um Snej herum entzwei. Die Hummel fiel zu Boden. Elocin ließ das Ästchen los und ließ sich fallen. Erschöpft lagen beide auf der Erde. Die Spinne war sehr erbost, doch Elocin achtete nicht auf sie. Sie kroch zu Snej und stupste ihn sacht an.
„ Ich weiß nicht, was ich sagen soll,“ sagte er leise.
„ Geht es dir gut?“
„ Mach dir keine Sorgen, ich bin Ordnung. Ich fühle mich nur ziemlich wackelig.“
Elocin gab ihm etwas von ihrem gesammelten Nektar. Plötzlich hörte sie die Stimme der Königin.
„ Elocin, ich verlange sofort eine Erklärung von dir! Wer gibt dir das Recht, dich mir zu
widersetzen? Wie kommst du dazu, dich mit einer Hummel anzufreunden? Du hast bis
auf weiteres Arrest! Mach, daß du in den Stock kommst!“
„ Hättet ihr mich gerettet, wenn ich im Spinnennetz gefangen gewesen wäre?“ fragte Elocin sie.
„ Natürlich nicht. Die Gemeinschaft ist wichtig, der Einzelne zählt nicht. Was soll die
dumme Frage?“
„ Snej hätte mich gerettet, denn für ihn bin ich wichtig. Ich werde nicht mit
zurückkommen. Ich werde deine Befehle nicht mehr ausführen und glauben, daß die
Gemeinschaft über allem steht. Ich werde mir nicht mehr das Träumen verbieten und
mich von dir einsperren lassen, um dich zu bedienen. Ich bleibe bei meinem Freund.
Er ist tausendmal mehr wert, als du es bist.“
„ Dann geh,“ antwortete die Königin eisig. „ Diese Biene gehört nicht mehr zu unserer
Gemeinschaft!“ sagte sie laut und flog davon.

Es dämmerte. Elocin und Snej saßen auf einer Blüte und sahen sich den Sonnenuntergang an. Eine Frage beschäftigte Snej schon seit Stunden.
„ Elocin, bist du sicher, daß du mit deiner Entscheidung für die Freiheit glücklich
wirst?“
„ Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Mein Leben im Bienenstock war streng geregelt.
Jeder beaufsichtigte jeden. Aber wir sorgten auch füreinander. Dort war ich in
Sicherheit. Ich hatte ein festes Ziel und mit manchen Bienen war ich befreundet. Ich
glaube, ich werde sie vermissen.“
Snej nickte. Elocin sah ihn an.
„ Versprich mir, daß die Freiheit schön ist, Snej, bitte.“
„ Das kann ich nicht. Du bist frei, zu tun, was du willst, zu fliegen, wohin du willst,
aber es ist auch ein harter Kampf. Manchmal ist man einsam. Manchmal ist man
ziellos. So ein festes Ziel, wie ihr Bienen es habt, gibt es in der Freiheit nicht.
Manchmal verirrt man sich, wird enttäuscht oder verraten. Manchmal bereut man es,
den Schritt aus der Sicherheit in die Freiheit gemacht zu haben. Aber du hast die
Chance, selbst den Sinn deines Lebens zu finden, über dich hinauszuwachsen und das
Beste aus deinem Leben zu machen. Doch bitte glaube nicht, daß ein Leben in Freiheit
immer schön und einfach ist.“
„ Das tu ich auch nicht. Ich werde viel entbehren müssen, Sicherheit, eine Aufgabe.
Doch im Bienenstock hätte ich viel mehr entbehren müssen, Freiheit, meine Träume,
mein eigenes Leben. Ich bin froh, daß alles so gekommen ist. Ich habe nur ein bißchen
Angst.“
„ Angst hab ich auch zwischendurch,“ gab Snej zu. „ Aber jeder Tag bringt mir etwas
Neues, etwas Schönes und Lustiges, allerdings auch Trauriges.“
Beide schwiegen.
„ Weißt du, was am schmerzlichsten gewesen wäre?“ fragte Elocin.
„ Wenn ich bei der Königin geblieben wäre, hätte ich dich als Freund entbehren
müssen.“
Die Grillen zirpten und der Mond ging auf. Elocin und Snej begannen zu tanzen.
Die kleine Biene tanzte, fort von der Sicherheit und den Zwängen des Bienenstocks in ihr ungewisses, aber eigenes, freies Leben.

„ Bleiben die Beiden denn zusammen? Wird Elocin glücklich?“ Ich brauchte einfach die Gewissheit, daß alles gutgehen würde.
„ Das liegt bei dir. Entscheide für dich selber, wie es ihnen ergehen soll.“
„ Sie werden glücklich,“ bestimmte ich. Dann schwiegen wie lange. Keiner von uns wußte etwas zu sagen, dazu hatte uns Elocins Geschichte zu sehr bewegt.
„ Ich habe dir vorhin eine Frage gestellt. Könntest du dir vorstellen, eine Biene zu sein?“
Ich dachte nach.
„ Nein, ich könnte mir nicht vorstellen, eine Biene zu sein. Aber ich könnte mir vorstellen,
wie Elocin zu sein. Ich glaube, in jedem von uns schlummert jemand wie Elocin, die von der
Freiheit träumt und aus ihrem Leben ausbricht. Jeder von uns hat zeitweise den Wunsch,
auszubrechen, seinen Pflichten zu entsagen. Doch die meisten Menschen wecken sie nicht
auf.“
„ Hast du sie geweckt?“
„ Ich bin mir nicht sicher. Doch, ich glaube schon. Ich hasse es, in Pflichten zu ersticken und
Zwängen unterworfen zu sein. Und ich bin froh, daß sie wach ist, froh, daß sie mich dazu
bringt, den Alltag auf den Kopf zu stellen und meine Freiheit zu lieben.“
„ Tu mir einen Gefallen. Höre nie auf, sie zu lieben.“

Es war spät geworden. Tief in Gedanken versunken ging ich nach Hause. Dort setzte ich mich hin und dachte nach. Da klingelte es. Ein Freund von mir kam zu Besuch. Nachdem wir uns gesetzt hatten, erzählte er mir von dem Tag, den er gehabt hatte, dem Ärger im Büro, der zermürbenden Parkplatzsuche, dem Warten in der Supermarktschlange, dem Stau auf der Straße und dem Streß bei der Suche nach einem Geschenk für seine Frau.
Als er geendet hatte, fragte ich:
„ Sag mal, könntest du dir vorstellen, eine Biene zu sein?“
„ Natürlich nicht, warum?“ fragte er erstaunt.
„ Dann kennst du Elocin also nicht,“ antwortete ich lächelnd und lehnte mich zurück.

ENDE




Auch dieses Märchen habe ich einer Freundin von mir gewidmet.Zwar hat sie erst zwei Jahre, nachdem ich ihr die Geschichte geschenkt habe ,den Weg zu ihrer persönlichen Freiheit gefunden,aber das ist nicht wichtig.Wichtig ist nur,daß sie es gewagt hat.
Jutta Schroth, Anmerkung zur Geschichte

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Jutta Schroth).
Der Beitrag wurde von Jutta Schroth auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.01.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Jutta Schroth als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Schmunzeln und Nachdenken erlaubt von Ernst Dr. Woll



Erlebte Kuriositäten sind häufig reparierbare Missgeschicke und wir können darüber schmunzeln. Wir sollten deshalb diese Geschichten nicht für uns behalten. Die Tiere unsere Mitgeschöpfe können uns in diesem Zusammenhang viel Freude bereiten und viele Erlebnisse mit ihnen bereichern unser Leben. In Gedichten und Kurzgeschichten wird darüber erzählt, wie wir außergewöhnliche Situationen mit Schmunzeln meistern können und ernsthaft über vieles nachdenken sollten. Wenn z. B. unser Hund eine Zahnprothese verschlingt und wir sie wieder finden, dann darf sie durchaus wieder an die richtige Stelle.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (3)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Märchen" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Jutta Schroth

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Eine kleine Adventsgeschichte von Jutta Schroth (Weihnachten)
Die Zwillingspuppen von Christa Astl (Märchen)
Meine Bergmannsjahre (dritter Teil) von Karl-Heinz Fricke (Autobiografisches)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen