Lucía M.

Verloren in einer Realität

 

Kalt, nass, dunkel, trüb. Lärmend. Schwere Regentropfen, die auf dem verschmutzten Asphalt aufplatzen. Rasende Fahrzeuge, hektische Scheibenwischer, hin und her. Schwitzende Fahrer, die Augen zusammengekniffen, fixiert auf die nasse Straße. Fixiert auf das Ziel, daheim anzukommen, der Ehefrau beim Abendessen zu helfen, den Kindern eine Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen. Den Ofen an zuschmeißen, sich in der Wolldecke eingekuschelt auf dem Sofa niederzulassen, abzuschalten. Augen zu und vergessen. Den Stress um dich herum.

Ich wende meinen Blick vom Fenster ab und ziehe meine Beine an mich heran, umschlinge sie mit meinen Armen. Wie ich diesen Regen hasse, wie ich diese Kälte hasse. Scheiß Herbst, scheiß Winter. Seit Wochen muss ich mir dieses Schauspiel vor dem Fenster nun gefallen lassen. Immer das gleiche, von morgens bis abends.

Meinen Kopf lege ich auf die Knie, schließe meine Augen und lasse meine Gedanken zu einem der Sommernächte am See schweifen. Der Geruch von fauligem Seegras in kühlem Wasser, verschmelzend mit dem Duft verbrennender Kohle in knisterndem Lagerfeuer. Diese helle, klare Stimme, das ehrliche Lachen. Und ich sehe sie wieder vor mir, die Freude in ihrem Gesicht, das Glänzen in ihren Augen. Das Begeistern in ihrer Geste. Sehnsüchtig versuchen meine Erinnerungen, einen dieser Abende in seiner vollen Pracht aufzugreifen.

Abrupt zwinge ich mich dann jedoch, aus meinem Tagtraum zu erwachen, hebe meinen Kopf und schaue reflexartig auf das Regal am anderen Ende des Zimmers, auf dem das kleine, zurechtgeschnittene Foto, eingerahmt in schimmerndem Silber, steht, inmitten welkender, schwarzer Rosenblätter. Zwei sich umarmende Mädchen in luftigen, kurzen Kleidern, Sonnenbrille tragend, stehen barfüßig im Sand vor den unendlichen Weiten des Atlantiks und strecken Mittel- und Zeigefinger in die Kamera. Breit grinsend. Glücklich. Meine Schwester und ich. Das Foto entstand 4 und halb Wochen vor ihrem Tod.

Ich wippe langsam vor und zurück auf dem Sessel, die Arme immer noch um die nackten Unterschenkel geschlungen. Die langen, dunklen Haare fallen mir schwer ins Gesicht. Ich spüre, wie meinen Körper ein Kribbeln durchfährt. Da ist sie wieder, die Ungeduld. Die Lust, das Verlangen nach dem Gras, was mir die Angst nimmt und mich vergessen lässt. Was mich versinken lässt in diese Welt, die der ferneren Welt und somit ihr, meiner Schwester, näher ist als die kalte, verlorene Welt, welche die Menschheit als Realität glaubt bezeichnen zu müssen.

„Wie lang geht das noch?“ Ich sehe an die Decke, aber mein Wort ist an Ben gerichtet. Er antwortet nicht. Aus dem Augenwinkel erkenne ich, dass er immer noch über dem kleinen Couchtisch gebeugt mit Zeigefinger und Daumen den kleinen Haufen in dem dünnen Papier zurechtrückt. Nach einer weiteren stillen, unerträglichen Weile höre ich endlich das mir vertraute Knistern und beobachte, wie sich die klare Luft von einem zarten Rauchfaden stören lässt, welcher kräuselnd an die Decke steigt, sich dort zu einer kleinen Wolke bildet und den Raum nach und nach mit einem immer dichter werdenden Nebelschwaden füllt. Lange und tief ziehe ich die Luft ein, genieße den würzigen Duft und spüre, wie dieser meine innere Stimme in meinem Kopf wieder weckt, und sie dazu bringt, immer deutlicher nach dem glühenden Tütchen zu betteln. Endlich streckt mir Ben seinen Arm entgegen, die Kostbarkeit zwischen Daumen und Zeigefinger hebend.

Und ich sehe meinen besten Freund an, sehe ihm in die geröteten Augen und frage mich, was er denkt. Lächle ihm dankbar zu, dankbar und flehend zugleich. Flehe, mir dieses Glück nicht wieder zu nehmen. Natürlich nicht, habe keine Angst, sagt mir sein erwiderndes Lächeln, als mir vor überlaufender Hoffnung eine salzige Träne die Wange entlangläuft und auf das kleine, brennende Ding in meiner zitternden Hand tropft.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.12.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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