Diethelm Reiner Kaminski

Der Masterplan



Bedauernswerte Geschöpfe irren verbiestert durch die Vorweihnachtszeit und schwanken zwischen Flucht- und Selbstmordgedanken. Sie kriegen die immer größer gewordenen Ansprüche und immer länger gewordenen Wunschlisten einfach nicht mehr auf die Reihe. Tägliche Terror- und Unwetterwarnungen erhöhen noch den Stress.
Damit von Anfang an kein falscher Verdacht aufkommt: Ich zähle nicht zu den Weihnachtsopfern. Ich habe Weihnachten fest im Griff. Nicht umgekehrt. Dank seiner verläuft die Adventszeit für mich in diesem Jahr vollkommen stressfrei. Im vorigen Jahr war das noch nicht so. Doch seit ich den Masterplan für den Advent befolge, den unser Wotzelhausener Abendblatt rechtzeitig im November seinen Lesern zum Geschenk gemacht hat, mastere ich alles mit größter Gelassenheit. Fast alles. Denn ich habe den Masterplan nicht von Anfang an so ernst genommen hatte, wie er ernst genommen zu werden verdient. In der Rubrik „Fünf Wochen vorher“ sieht der Masterplan die grobe Planung der Festtage, die Überprüfung der Weihnachtsdekoration, die vorläufige Erstellung der Geschenkliste, die Besorgung von Geschenkpapier, die Überprüfung der Vorräte in Küche, Keller und Supermärkten, die Einführung – falls noch nicht vorhanden – von Wichteln im engsten Familien- und Freundeskreis und … Fensterputzen vor. Da ich den Masterplan aus Schlamp und Vergesslichkeit aber erst drei Wochen vor dem Fest genauer studiert hatte, war ich schon vierzehn Tage im Verzug. Ich machte mir trotzdem keinen Stress. Dieses Versäumnis ließ sich nach kühler Lageanalyse durch Verzicht und Auslichtung einholen. Ich fing bei den Fenstern an. Mussten sie wirklich geputzt werden? Ökonomisch denken. Den weihnachtlichen Fensterputz konnte ich gut mit dem Frühjahrsputz verbinden. Geschenkpapier? Da werde ich das aufgehobene vom Vorjahr glätten und die zerknitterten  Schleifen aufbügeln. Die Geschenkliste nimmt mir meine Familie ab. Die Gefahr, dass sie sie vergisst, hat zu keiner Zeit bestanden. Weihnachtsdekoration. Da vertraue ich diesmal der Langzeitprognose des Wotzelhausener Wetterstudios. Da die Schneefälle bis nach Weihnachten andauern sollen, kann ich gut und gerne auf künstliche Dekorationen verzichten. Die Vorräte brauche ich nicht zu überprüfen. Wir gehören nicht zu den Schissern, die Lebensmittel bunkern, weil sie den Ausbruch eines Krieges befürchten. Wer Hunger hat, ist in meiner Familie – dank unserer u. a. von mir ehrenamtlich betreuten Wotzelhausener Tafel – noch immer satt geworden.
Meine ungebrochene Entschlusskraft hatte mich im Nu eine Woche aufholen lassen. Blieb noch die zweite.
Das Festtagsmenü festzulegen, entfiel schon mal. Denn meine Familie lässt sich ihre eigenhändig im Stadtpark eingefangene Weihnachtsgans mit Bratäpfeln, Rotkohl und Kartoffelklößen auch vom Wotzelhausener Abendblatt nicht ausreden. Weihnachtsengel bestellen ... Brauchen wir nicht. Engel sind wir selber. Auch Plätzchen brauchen wir keine zu backen … Das können andere besser und geben auch gerne ab. Weihnachtskarten besorgen und Liste erstellen … Nichts da, uns schreibt auch keiner. Geschenke einpacken … Hihi, erst mal welche kaufen. Damit warte ich besser bis auf eine halbe Stunde vor der Bescherung am Heiligabend. Die Wünsche meiner Lieben ändern sich sowieso im Stundentakt. Getränke kaufen … Damit am Heiligabend schon wieder alles ausgesoffen ist?
Auch die zweite versäumte Woche masterte mein kühler Verstand. Jetzt bin ich zuversichtlich, dass ich auch die verbleibenden drei Wochen stressfrei überlebe. Obwohl noch jede Menge abzuarbeitender Punkte auf dem Masterplan stehen. Weihnachtsbaumkauf, Geschirrkontrolle, Vorkochen des Weihnachtsmenüs, Fotokamera überprüfen, Silber polieren, Obdachlose auf bessere Zeiten vertrösten, Sterne am Weihnachtshimmel zählen (damit  auch keine fehlen), eine Futterkrippe für hungrige Rehe im Garten aufstellen und mit geweihtem und nach Weihrauch duftendem Heu füllen, die beschädigten Sichtblenden zu meinen Nachbarn ausbessern, Weihnachtslieder und Nationalhymne einüben (vor allem die Texte), Alarmanlage und Rauchmelder testen, Spendenaufrufpostwurfsendungen abheften, ernsthaft über einen eventuellen Wiedereintritt in die Kirche nachdenken, den Feuerlöscher entrosten, eine Familienpackung Stimmungsaufheller ‚super forte‘ in der Apotheke besorgen, die laufenden Kredite aufstocken, den Bundespräsidenten anrufen und ihm zu seinem überraschenden Verbleib im Amt und der Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken gratulieren … Und zu aller Letzt das Wotzelhausener Abendblatt abbestellen und eine vierzehntägige Lastminute-Reise in ein adventsmasterplanfreies Land buchen. „Bitte ein Einzelzimmer in einem Hotel für Singles. Und ohne Weihnachtsdekoration. Unterirdisch und schalldicht? Wenn das möglich wäre. Genau das, was ich suche.“


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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.12.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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