Diethelm Reiner Kaminski
Allegal
Erst fiel es kaum auf. Schließlich hatten alle mehr als reichlich. Doch dann wurde es immer offensichtlicher: In der 3 b wurde gestohlen, und zwar regelmäßig. Jeden Tag. Mal fehlte der Gisela ein Mars-Riegel, der für die große Pause gedacht war, mal der Eva ein Käse-Vollkorn-Brötchen. Oder der Annabell die Schokolade-Yoghurt-Schnitte. Es verschwanden jedoch nur Nahrungsmittel, nie Schmuck oder Geld, Klamotten oder Handys, obwohl es auch dazu schon Verlustmeldungen und voreilige Schuldzuweisungen gegeben hatte, die sich zum Glück allesamt als falsch erwiesen. Schuld daran war die in diesem Alter übliche Schlamperei. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Sind die Grundbedürfnisse – Hunger und Durst – erst einmal gestillt, kam der Täter ja vielleicht auf kühnere Gedanken. Vorsicht war angebracht. Der Dieb musste, der Zahl der täglichen Verlustmeldungen nach zu urteilen, einen gewaltigen Appetit haben und einen Raubtiermagen dazu. Er vertilgte pro Tag mindestens zwei Kilo Schokolade, Kuchen, Zwieback, Wurst- und Käsebrote, Puddingbecher, Gummibärchen, Smarties und Obst. Ein Wolf geradezu.
Aber naiv sind Lehrer nicht, Schulleiter noch weniger, sonst wären sie´s nicht geworden. Und an der Nase herumführen ließen sie sich schon gar nicht. In einer außerplanmäßigen Klassenkonferenz beschlossen sie, die folgenden Empfehlungen an die Eltern zu geben:
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Dem Kind jeden Tag in die Hausaufgabenkladde zu schreiben, was sie ihm zum Frühstück mit in die Schule gaben.
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Das Frühstück nur noch in verschließbaren Brotdosen unterzubringen und die Kinder dazu zu ermahnen, den Schlüssel dazu stets um den Hals zu tragen.
Auf diese Weise hofften sie, die Diebstähle einzudämmen, die zwar keinen wirklichen Schaden anrichteten, dafür aber große Unruhe in die Klasse trugen. An ein geordnetes Unterrichten war schon gar nicht mehr zu denken.
Indes erwiesen sich die Empfehlungen an die Eltern als völliger Fehlschlag. Den meisten Eltern war es viel zu lästig und lächerlich, Buch über die tägliche Frühstücksverpflegung zu führen, und abschließbare Frühstücksdosen hätten erst produziert werden müssen. Denn kein vernünftiger Mensch hängt ein Vorhängeschloss an eine Frühstücksdose. Von Angeboten wie „Aber wie wär´s mit einer stabilen Portokasse oder einem handlichen Safe aus rostfreiem Stahl?“ fühlten sie sich auf den Arm genommen. Auch mit den vielen dunklen Quellen, aus denen sich die Schulverpflegung zusammensetzte, hatte niemand gerechnet. Omas, Onkel, Tanten und Taufpaten füllten die Schultaschen mit rundum gesunder Nervennahrung. Und wo die versagten, half das reichliche Taschengeld, mit dessen Hilfe die Essens- und Naschvorräte am Büdchen aufgestockt wurden.
In ihrer Not griff die Klassenlehrerin Frau Gropius endlich zum Äußersten.
In einem dramatischen Appell an die Ehrlichkeit und Ehre jedes Einzelnen rüttelte sie am Gewissen der Drittklässler. „Ein Dieb ist unter uns. Oder eine Diebin. Wenn er oder sie sich nicht bis Freitag 12.00 Uhr bei mir meldet und verspricht, nie wieder etwas in dieser Klasse zu stehlen, ist der Fall für mich erledigt. Wenn nicht, muss ich leider die Polizei einschalten. Spurensicherung, Fingerabdrücke, DNA-Analyse, Magenauspumpen, na, ihr kennt das ja alle aus den Tatortkrimis. Ausgeschlossen, dass der Täter nicht entdeckt wird. Möchtet ihr das wirklich?“
Am Donnerstag wartete Dörte schon vor der ersten Stunde vor dem Lehrerzimmer. „Du, Dörte …?“
„Aber nicht für mich, das müssen Sie mir glauben. Ich habe es für Hassan und Sheila und ihre fünf Kinder getan.“
„Wer sind Hassan und Sheila?“
„Eine Familie aus Afrika, aus einem Land mit Elfenbein.“
„Du meinst, von der Elfenbeinküste.“ „Ja, ich glaube. Sie sind allegal hier. Sie haben keine Arbeit, kein Geld. Sie dürfen ja gar nicht hier sein. Eben weil sie allegal sind. Ich habe ihnen jeden Tag etwas zu essen gebracht. Mein Frühstück natürlich auch, aber das reicht nicht für sieben Personen.“
„Und da musstest du jeden Tag klauen… Das bleibt jetzt unser Geheimnis. Aber mit dem Stehlen ist Schluss. Das kriegen wir schon irgendwie hin.“
In der nächsten Deutschstunde fragte die Lehrerin: „Wer weiß, was illegal bedeutet?“
Johannes wusste es sofort: „Wenn Ausländer, die gar nicht in Deutschland sein dürfen, uns die Arbeitsplätze wegnehmen und alles hinten reingesteckt kriegen.“
Frau Gropius erkannte den falschen methodischen Ansatz und winkte ab. „Das führt jetzt etwas zu weit. Ich möchte in der Vorweihnachtszeit ein kleines Sozialprojekt beginnen. Ich kenne eine arme afrikanische Familie. Flüchtlinge, die viel Böses erlebt haben. Hassan und Sheila haben fünf Kinder. Die Eltern kriegen keinerlei Unterstützung. Wenn ihnen niemand hilft, müssen sie hungern. Möchtet ihr, dass Kinder hungern? Wollen wir ihnen helfen? Wer hat eine Idee?“
Es dauerte nicht lange, bis Frau Gropius gemeinsam mit der 3b einen Versorgungsplan bis zum Jahresende aufgestellt hatte, der auch die Weihnachtsferien berücksichtigte.
Sogar Johannes verzichtete auf die Hälfte seines Pausenbrotes, weil er gemerkt hatte, dass die Meinung seines Vaters gar nicht so gut in der Klasse ankam.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.12.2010.
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