Heike Wenig

Gestern Nacht hatte ich meinen verrücktesten Traum: Ich war u


 
Gestern Nacht hatte ich meinen verrücktesten Traum: Ich war um Mitternacht bei Vollmond auf der Halde und tanzte mit Valentino einen Tango….
 
Es ist so herrlich. In seinen Armen liegend, von ihm herumgewirbelt zu werden. Ich kann es kaum glauben. Ich tanze Tango, den Tanz, den ich schon immer so begehrenswert fand. Doch, woher kann ich plötzlich diese Schritte? Wieso fliegen meine Füße so leicht und doch so sicher über den Boden? Damals, in der Tanzstunde, musste ich mich immer abmühen: „Lang, lang, rückseit schluss“, so hatte die Tanzlehrerin versucht, mir die Grundschritte bei zu bringen. Vergeblich. Meine Füße verknäulten sich immer wieder miteinander. Schließlich wollte keiner mehr mit mir tanzen. Damals – Und jetzt, ich glaube zu träumen, jetzt tanzt Valentino, der große Valentino mit mir. Er führt so stark und leidenschaftlich. Wir schweben fast über der Erde dahin. Wo sind wir nur?  Es ist kein Tanzsaal und doch spielt ein Orchester die herrlichsten Melodien. Beim Herumwirbeln nehme ich nur schemenhaft die Umgebung wahr. Wir sind auf einer Halde, der Boden ist spärlich mit Gras bewachsen, ganz vereinzelt nur reckt sich ein magerer Baum zum Himmel empor. Wo ist das Orchester? Ich kann es nicht sehen, aber es ist da. Kraftvoll ertönen die Tangoweisen. Ich blicke meinen Tanzpartner an. Er strahlt mich an. Gutaussehend ist er, das schwarze Haar, die blinkend weißen Zähne, sein Anzug enganliegend. Er hat eine tolle Figur. Und mich hat er zur Tanzpartnerin auserkoren. Das kann wirklich nur ein Traum sein!
 
„Mädchen, mach mal die Augen auf. Soll ich hier an der Kasse verschimmeln? Soll meine Milch im Einkaufswagen gerinnen? Nun kassier mal oder wollt Ihr heute kein Geld von mir?“ Ein älterer Mann stand vor mir an der Kasse und polterte herum. Erschrocken zuckte ich zusammen. Hoffentlich hat das der Abteilungsleiter nicht gehört. Der hat mich schon lange auf dem Kieker. Ich kassierte schnell und endlich war die Schlange vor meiner Kasse verschwunden. Ich arbeitete voller Konzentration.
 
Erst in der kurzen Mittagspause hatte ich Zeit, über das Erlebte oder Erträumte nachzudenken. Natürlich war es ein Traum. So etwas passierte doch nicht mir in der Realität. Bisher war mein Leben nicht besonders schön verlaufen. Na ja, damals, als der Opa, ein alter Bergmann, noch gelebt hatte, hatte ich mich richtig wohl gefühlt. Er mochte mich sehr und erzählte mir immer Geschichten von seiner Unter Tage Arbeit. Er hatte schwer schuften müssen und im Alter machte ihm seine Staublunge stark zu schaffen. Er saß fast nur im Lehnstuhl und schnappte häufig nach Luft. Aber seine Geschichten klangen immer lustig. Besonders liebte ich die Erzählungen von seinem Grubenpferd, mit dem er sehr lange zusammen gearbeitet hatte. Der Opa wartete täglich auf meine Rückkehr aus der Schule. Er genoss meine Gesellschaft. Die Oma war schon lange tot und meine Eltern mussten beide arbeiten. Die Mutter war wie ich Kassiererin und mein Vater war ebenfalls Bergmann. Der Opa wollte immer, dass etwas Besseres aus mir würde, überprüfte meine Hausaufgaben und spornte mich an, mehr aus meinem Leben zu machen. Er sorgte auch dafür, dass ich mit 14 Jahren zur Tanzstunde gehen durfte. Der Vater hatte nur geknurrt: „Herausgeworfenes Geld“, aber der Opa sagte: „Halt den Mund,  ich bezahle.“
Häufig musste ich ihm seine Medizin beim Zechenarzt holen. Ich half ihm gern und versorgte ihn, soweit ich das konnte. Oft träumte ich davon, einmal Krankenschwester zu werden.
 
Plötzlich änderte sich alles für mich. Vater hatte einen schweren Unfall untertage. Beide Beine wurden ihm durch Steinschlag zerschmettert. Er blieb lange im Krankenhaus. Als er nach Hause kam, sass er im Rollstuhl. In der Zwischenzeit war mei Opa gestorben. Die Luft hatte nicht mehr zum Atmen gereicht. Vater wurde immer unzufriedener und ertränkte seine Wut über seine Hilflosigkeit im Alkohol. Mutter arbeitete immer länger, um die schwierige häusliche Situation zu meiden. Ich musste mit der Schule aufhören und wurde einfach in eine Lehre in dem gleichen Geschäft, wo Mutter auch arbeitete, gesteckt. Ob ich das wollte, das hat mich damals keiner gefragt. Ich tat meine Pflicht, wurde aber immer schüchterner und einsamer. Freundinnen hatte ich keine, bei diesem Vater und der ständig abwesenden Mutter konnte ich auch niemand mit nach Hause bringen. Zu groß war meine Scham. Als ich dann eines Abends Mutter mit einem anderen Mann sah, sagte ich nichts und fraß alles in mich hinein.
 
Eigentlich waren die Stunden  auf der Arbeit noch die besten für mich. Erschreckt fuhr ich auf. Nun hätte ich beinah das Ende der Mittagspause nicht mitbekommen. Schnell ging ich an meine Kasse zurück. Im Vorbeigehen fiel mein Blick auf einen Korb mit CDs zum Sonderpreis: Lernen Sie Tango tanzen mit Valentino. Darüber hing ein Plakat mit einem Foto Von Rudolfo Valentino. Jetzt war mir auch klar, woher mein Traum gekommen war.
 
Der Nachmittag ging schnell vorüber. Es gab viel zu tun. Als Geschäftsschluss war, machte ich noch die Kassenabrechnung. Ich ließ mir Zeit. Meine Aufgabe war es inzwischen, das Geschäft als Letzte zu verlassen und abzuschließen.
 
„Dauert es noch lange, bis Du fertig bist“, fragte mich eine sympathische Stimme. Ich erschrak, als ich Valentino erblickte. Er war direkt aus dem Plakat herausgekommen. Dort klaffte eine weiße Lücke. Seinem strahlenden Lächeln konnte ich mich nicht entziehen. Ich antwortete: „Bin gleich fertig. Muss nur noch alles abschließen“. Er wartete, bis ich mit allem fertig war, ergriff dann meine Hand und wir gingen Richtung Halde. Als wir dort angekommen waren, setzte das Orchester ein und es erklang eine Tangomusik. Valentino nahm mich in den Arm und tanzte mit mir auf der Halde entlang. Selig lag ich in seinen Armen, schloss die Augen und genoss. Am Himmel lächelte freundlich der Mond

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.12.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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