Petra Schneider

Fini und Fani und das Geschenk




Bald ist es wieder so weit. Weihnachten steht vor der Tür. Fini und Fani, die gerade noch munter im Garten spielten, fingen aufeinmal an heftig zu streiten. Dabei ging es um die Frage, wer von ihnen das beste Geschenk hat. Fini ist davon überzeugt, dass ihr Geschenk das Beste ist. „Der Name sagt doch schon alles  – Großzügigkeit“, erklärt sie. „Mein Geschenk gibt dem Menschen etwas. Deswegen muß es gut sein. Zumindest besser als Geiz". Fani schaut ihre Freundin an. Im geheimen gibt sie ihr ja recht, Geiz ist dafür bekannt, dass er schlecht ist. Dennoch glaubt sie, dass er gut ist. Einen Moment lang denkt sie nach, dann antwortet sie. „Das mag ja sein Fini, aber Geiz ist mindestens genauso gut, denn er lässt den Menschen alles zusammenhalten, damit mit er nichts verliert.“ „Siehst du“, sagt Fini darauf, Großzügigkeit ist eben doch besser. Wer großzügig ist, muß nicht alles zusammenhalten, der gibt auch etwas ab. So hat nicht nur er, sondern auch andere was davon. Mit meinem Geschenk kann er mehr anfangen wie mit Deinem, also ist meins das Beste“. Fani wird wütend und funkelt sie an „ist es nicht“, „doch“, beharrt Fini lautstark. „Nein“ brüllt Fani zurück und so geht es eine ganze Weile hin und her.
 
Sie streiten sich so laut, dass sie nicht merken, wie Gott, der sich gerade zur Ruhe begeben hat, um Kraft für den ganzen Weihnachtsrummel zu schöpfen, vor ihnen stand. „Was soll das für ein Geschenk sein, wenn ihr euch deswegen streitet? Habt ihr den Sinn eines Geschenkes vergessen?" Kopfschüttelnd sieht er sie an. „Aber wir streiten nicht um ein Geschenk“, sagt Fini kleinlaut und Fani ergänzt „wir haben zwei Geschenke.“ „Ja aber dann ist doch alles in Ordnung, dann hat doch jeder eins, wo ist das Problem?“ Fragt er.
 
„Wir wollen wissen, welches das Beste ist, Großzügigkeit oder Geiz“ antworten beide. Gott lacht und spricht „gut, dann will ich es euch lehren. Da noch etwas Zeit bis Weihnachten ist, geht auf die Erde und schenkt dem Menschen euer Geschenk. „Jetzt schon?“ Unterbricht ihn Fini. „Ja, jetzt schon, damit ihr etwas lernt“, entgegnet er, während er sie liebevoll ansieht. Er kennt ihre Art und liebt sie dafür, dass sie nicht einfach nur alles hinnimmt, sondern ausspricht was ihr auf dem Herzen liegt. Selbst, wenn es manchmal ganz schön anstrengend mit ihr ist, so bereichert sie doch sein Leben mit ihrer Neugier und Spontaneität. „Gut,“, fuhr er fort, „ihr zieht jetzt beide los und gebt dem Menschen eure Geschenke. Allerdings mit etwas anderen Voraussetzungen. „Was denn für Voraussetzungen?“ Will  jetzt auch Fani wissen und Gott schaut sie ebenso liebevoll an, wie er vorher Fini angeschaut hat, denn er liebt beide gleichermaßen. „Das ist ganz einfach“, sagt er „jede von euch gibt dem Menschen das Geschenk der Anderen. „Wie?“, Fragt Fani, „ich soll Großzügigkeit schenken und Fini Geiz?“ „Ja“, wiederholt er „Fini gibt das Geschenk von dir und umgekehrt.“ „Wie soll das denn gehen?“ Protestiert Fini, „außerdem war es immer so, dass wir unser eigenes Geschenk geben. Warum soll es jetzt aufeinmal anders sein? Ich habe mich daran gewöhnt. Mit Geiz hatte ich noch nie was zu tun. Wie soll ich es dann verschenken? Etwas verschenken, was ich nicht kenne?“ Belustigt über den rebellischen Ansturm von Fini spricht er weiter. "Was Du gewöhnt bist brauchst du nicht kennenzulernen, deswegen tauscht ihr ja eure Geschenke aus, damit ihr Neues kennen lernt. Fini startet einen letzten Versuch und sagt „Fani hat es dadurch viel leichter“ Gott schmunzelt über ihre Strategie, alles beim alten lassen zu wollen und sagt „na, dann ist es ja gerecht verteilt, denn vorher hattest du es leichter, wenn ich es aus Deiner Sicht betrachte. Es gleicht sich also aus und nun diskutiert nicht länger mit mir herum, sondern macht euch auf den Weg, damit ihr am Heiligen Abend wieder da seid.“
 
Gott dreht sich um und geht zurück zum Haus, um sein Nickerchen fortzusetzen. Vor der Tür schaut er noch mal zurück und spricht „denkt daran, wenn ihr miteinander geht, könnt ihr voneinander lernen, indem ihr euch gegenseitig von eurem Geschenk erzählt. Natürlich kann auch jede für sich losziehen und ihr Glück versuchen. Das liegt ganz allein bei euch.“  „Was heißt hier Glück?“ Ruft Fini in seine Richtung. „Was soll Geiz für ein Glück haben?“ „In jedem Geschenk ist ein Schatz verborgen und der nennt sich Glück.“ Mit diesen Worten schließt er die Tür. Fini und Fani bleibt nichts anderes übrig, als sich auf den Weg zu machen, um rechtzeitig zur Bescherung wieder zu Hause zu sein.
 
Auf der Erde angekommen sagt Fani „ich gehe in diese Richtung und du gehst in eine andere.“ „Aber wieso?“ Fragt Fini. Gott hat doch gesagt, dass wir zusammen bleiben sollen, dann können wir voneinander lernen.“ „Ach, paperlap“, entgegnet Fani. „Was soll ich von dir lernen? Was ich brauche habe ich bereits. Großzügigkeit. Das gebe ich dem Menschen, er ist glücklich und zufrieden und ich habe meine Aufgabe erfüllt. Deine Hilfe brauche ich dazu nicht.“ Fini sieht ihre Freundin an. Sie versteht nicht, warum sie aufeinmal alleine gehen will, wo sie doch immer alles gemeinsam unternommen haben. Traurig nimmt sie Fani noch mal in ihre Arme und wünscht ihr Glück. „Das brauche ich nicht“, gibt Fani ihr zu verstehen, „das habe ich bereits. Es ist in Großzügigkeit enthalten, denn, wie du gesagt hast, ist es ja das bessere Geschenk. Sieh du lieber zu, dass du dein Geschenk, den Geiz los wirst.“ Lachend dreht sie sich um und geht ihres Weges.
 
Fini steht eine Weile ziemlich unbeholfen da und weiß nicht so recht, was sie tun soll. So ganz ohne Fani war sie noch nie. Immer waren sie zu zweit, alles haben sie gemeinsam gemacht und jetzt soll sie ganz allein dem Menschen ein Geschenk geben, von dem sie weiß oder besser gehört hat, dass es nichts Gutes ist. „Na, das kann ja heiter werden, aber ich werde es schon schaffen“ beschließt sie und geht los.
 
Ihr Weg führt sie in die unterschiedlichsten Ortschaften. Sie geht über Berg und Tal, über Wiesen und Felder. Dabei begegnet sie vielen Menschen, aber niemand will ihr Geschenk haben. Sobald sie erfahren, was es ist, lehnen sie es ab. „Ach, wenn ich doch meine Großzügigkeit noch hätte“, jammert Fini „das nehmen die Menschen gern. Sie lieben es, wenn ich großzügig bin. Aber Geiz. Wie hat das Fani nur gemacht, dass die Menschen ihr das abgenommen haben?“ Ihre Gedanken kreisen um ihr Geschenk, doch sie kann nichts Gutes daran finden.
 
Als die Sonne fast untergeht findet sie eine Bank auf der sie sich ausruht. Sie schießt ihre Augen und stellt sich vor, wie sie den Menschen Großzügigkeit schenkt. Ganz in Gedanken vertieft merkt sie nicht, dass sich Jemand zu ihr setzt. Natürlich erkennt er sie nicht als das was sie ist, denn sobald Engel auf die Erde kommen, nehmen sie Menschengestalt an. Gott ist der Meinung, dass sie sonst alles durcheinander bringen. Dafür lässt er ihnen aber die Gabe, dem Menschen in die Herzen zu schauen.
 
Fini erschrickt ein wenig, als sie merkt, dass sie nicht mehr allein auf der Bank sitzt. Der Mann bemerkt ihre Überraschung und spricht sie freundlich an „Hallo, ich bin der Ferdi und wer bist du?“ „Ich bin Fini.“ Antwortet sie.  „Was machst du hier?“ Hakt Ferdi nach. „Ich denke über mein Geschenk nach“, beantwortet Fini seine Frage. „Über Dein Geschenk?“, Wundert sich der Mann. „Ja, über mein Geschenk“, betont sie nochmals. „Aha“, setzt Ferdi die Unterhaltung fort, „warum denkst du über dein Geschenk nach?“ „Na, es ist doch Weihnachten!“, Ruft Fini. „Ach ja, stimmt,“ seufzt Ferdi „das habe ich völlig vergessen.“ „Wie?“,  Erkundigt sich Fini. „Das hast du vergessen? Wie kann jemand Weihnachten vergessen? Es ist doch das schönste Fest im ganzen Jahr.“ Verdutzt schaut sie ihn an. „Was soll ich mit Weihnachten?“, Entgegnet Ferdi wehmütig, „wenn ich mir keine Geschenke leisten kann?“
 
Fini schaut sich ihr Gegenüber genauer an. Sie erkennt, dass sein Herz sehr traurig ist. Deshalb fragt sie etwas freundlicher.  „Wieso kannst du dir denn keine Geschenke leisten Ferdi?“ „Ach Fini, vor einiger Zeit habe ich im Lotto gewonnen. Es war richtig viel. Eine Million Euro.“ Fini bleibt vor Staunen der  Mund offen stehen. „Du hast eine Million Euro gewonnen und  kannst dir keine Geschenke leisten?“  „Ja,“ fährt Ferdi fort „es war verdammt viel Geld. Ich habe noch nie so ein Vermögen besessen. „Aber was ist denn passiert Ferdi?“ Unterbricht ihn Fini, die es nicht fassen kann. „Meine Großzügigkeit ist schuld daran, dass ich alles verloren habe.“  Fini glaubt falsch gehört zu haben. Sie sieht ihn an, schüttelt den Kopf und sagt „wie kann das denn sein? Großzügigkeit ist doch was Gutes. Wie kannst du durch sie etwas verlieren?“ Fini ist entsetzt. „Ich verstehe das nicht. Du hast im Lotto gewonnen und deine Großzügigkeit soll schuld daran sein, dass du alles verloren hast?“ In ihrem Kopf überschlagen sich die Gedanken. „Wie ist das möglich?“ Fragt sie ihn. „Das gibt doch gar keinen Sinn.
 
Verständnislos sieht sie ihn an, während Ferdi weiter spricht „Den Sinn darin habe ich auch nicht verstanden, aber es ist wirklich so. Ich hatte eine Million Euro und war überglücklich. Allein die Vorstellung, was ich mir alles leisten konnte machte mich glücklich. Aber weil ich zu großzügig war und jedem, der etwas brauchte davon abgab, blieb am Ende für mich nichts mehr übrig. Immer mehr Menschen kamen und ich konnte nicht nein sagen. Bis alles ausgegeben war. Jetzt stehe ich mit leeren Händen da.“ Fini schaut ihn an und sagt „deine Großzügigkeit hat dir geschadet, obwohl es doch was Gutes ist großzügig zu sein?“ „Ja, antwortet Ferdi „wäre ich geizig gewesen, dann hätte ich alles für mich behalten können.“ Fini ist fassungslos. Sie versteht die Welt nicht mehr. „Dann hat Großzügigkeit ja was Schlechtes.“ Murmelt sie leise vor sich hin. „Ich habe es immer für Gutes gehalten.“
 
Fast zur gleichen Zeit biegt Fani in einem kleinen Ort um die Hausecke und prallt beinahe mit einem Mann zusammen, der ihr entgegen kommt. Im letzten Augenblick weicht sie ihm aus. „Kannst du nicht aufpassen“, fährt sie ihn an. Es ist mehr der Schreck als der Ärger, der sie so reagieren lässt. „Wieso ich?“, Kommt es zurück. „Weil du mich fast umgerannt hast“, erwidert sie. „Du bist doch genauso um die Ecke gekommen“, schimpft er. „Na, egal,“ sagt Fani. „Ich muß mich beeilen, sonst komme ich zu spät.“ „Wohin willst du denn?“ Fragt der Mann, „ich heiße übrigens Arti.“ „Ich will mein Geschenk unter die Menschen bringen, um rechtzeitig zum Heiligen Abend wieder zu Hause zu sein.“ Als Arti sie etwas seltsam anschaut, begreift sie, dass er ja nicht wissen kann, dass sie ein Engel ist. Es ihm zu erklären wäre sinnlos, da er es nicht verstehen würde. Sie überlegt einen Moment, dann fragt sie ihn, „was wünscht du dir für ein Geschenk zu Weihnachten?“ „Was für ein Geschenk ich mir wünsche?“ Sagt Arti mit wehmütiger Stimme. „Ich brauche kein Geschenk. Was soll ich damit? Ich brauche auch kein Weihnachten. Alles, was ich mir nur wünschen konnte hatte ich bereits und durch Geiz habe ich es verloren.“
 
Fani denkt sie hört nicht richtig und fragt noch mal nach. „Durch Geiz hast du es verloren? Geiz ist doch etwas Gutes. Da kannst du nichts verlieren.“ Als er die Schultern zuckt, schaut sie genauer hin und erkennt das Leid in seinem Herzen. Vorsichtig fragt sie „was ist denn passiert?“  „Ach“, beginnt Arti zu erzählen „ich hatte wirklich alles, was ich mir vorstellen konnte. Eine reizende, liebevolle Frau, wunderbare Kinder, unendlich viele Freunde und eine große Familie. Aber durch meinen Geiz habe ich es verloren.“ Fani schaut ihn ungläubig an. „Das verstehe ich nicht, wie kannst du all das durch Geiz verlieren? Damit hältst du doch alles zusammen.“ „Ja, genau das habe ich getan. Ich habe alles fest zusammengehalten, Fani und genau das hat mich alles verlieren lassen. Meine Frau, meine Kinder, meine Freunde. Niemand will mehr etwas mit mir zu tun haben, weil ich geizig bin. Ach, wäre ich doch großzügig gewesen, dann wäre mir das nicht passiert.“ Erstaunlich, dachte Fani, dann hat Geiz ja was Schlechtes. Ich habe es immer für Gutes gehalten.
 
Nach dieser Erfahrung beschließt Fani erst mal mit Gott zu reden und macht sich auf den Heimweg. Unterwegs trifft sie auf Fini. Gemeinsam eilen sie nach Hause, um von ihren Erlebnissen zu berichten. Als sie im Garten ankommen, wartet Gott bereits auf sie. Völlig aufgelöst laufen sie in seine Arme und plappern drauf los. Gott schaut sie liebevoll an und sagt „nun mal langsam und eine nach der anderen, sonst verstehe ich ja gar nicht, um was es geht.“ Fini atmet tief durch und fängt an. Sie erzählt von dem Mann auf der Bank, von seinem Schmerz und davon, dass Großzügigkeit aufeinmal etwas schlechtes sein soll. Dabei schaut sie Gott an, als erwarte sie, dass er sagt, dass es nicht stimmt. Fani, die sich in der Zwischenzeit etwas beruhigt hat, fährt mit ihrer Geschichte fort. Sie spricht von dem Mann mit dem sie fast zusammengestoßen ist, von seinem Schmerz und davon, dass Geiz aufeinmal etwas schlechtes sein soll. Gespannt auf Gottes Antwort schauen ihn beide erwartungsvoll an. Er aber zündet sich eine Pfeife an, zieht genüsslich daran, bevor er zu ihnen sagt. „Dann seid ihr also getrennte Wege gegangen?“ „Ja,“ sagt Fani ziemlich leise, weil sie Angst hat, dass sie etwas falsch gemacht hat und daran schuld ist. Ich dachte, da es so leicht ist Großzügigkeit zu schenken brauche ich Fini nicht.“ Gott, der ihre Angst spürt, nimmt sie noch fester in den Arm und erklärt ihr „es gibt keine Schuld liebe Fani und Fehler sind wichtig, denn ohne sie können wir nichts lernen. Ich bin mir sicher, dass du etwas daraus gelernt hast.“ „Ja“, entgegnet Fani „ich habe daraus gelernt, das Zuhören etwas sehr wichtiges ist. Ich dachte, dass ich alles habe, was ich brauche.  Das Leben selbst hat mich eines Besseren belehrt.“ „Fein“, sagt Gott, „dann hat es ja etwas gebracht.“
 
Jetzt wollen wir uns heißen Kakao trinken, selbstgebackene Kekse essen und den Schneeflocken zusehen, wie sie vom Himmel auf die Erde fallen. Dabei erzähle ich euch, was es mit dem Geschenk auf sich hat. Im Wintergarten war bereits der Tisch gedeckt und nachdem sie Platz genommen hatten, beginnt er zu erzählen.
 
„Ihr wollt also wissen, was das beste Geschenk ist. Großzügigkeit oder Geiz.“ „Rausgefunden haben wir es nicht“, wirft Fini ein „nur festgestellt, dass wir es anders sehen. Das wir es für etwas anderes gehalten haben.“ „Ja“, spricht Gott weiter „genau deswegen solltet ihr euere Geschenke tauschen. Wie sonst solltet ihr darauf kommen, wenn ihr immer das gleiche schenkt? Dann gebt ihr einfach weiter, was ihr bereits kennt und macht euch keine Gedanken darüber.“ „Stimmt“, war es diesmal Fani, die ihn unterbricht „aber schlimmer ist, dass wir erkennen mussten, dass Gutes aufeinmal schlecht ist und sogar Schaden anrichtet.“ „Es ist auch schwer zu verstehen und mit Denken allein kommen wir nicht weiter.“ Gott streicht beiden über ihren Kopf. „Weder ihr, noch euer Geschenk schadet den Menschen. Sie können nur noch nicht damit umgehen. Sie sehen nur eine Seite, so wie auch ihr nur eine Seite gesehen habt. Selbst Engel, die in die Herzen schauen können haben da ihre Schwierigkeiten. Was gefehlt hat ist das Fühlen.“ „Das Fühlen?“ Fragt Fini. 
 
„Ja“, sagt Gott. „Das mit dem Denken ist nämlich so eine Sache. Ohne das Fühlen ist es ebenso wertlos, wie Großzügigkeit ohne Geiz und Stolz ohne Demut. Dazu kommt, dass für Engel alle Geschenke gut sind, denn Engel glauben an das Gute. Bei Menschen ist das anders. Sie glauben mal an das und mal an was anderes. Meistens glauben sie allerdings an gar nichts. Nicht mal an sich selbst.“ „Das ist ja kompliziert“, sagt Fini. „Nein, dass ist es ganz und gar nicht. Es ist sogar ziemlich einfach. Nur leider sehen es die Menschen nicht.“ „Aber warum denn nicht“, wollte Fani wissen. „Sie sehen es nicht, weil sie denken“, fuhr Gott in seiner Erklärung fort. „Sie denken?“ Fragte Fini. „Aber das ist doch gut, oder nicht?“ „Denken ist erst dann gut, wenn wir es fühlen.“ Erklärt er. „Wie können wir denken fühlen?“ Fragt Fini erstaunt. „Ich werde etwas weiter ausholen“, gibt Gott den beiden zu verstehen.
 
„Eine Raupe wird zum Schmetterling ob sie will oder nicht. Einfach, weil es ihre Bestimmung ist. Das ist ihre Aufgabe. Dafür ist sie Raupe geworden. Der Mensch denkt, dass sie dazu sterben muß. In gewisser Weise ist das so. Aber eben nur in gewisser Weise. Denn nicht sie muß sterben, sondern nur das, was sie ist, um etwas anderes zu werden. Ein Schmetterling kann keine Raupe mehr sein. Dann würde er niemals fliegen lernen, ja nicht mal auf die Idee kommen, dass er fliegen kann. Die Raupe hat im Gegensatz zu dem Menschen keine Wahl. Denn sie kann nicht denken. Ihr bleibt nichts anderes übrig als ein Schmetterling zu werden und aufzuhören eine Raupe zu sein. Wir können viel von ihr lernen. Schaut genau hin. Schaut, was sie tut. Sie gibt nicht sich selbst auf, sondern sie gibt das auf, was sie ist. Sie hört auf eine Raupe zu sein, wenn ihre Zeit gekommen ist. Das ganze nennt sich Metamorphose. So heißt diese Verwandlung. Darauf bereitet sie sich ihr Leben lang vor. Ohne darüber nachzudenken gibt sie sich dem Leben hin. Alles ist so angelegt, dass sie fühlt, wenn es so weit ist. Wenn der Tag kommt ist sie dafür bereit. Sie denkt nicht darüber nach, ob es schlimm ist zu sterben, oder was dann passiert. Sie folgt einfach ihrer Bestimmung. Erfüllt ihre Aufgabe. Dabei ist sie der wichtigste Teil, denn ohne sie würde es keinen Schmetterling geben. Es ist einfach so, dass erst etwas sterben muß, bevor neues entstehen kann. Im Grunde ist es mit allem so. Außer beim Mensch. Dem habe ich die Freiheit gelassen selbst über alles zu entscheiden. Die Freiheit zu sagen, wann er mit dem alten aufhört, um Platz zu schaffen für das neue. Er aber hat solche Angst vor dem sterben entwickelt, dass er immer nur an dem alten festhält und sich wundert, warum er auf dem geistigen Stand eines Kindes bleibt. Falls er sich überhaupt wundert. Die meisten Menschen funktionieren nur, anstatt zu leben. Die Angst vor dem sterben scheint sie regelrecht zu lähmen. „Das verstehe ich nicht“, wirt Fini ein, „es ist doch nicht schlimm zu sterben. Dann kommen sie doch nach Hause und wir können mit ihnen spielen. Wissen die Menschen denn nicht, dass sie alle Engel sind?“ „Es ist nicht so, dass sie es nicht wissen kleine Fini“, sagt Gott. „Sie haben es nur vergessen. Sie haben einfach vergessen, dass sie Engel sind.“ „Aber warum haben sie es vergessen?“ Fragt Fani. Gott setzt seine Erzählung fort „Ich habe dem Menschen das Denken geschenkt. Etwas, was er allen anderen Lebewesen voraus hat. Die Raupe fühlt, wenn es so weit ist und bereitet sich darauf vor. Dem Menschen habe ich die Möglichkeit gegeben selber Entscheidungen zu treffen und eigenverantwortlich zu handeln. Er hat von mir die Freiheit bekommen zu wählen. Im Grunde hat er sein Gefühl vergessen. Oder besser, er will es nicht mehr haben, weil es ihm weh getan hat.“ „Warum hat das Gefühl dem Menschen weh getan?“ Fragt Fini. „Als er ein Kind war, da hat er die Erfahrung machen müssen, dass niemand da ist, wenn er jemanden braucht. Diese Erfahrung ist wichtig. Ohne sie kann niemand lernen, dass er andere braucht. Da das aber das so weh getan hat und er das nicht noch mal erleben will, hat er beschlossen aufzuhören zu brauchen. Doch das ist  noch nicht alles, denn wer nicht braucht, der wird auch nicht gebraucht. Weil das genau das war, was er wollte, war er zufrieden. Erst mal. Als er dann älter wurde hat er vergessen, was er damals beschlossen hatte.  Jedes mal, wenn später das Gefühl aufkam, weil es von ihm geliebt werden will, hat er es entweder ignoriert oder dagegen gekämpft. Durch die Energie, die er dazu aufbrachte wurde es immer stärker. Erschwerend kommt hinzu, dass, als er jemand brauchte und niemand da war, sein Stolz verletzt wurde. Von da an hat er jedes Mal aus verletztem Stolz reagiert. Ihr könnt euch bestimmt vorstellen, wenn jemand aus verletztem Stolz reagiert, dass das nichts mit Liebe zu tun hat. Im Gegenteil, es hat ihn dazu gebracht zu denken, dass die Welt schlecht ist und andere Menschen als Feinde zu sehen.“ „Jetzt verstehe ich“, rief Fini. „Wenn er fühlt, dann fühlt er wie er sich damit fühlt und wenn er sich damit nicht gut fühlt, dann kann er es ändern.“ „Sehr gut“. Bestätigt er. „Ihr seht also, dass es nicht ohne Fühlen geht. Ohne Fühlen kann es nicht gut sein. Denken allein ist gut, wenn wir es zum Denken nutzen. Um seinen Schatz zu erhalten, um das Glück darin zu finden, muß es mit Fühlen im Einklang sein. Nur, wenn Denken und Fühlen gleichermaßen genutzt werden, sind sie ein Geschenk. So ist es mit allem, egal, ob es sich um Stolz und Demut handelt oder Großzügigkeit und Geiz.“
„Jetzt verstehe ich auch, wie wir von der Raupe lernen können“, sagt Fani. „Die Raupe folgt ihrem Gefühl. Am einfachsten ist es also, wenn der Mensch das Gefühl annimmt, egal, ob es ein gutes oder schlechtes ist. Herausfindet, ob es noch zu ihm passt und dann entscheidet, es aufzugeben oder zu behalten. Im Grunde wie eine Wolke, die vorüberzieht.“ „Genau“, sagt Gott. „Das hast du sehr gut erkannt. Schlimm ist, dass er genau dass, was ich ihm als Hilfe gegeben habe, dazu nutzt, um gegen sein Gefühl zu kämpfen. Was einen Kreislauf auslöst, aus dem es kein Entrinnen gibt. Es sei denn, er schaut sich an, was er hat.“ „Dann hat er sich ja so was wie ein Gefängnis gebaut“, stellt Fini fest. „Ja, so ist es und doch hat er die Möglichkeit, da heraus zu kommen, wenn er fühlt. Denn nur, wer fühlt, dass er im Gefängnis ist, hat die Wahl in Freiheit zu sein. Wer denkt, dass alles gut ist, sieht sein eigenes Gefängnis nicht, das er sich gebaut hat. Wie sollte er darauf kommen frei sein zu wollen.“ „Das kann er von der Raupe lernen“, sagt Fani. „Sie macht es ihm vor“. „So ist es“, sprach Gott „sie fühlt es. „Oder sie ist schlauer als der Mensch“, sagt Fini. „Von der Seite habe ich es noch nie betrachtet“, lacht Gott. „Ich sehe nur, dass es mit dem Denken doch recht schwierig für ihn ist. Denn, wer denkt, dass, wenn er jemanden braucht, eh niemand da ist, der wird niemals jemanden brauchen, weil er ja davon ausgeht, dass eh niemand da ist. Bei der Raupe ist es anders. Sie weiß, dass sie ein Schmetterling ist und bereitet sich darauf vor. Der Mensch weiß es ganz tief drinnen auch, dass er ein Engel ist, sein Gefühl erinnert ihn immer wieder daran. Da er aber sein Gefühl nicht haben will, es vergessen hat, sich nicht daran erinnert, denkt er, dass es immer so ist, wie er es erfahren hat. Das ist so, als würde die Raupe immer nur als Raupe herum kriechen und niemals ein Schmetterling werden. Er kann sich einfach nichts anderes vorstellen. Schon gar nicht, andere zu brauchen. Seine Aufgabe liegt darin, dass er selbst herausfindet, was er braucht, um es anderen Menschen mitzuteilen. Nur so kann ein Austausch stattfinden, damit die Menschen gegenseitig voneinander lernen, um miteinander zu wachsen.“ „Können wir da nicht helfen?“ Fragen Fini und Fani gleichzeitig. „Das habe ich schon lange, lange versucht. Immer wieder habe ich ihm Engel auf die Erde geschickt, um ihm zu zeigen, wie es geht. Das Problem ist, dass er die Engel nicht versteht, weil er aufgehört hat ein Engel zu sein. Er merkt es nicht mal, wenn ihm ein Engel begegnet und ihm etwas schenkt. Seine Freiheit. Wenn er ihm hilft aus seinem Gefängnis heraus zu kommen. Er hat sich einfach schon zu sehr daran gewöhnt. So wie ihr beiden. Ihr habt es selbst erlebt, wie dass, wovon ihr vorher glaubtet, dass es etwas Gutes ist, aufeinmal etwas schlechtes war. Dabei war es nur so, weil ihr es nur von einer Seite angeschaut habt. So war für Fini Großzügigkeit etwas Gutes, während es für Fani etwas Schlechtes war und Geiz etwas Gutes für Fani, während es etwas schlechtes für Fini war. Verbindet ihr eure Sichtweisen, erkennt ihr, dass es zwei Seiten eines Ganzen sind. Das ein Zusammenhang besteht. Ein Zusammenhang, der erst sichtbar wird, wenn wir das Ganze betrachten. Sobald wir beides gleichermaßen nutzen, erhalten wir das wahre Geschenk.“
 
Fini und Fani denken noch lange über Gottes Worte nach und Fani stellt begeistert fest „jetzt weiß ich, warum er zu uns noch gesagt hat, dass wir zusammen bleiben sollen“. „Ja, ich auch“. Sagt Fini. „Weil wir, ganz besonders unser Geschenk, einfach zusammen gehören.“ „Der Mensch hat es doch wirklich gut“, sagt Fani „er kann sich aussuchen, wie er etwas empfindet. Er kann selber darüber bestimmen, wie er sich fühlt. Da hat er doch der Raupe ganz schön was voraus, denn sie muß immer ihrer Bestimmung folgen. Schade, dass er es vergessen hat.“
 
„Ja“, ergänzt Fini „deswegen wollen wir ihn immer wieder daran  erinnern und welche Zeit kann dafür besser sein, als die Weihnachtszeit, in der alle Herzen weit geöffnet sind.“
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.12.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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