Marcel Hartlage

Der Wald

Das Fahrzeug stand am Straßenrand. Und es war leer.
Bob und seine Freunde, Chris, Steve und Phil, hatten gestern Abend ihre Sachen gepackt und waren heute Morgen aufgebrochen. Sie hatten Bobs Fahrzeug genommen – den schicken schwarzen Audi mit der verbeulten Karosserie und dem defekten linken Blinker – und hatten sich im Vorfeld sogar extra ein GPS gekauft, um den Nationalpark, den Backspot National Forest, auf direktestem Wege zu erreichen. Es war ein großes Waldgebiet mit einer Fläche von fast dreitausend Quadratkilometern, das bis über die kanadische Grenze reichte, und noch nie hatten sie in einem so weitreichendem, abgeschiedenen Areal gecampt. Eine gewisse unterschwellige Ehrfurcht waberte deswegen durch ihre Glieder – doch nicht nur allein wegen der schieren Größe des Gebiets.
»Wisst ihr, die Leute, von denen ich euch erzählt hab«, sagte Bob, »die schon vor ein paar Jahren in diese Gegend hier gefahren sind, um zu campen –«
»– sind unter ganz rätselhaften und mysteriösen Umständen nie wieder aufgetaucht«, sagte Chris. »Wir wissen es inzwischen, Bob. Ich meine mich sogar ganz dumpf daran erinnern zu können, dass du meintest, deine besagten Abenteuerfreunde von damals seien gar nicht« – er schlug sich eine Mücke vom Bein – »so tief in den Wald vorgedrungen. Zumindest nicht so tief, wie du uns gerade hineinzuführen gedenkst.«
Sie trabten bereits seit über einer halben Stunde durchs Unterholz, nur verfolgt von ihren Schatten, die die träge Mittagssonne zu Boden warf. Bob, der die Idee zu dem Ausflug gehabt und sich auch um die meiste Organisation gekümmert hatte – wodurch er von ihnen in stillschweigender Übereinkunft zum Anführer ernannt worden war – führte sie im Gänsemarsch voran.
»Genau«, sagte Phil. »Du meintest, sie hätten eine Autopanne gehabt und hätten ihr Lager deshalb notdürftig in der Nähe der Straße aufgeschlagen.«
»Wo sie dann ganz rätselhaft und mysteriös …«, setzte Chris grinsend nach.
»Ja, ja«, sagte Bob. »Insofern ihr euren Spott dann zur Genüge befriedigt habt, lasst mich andeuten, dass dieser damalige Ausflug – und die Geschichten, die sich um ihn ranken – uns aus heutiger Sicht ermöglicht, einen Vergleich aufzustellen.« Er strich einen Ast beiseite, der Chris zurück gegen die Brust schlug. »Denn wenn es schon nahe des Straßenrands zu Unerklärlichkeiten kommt, dann stellt euch mal vor, was alles im Inneren des Waldes passieren könnte.«
»Könnte«, sagte Phil. »Wir reden hier von der Möglichkeitsform.«
»Möglichkeitsform in Bezug auf paranormale Aktivitäten, vergiss das nicht«, sagte Chris zu ihm. »Ich wundere mich immer noch, wie wir uns von diesem kleinen Hobby-Ghostbuster da vorn hierzu haben breitschlagen lassen und nun ein ganzes Wochenende dafür aufopfern, uns von diesen Scheißviechern hier stechen zu lassen.« Wieder schlug er sich aufs Bein, um eine Mücke zu zerquetschen.
»Was ist denn hier sonst noch so passiert, Bob?«, fragte Steve. Er war der Einzige, der halbwegs Interesse an Bobs Geschichten zeigte, auch wenn Bob vermutete, dass er das mehr aus Mitleid tat.
»Na ja«, antwortete er, »bei meinen Recherchen bin ich unter anderem auf die Story eines Mädchens gestoßen, das sich hier vor ein paar Jahren in den Wäldern verirrt haben soll und seitdem als vermisst gilt. Sie war offenbar sehr introvertiert und habe deshalb oft Nachtspaziergänge gemacht, bis zu jenem Tag jedenfalls, an dem sie nicht mehr zurückkam. Und dann gibt’s da noch die Geschichte von so einem Typen, der hier bis vor einer Weile am Waldrand in einem kleinen Häuschen gelebt hat. Bis er dann eines Nachts Besuch bekam, und zwar aus dem Wald.«
»Ich wusste, dass Bigfoot existiert«, meinte Chris. »Meine Vermutung ist ja, dass er sich mit der Blairhexe gepaart hat.«
»Was für Besuch?«, fragte Steve unbeirrt.
»Das weiß man nicht, weil der Kerl wohl nicht darüber spricht.«
»Wie überraschend«, sagte Chris.
»Du kannst ihn ja selbst fragen, wenn du ihn siehst«, sagte Bob, nun etwas erhitzt. »Er wohnt gleich um die Ecke im nächstgelegenen Dorf.«
»Das sich wo befindet?«, fragte Phil.
»Lass mich kurz nachdenken … etwa acht bis zehn Meilen … östlich von hier? Oder westlich?«
Phil grunzte.
»Nun habt euch nicht so«, erwiderte Bob. »Lasst euch einfach ein bisschen drauf ein, betrachtet die Geschichten als atmosphärisches Extra. Wir werden so oder so nichts erleben, was uns zu Darstellern einer neuen macht, da können wir uns auch mit unserer Fantasie trösten.«
»So wie abends im Bett«, meinte Chris wehmütig, doch Phil war der Einzige, der lachte.
Danach legte sich Schweigen über sie, und sie lauschten dem Knacken und Knirschen des Unterholzes, dem Vogelgezwitscher hoch oben in den Baumkronen und dem Wind, der durchs Geäst blies, während sie Schritt um Schritt tiefer in den Wald vordrangen. Ab und zu raschelte ein Busch, wenn sie an ihm vorbeigingen, und Eichhörnchen oder Hasen kamen herausgespurtet und flüchteten vor ihnen ins nächste Dickicht. Jeder von ihnen lebte in der Stadt, und die ungefilterten, für sie fast befremdlichen Laute des Waldes wiegten sie schon bald in eine besänftigende, ruhige Stimmung, selbst Chris. Die Vorstellung, dass sich um diesen Ort Gruselgeschichten rankten, die auf wahren Begebenheiten beruhen sollten, war in Anbetracht der jetzigen friedlichen Stille beinahe absurd.
Sie ahnten es nicht.
Es war später Nachmittag, als sie einen Felsvorsprung fanden, in dessen Windschutz sie ihr Zelt aufschlagen wollten. Der Fels ragte über zwei Meter weit aus der Erde, links und rechts von ihm führten seichte Hänge hinauf auf einen Hügel, der mit Fichtennadeln und Kieferzapfen gesäumt war.
»Chris, Steve? Könnt ihr das Zelt aufbauen?« Bob beendete seine Musterung des Platzes und wandte sich zu den anderen um. »Phil und ich gehen in der Zwischenzeit schon mal Feuerholz sammeln.«
»Klar doch.« Steve legte seinen Rucksack ab.
»Und passt auf, dass euch nichts heimsucht«, rief Chris ihnen grinsend nach.
 
Meine Mutter hat einmal gesagt, wenn du unter einen Ast entlanggehst, der weit über die Straße ragt, dann wird er von dir angezogen und fällt einfach auf dich drauf. Bob wusste natürlich, dass das ein Hirngespinst war, eines, das seit Kindertagen in seinem Kopf schlummerte, doch er kam trotzdem nicht umher, sich jedes Mal unter großen, kahlen Ästen, die weit von einem Baum abstanden, unwohl zu fühlen. Und trotz ihrer herbstlichen, von Scharlachrot bis Nussbraun reichenden Farbenpracht hatte jeder Baum hier, in diesem Wald, etwas irgendwie Unheimliches an sich, als ob jeder Ast ein knochiger, ausgedorrter Finger wäre, der nach unten langte und sie zu packen versuchte.
Nicht durchdrehen, alter Knabe, sagte Bob sich. Sonst bist du am Ende noch der Einzige, der sich wegen der Geschichten um diesen Ort in die Hose scheißt.
»… die Äste eigentlich sind.«
Bob blinzelte. »Was?«
»Ich hab gesagt: Mann, wie monströs diese Bäume teilweise sind.«
»Ja«, sagte Bob matt. »Ja, stimmt.«
»Alles in Ordnung?« Phil sah ihn besorgt an.
Mein Gott, bemitleidet er mich etwa auch noch? »Alles bestens. Na klar.« Er hob einen weiteren Ast auf.
Schweigsam gingen sie weiter, umgeben von breiten Baumstämmen und den knirschenden Lauten des Unterholzes.
»Sag mal«, meinte Phil nach einiger Zeit, »Die Geschichten, die du uns die ganze Zeit um die Ohren haust – ist da wirklich was Wahres dran? An jeder, meine ich?«
»Selbstverständlich«, sagte Bob sofort. Er konnte natürlich nicht mehr wissen, als aus den Artikeln und Berichten hervorgegangen war, die er zur Vorbereitung des Ausflugs gelesen hatte, doch seiner Auffassung nach ließ sich nicht abstreiten, dass diese Geschichten allesamt irgendwo einen wahren Kern, einen wahren Ursprung, haben mussten. Er selbst erklärte sich das Verschwinden der Leute dadurch, dass sie einfach … einfach vom Erdboden verschluckt worden waren, und zwar wortwörtlich.
Dass der Wald sie geholt hatte.
»Bob?«
Bob blinzelte. Er hob einen dicken Ast auf und bugsierte ihn zu den anderen auf seinem Arm. »Wir sollten zusehen, dass wir langsam zurückgehen.«
Phil nickte. Sie machten sich auf den Rückweg.
Wenn es jetzt etwas gäbe, was Bob gerne wissen würde, dann war das die Richtung, aus der sie heute Nachmittag gekommen waren. So nebensächlich der Gedanke auch in seinem Kopf auftauchte, er war dennoch ihrer aller wegen wichtig, und er durfte ihn nicht vernachlässigen.
Als er und Phil jedoch den Lagerplatz unterm Felsvorsprung erreichten, verdrängte er den Gedanken rasch wieder.
Das hatte Zeit bis morgen.
 
»… und so wurden weder der Rektor, noch seine Schüler, jemals wieder gesehen. Ende«, schloss Chris seine Gruselgeschichte, und schaute mit ernstem Blick vom Lagerfeuer auf.
Einen Moment saßen sie still um die Flammen und schauten sich an. Zirpende Grillen umgaben sie wie die Nacht selbst und untermalten ihre Begeisterung.
»Das war … unterhaltsam«, meinte Phil schließlich.
»Vor allem der Baseballschläger, mit dem der tote Rektor um sich geschlagen hat«, sagte Steve anerkennend.
»Zum Teufel nochmal, mein Quell der Kreativität ist eben nicht unerschöpflich«, sagte Chris und lehnte sich zurück. »Zumindest hab ich ‘ne Geschichte erzählt, es könnte ja auch mal einer von euch ran. Ohne sich gleich der Folklore dieser Gegend zu bedienen«, fügte er mahnend hinzu, als Bob bereits den Mund aufmachte.
Steve und Phil schwiegen jedoch. Nach ein paar Sekunden seufzte Chris.
»Na schön. Bob, langweile uns.«
Bob lächelte stumm. »Eine kenne ich noch. Und die ist noch ziemlich frisch aus dem letzten Jahr.«
Die anderen drei hoben die Braunen.
Bob beugte sich ein wenig vor und starrte in die Flammen. »Zwei Männer wollten im Wald jagen gehen. Sie hatten ihre Ausrüstung zusammengepackt, sich ihre Gewehre geschnappt und waren aufgebrochen. Das war das letzte Lebenszeichen von ihnen, niemand hat sie danach wieder gesehen.« Er legte eine dramaturgische Pause ein, um die Worte sacken zu lassen. Um sie her tauchte die Nacht den Wald in schwarze Stille.
»Sie erreichten die Wälder wohl um die Abendzeit herum. Nachdem sie ihr Auto am Straßenrand abgestellt hatten – genauso wie wir und genauso wie die Truppe vor ein paar Jahren –, verschwanden sie im Unterholz und kämpften sich ein gutes Stück voran. Sehr, sehr weit hinein. Und was dann geschah … nun, darüber kann man nur munkeln. Den Legenden nach, die man sich in dieser Gegend hier erzählt, wurden die Jäger früher, wenn sie die hiesigen Wälder aufsuchten … verrückt. Wahnsinnig. Weil der Wald nicht wollte, dass man in ihm jagte, versteht ihr? Weil die Natur es hier nicht akzeptiert, wenn die Menschen sich in ihr einmischen. Und so hat sich das Gerücht durchgesetzt, dass einer der beiden Jäger wahnsinnig wurde, sich sein Gewehr genommen hat – und den anderen erschoss.«
Erneut machte Bob eine Pause. Mit glasigem Blick schob er die Glut in dem Feuer zurecht.
»Wie viel davon auch immer der Wahrheit entspricht«, fuhr er fort, »die Leiche des einen fand man fünf Tage später am Straßenrand. Das Merkwürdige daran war nur, dass der Kopf fehlte. Anscheinend perfekt enthauptet.«
»Hat man nach dem anderen Jäger gesucht?«, fragte Steve.
»Na ja, eine Weile schon … aber die Wälder hier sind groß, und irgendwann gab man es auf, weil er einfach nicht zu finden war. Jetzt heißt es, er stapft hier noch immer durch die Gegend und hält Ausschau nach Wanderern, die die Natur beschmutzen, um sie –« Er formte seine Hand zu einer Pistole und richtete sie auf seinen Kopf.
Stille. In der Nähe erklang eine Eule.
»Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn«, sagte Chris schließlich.
Bob entging nicht der herausfordernde Ton. »Und wieso?«
»Na ja, du sagtest doch, dass der Kopf des Erschossenen perfekt enthauptet wurde. Und dabei wurde er doch … erschossen.«
»Ich weiß.«
»Also –?«
»Genau das ist es ja«, sagte Bob. »Es gibt zu viel Raum für Interpretationen. Zu viele Möglichkeiten, was passiert sein könnte.«
»Fand man denn den Kopf des Toten?«, fragte Steve. Phil warf ihm einen leicht unbehaglichen Blick zu.
Bob überlegte, dann schüttelte er den Kopf. »Nicht dass ich wüsste. Es gab Einschusslöcher in seiner Brust, die bewiesen, dass mit einem Gewehr auf ihn geschossen wurde, und die hat man dann auch als Todesursache gewählt. Hat den medialen Wirbel kleiner gehalten, wenn ihr versteht.«
»Kam es … danach noch mal zu besonderen Zwischenfällen?«, fragte Phil zaghaft. »Ist seitdem noch mal was vorgefallen?«
In Gedanken versunken, schob Bob die Glut herum, bis Funken aufstoben.
»Nein. Das ist das letzte Ereignis, zu dem ich etwas im Internet fand. Ansonsten gibt’s noch haufenweise Erlebnisberichte von Wanderern und Anglern und Hobby-Bergkletterern und so. Und Campern. Vielen, vielen Campern.«
»Also alles nur Getue, um den Tourismus anzukurbeln«, sagte Chris.
»Ja«, sagte Bob, den Blick noch immer in die Flammen gerichtet. »Vermutlich.«
»Du klingst so enttäuscht.«
Bob schaute kurz auf. Ansonsten schwieg er.
»Na ja –« Chris stand auf und streckte sich mit einem übertriebenen Gähnen. »Es ist jetzt bald zwölf, und ich bin hundemüde. Wollen wir uns langsam hinlegen?«
Murmelnd stimmten die anderen zu. Sie löschten das Feuer und krabbelten in ihr Zelt, wo sie sich in ihre Schlafsäcke legten, die Augen schlossen, und schon bald von ihrer Müdigkeit übermannt wurden.
 
Nur Bob lag wach und lauschte der Nacht.
Es war unfassbar eng, obwohl es ein Viermannzelt war. Er roch Schweiß, hörte Mücken um seinen Kopf schwirren und Chris laut schnarchen. Doch das war nicht das Schlimmste, o nein; das Schlimmste waren die Geräusche von draußen, von dem Wald, der sich Meile um Meile um das Zelt erstreckte; der Wind, der um die langen, knorrigen Äste heulte, das Knistern und Knacken im Laub, die Rufe der Eulen … und all das gepaart mit seinen Hirngespinsten, die er sich aufgrund seines eigenen Verschuldens in den Kopf gepflanzt hatte und die jetzt, genährt von der Nacht dort draußen, wucherten und wucherten … Gedanken an verschwundene Camper und verschwundene Mädchen, an merkwürdige Besucher, die wahllos irgendwelche Häuser aufsuchten … Gedanken an wahnsinnig gewordenen Jäger, die durch den Wald rannten und nach Leuten wie ihm Ausschau hielten.
Sie mussten etwas gesehen haben. Etwas, von dem einer der beiden verrückt geworden war.
Großer Gott, Bob, du tust so, als wären diese Mythen tatsächlich echt.
Er kam sich unfassbar dämlich vor. Warum war er überhaupt auf die Idee gekommen, hier raus zu fahren und zu campen? Hatte er sich wirklich erhofft, etwas zu finden, ein Wesen, ein Monster, ein Etwas, von dessen Anblick man wahnsinnig wurde, so wie es in den Berichten und Legenden geschrieben stand? Die ehrliche Antwort lautete vermutlich ja, er hatte genau danach gesucht. Hatte darauf gehofft, um den anderen zu zeigen, dass er kein einsamer Spinner war, der sich in den Untiefen solcher Geschichten verlor, sondern dass all seine Leidenschaft, die er für diese Geschichten hegte, irgendwie berechtigt war. Dass seine Angewohnheit, die Zeit lieber damit zu verbringen und Zuhause zu bleiben, statt unter Leute zu gehen, irgendwie berechtigt war …
Hatte er sich wirklich so sehr darin verbissen, ihnen etwas zu beweisen? Mit solch einem Unfug?
Umso enttäuschender ist es, wenn man dann nichts findet, dachte Bob plötzlich, mehr ironisch denn selbstmitleidend. Wir werden morgen früh aufstehen, uns Speck braten und das Zelt lüften, und wir werden uns erzählen, wie unnötig dieser Kurztrip doch war. Chris wird weiter auf mir rumhacken, mich mit meiner Begeisterung für das Ganze aufziehen, und dann wird er mit Phil –
In diesem Moment zuckte er zusammen, denn er hatte etwas gehört.
Hatte draußen etwas gehört.
Unfug, sagte er sich. Natürlich Unfug. Davon haben wir doch eben gesprochen …
Nein, da war es schon wieder … Irgendein Knistern, ein Rascheln, genauso wie …
Für einen Moment stockte ihm der Atem.
Wie Schritte. Es hatte sich angehört wie Schritte. Vor dem Zelt.
Bob spitze die Ohren. War er so schon nicht müde gewesen, war er jetzt erst richtig wach, als hätte er mehrere Tassen Kaffee in sich gekippt. Er fixierte seinen Blick auf den Reißverschluss des Zelteingangs, stellte sich die von Nebelschwaden durchzogene, dunkle Welt dahinter vor, und gleichzeitig malte er sich aus, wie jemand … wie etwas da draußen seine Runden drehte. Sich anpirschte …
»Chris?«, flüsterte er und merkte, wie seine Stimme zitterte. Wie überhaupt alles an ihm zitterte. »Steve?«
Niemand gab eine Antwort. Sie schliefen.
»Chris?«, flüsterte er jetzt etwas lauter, und in diesem Augenblick hörte er draußen Zweige brechen und Laub knirschen, direkt vor dem Zelt.
»Chris, verdam –!«
Sein Atem stockte erneut, eine Gänsehaut kroch über seinen Körper.
Konturen von einem Ast – womöglich von einem Finger – schleiften an der Seite des Zelts entlang. Der feine Stoff gab ein sanftes, raschelndes Geräusch von sich, das, wie Bob fand, überhaupt nicht zu dem passte, was er hier gerade durchlebte.
Vielleicht sollte ich nachgehen sehen.
Bist du denn von allen guten Geistern verlassen, du Idiot?
»Steve!«, zischte er. »Chris! Verdammt nochmal, wacht auf! Phil!«
Aber sie wachten nicht auf. Sie schliefen, als lägen sie Zuhause in ihren gemütlichen, warmen Betten angekuschelt an ihren Freundinnen oder einer Wärmflasche.
Geh nachsehen, sagte ihm eine Stimme in seinem Verstand. Geh nachsehen und schau, was dort ums Zelt herum schleicht.
Doch in genau jenem Moment lauschte er noch einmal und konnte plötzlich nichts mehr hören. Keine Schritte mehr, kein Rascheln, nichts. Er wagte ein nervöses Lächeln, als er es sich zaghaft wieder in seinem Schlafsack gemütlich machte. Alles nur Einbildung, glasklar, er konnte sich jetzt wieder aufs Einschlafen konzentrieren. Vermutlich würde sein Gedankenkarussell jetzt, nachdem es ihn nochmal ordentlich ins Schwindeln gebracht hatte, endlich langsam zum Stehen kommen, und er würde –
Zweige brachen, in unmittelbarer Nähe, und Bob fuhr zusammen. Was, zum Teufel, war das gewesen? Hatte man sie verfolgt? War ihnen vielleicht jemand in den Wald gefolgt, nur, um sie jetzt voller Schadenfreude zu verarschen? Oder war es vielleicht ein Tier?
Als Bobs Kopf ein merkwürdiger, makabrer Gedanke
(Der Jäger war’s, der Jäger war’s)
beschlich, überkam ihn plötzlich erneut eine Gänsehaut. Er lauschte, spitze die Ohren … und hörte dann wieder nur Stille.
Er schwankte zwischen Skepsis und Panik. Es konnte gut möglich sein, dass er sich diesen ganzen Quatsch nur einbildete, dass sein Unterbewusstsein ihm den Glauben lassen wollte, den er sich für die Reise hierher aufgebaut hatte, und dass er jedwedes Geräusch viel deutlicher wahrnahm, als es in Wahrheit war. Alles im Bereich des Möglichen.
Doch machte ihn das nicht selbst ein wenig verrückt?
Bob schloss die Augen.
Im selben Moment hörte er Schritte hinter seinem Kopf.
Er fuhr so schnell hoch, als hätte man ihm einen elektrischen Schlag verpasst. Seine Augen weiteten sich, und sein Herz begann, schnell und unregelmäßig zu schlagen. An der Rückseite des Zeltes waren Schritte erklungen, ganz sicher, es waren Schritte gewesen! Wie von einem Menschen, wie von einem –
Einem Jäger.
»Bob?«
Bob zuckte zusammen und packte sich auf die linke Brust, dorthin, wo sein Herz gerade einen Salto gemacht hatte.
»Warum bist du wach?« Steve richtete sich auf und spähte durch die Dunkelheit zu ihm rüber. Schwaches Displaylicht von seinem Handy tauchte das Zelt in ein eisiges Blau. »Geht’s dir g –«
»Sei ruhig!«, zischte Bob. Er sah, dass Steve zusammenzuckte. Dann weiteten sich auch seine Augen, füllten sich mit dem Ausdruck der Angst und dem leichten Anflug von Ungläubigkeit.
Jetzt nämlich hörten sie beide die Schritte.
Wenn es Schritte waren.
Bob legte den Zeigefinger auf die Lippen. Steve nickte ihm zu. Mücken summten um ihre Ohren, Schweiß begann sich auf ihrer Stirn zu bilden, die Anspannung vibrierte in der Luft wie kurz vor einem Donner.
Jetzt waren die Schritte wieder vorm Zelteingang. Verharrten dort.
Dann hörten sie einen gurgelnden Laut.
Bob musste sich auf die Zunge beißen, um einen Schrei zu unterdrücken. Dieses Geräusch, dieser Laut, der einem Menschen fremder war als das Brüllen eines Löwen oder das Singen eines Wals – dieses Geräusch formte seinen Magen zu einem Eisklumpen, ließ seine Mundhöhle austrocknen, durchflutete sein Blut mit Adrenalin.
Gelähmt vor Panik lauschten sie – doch es blieb wieder ruhig. Selbst der Wald schien verstummt zu sein.
Und genau in dem Moment, in dem Bobs Digitaluhr piepte, riss die Rückwand des Zeltes auf.
Eisiger Wind peitschte durch die Öffnung, Kälte umklammerte sie, Chris und Phil wachten auf und schrien. Als schlängelte sich wie aus dem Nichts ein Tornado durch das Zelt, begann es heftig zu vibrieren und zu schwanken, die Luft prallte gegen den Felsvorsprung und entwich zu seinen Seiten, die Rückseite riss immer weiter auf und bot sie immer mehr der Finsternis des Waldes da –
Es steht vorne, dachte Bob wie gelähmt. Es steht vorm Zelt.
Und so schnell, wie er gekommen war, legte sich der Sog plötzlich wieder.
»Scheiße, Mann«, knurrte Chris. »Was war das, zum Teufel?«
Er und Phil richteten sich langsam auf, blickten verwirrt umher. Bob hatte plötzlich das Verlangen, sich umzudrehen. Dem entgegen zu blicken, was für die Schritte und den Windstoß verantwortlich war.
Doch gleichzeitig wollte er es nicht glauben.
»Bob!«
Chris schnippte ihm vor die Augen. Bob fuhr zusammen, und noch im selben Augenblick sagte er: »Wir müssen hier raus.« Seine Stimme klang ruhig, gefasst, doch merkte er das im jetzigen Moment gar nicht mehr. »Sofort hier raus.«
»Kannst du uns vielleicht erst mal erklären, was –«
»Sofort!«, schrie Bob. Er erhob sich, gab sich einen Ruck und verließ durch die Öffnung das Zelt.
Nichts war zu sehen. Alles schien verlassen zu sein. Nur das Zelt zu seinen Füßen, das langsam begann, in sich zusammenzusinken, und die verkohlten Überreste des Feuers. Während die anderen herausgekrochen kamen, schaute er sich weiter um.
Nebelschwaden hingen zwischen den Bäumen.
Ansonsten war nichts zu sehen.
»Bist du von allen guten Geistern verlassen, Bob?«, schnauzte Chris ihn an und kam auf ihn zugelaufen.
Bob drehte sich zu ihm um. »Was? Was meinst du?«
»Macht es dir Spaß? Hat’s dir Spaß gemacht, ja?«
»Ich weiß nicht, was du –«
Bob sah Sterne, falsche Sterne, die in einer Dunkelheit strahlten, in der nur Schmerz existierte. Dann spürte er Blut, sein Blut, wie es aus seiner Nase lief und seine Lippen benetzte. Irgendwo schrie eine entsetzte Stimme Chris‘ Namen.
Bob kam wieder zu sich, spuckte Blut zu Boden und sah dann in Chris‘ Gesicht. Es war wutverzerrt, eine Maske roten Zorns, und seine Faust zitterte.
»Was sollte das?«, fragte Bob ruhig, aber schwer atmend.
»Wenn wir nichts zu diesen Geschichten finden, dachtest du wohl, musst du eben ein bisschen nachhelfen, was?« Chris kam wieder einen Schritt auf ihn zu.
»Ruhig, Leute«, sagte Phil.
»Halt die Schnauze«, sagte Chris. Er sah wieder Bob an, nachdem Phil verängstigt den Kopf abgewandt hatte. »Wie war das mit ›Wir sollen uns mit unserer Fantasie trösten‹? Wir würden so oder so keine Darsteller einer neuen Legende werden? Du und deine Versessenheit zu diesen Geschichten, deine Versessenheit, mit der du uns hierher gelockt hast … Komm, sag schon, wie hast du’s hingekriegt? Mit ‘nem Laubgebläse? Irgendeinem versteckten kleinen Windrad? Hast du die Rückwand mit ‘nem Messer aufgeschlitzt, damit sie schneller abreißt?«
»Ich war es nicht«, sagte Bob.
»Erzähl keinen Mist. Du hast uns angeführt. Du hast beschlossen, an dieser Stelle das Zelt aufzuschlagen. Du hattest tagelang Zeit, alles vorzubereiten.«
»Ich war es nicht«, wiederholte Bob. Er spuckte noch einmal Blut, bevor er wieder aufsah. »Hör zu, irgendwas ist ums Zelt –«
»O ja, natürlich, irgendwas ist ums Zelt geschlichen! Hört ihn euch an, den kleinen Möchtegerngruselkasper!« Chris hob theatralisch die Arme gen Himmel, bevor er ihn wieder ansah. »Nun, bist du jetzt zufrieden? Hast du deine kleine Gruselstory, mit der du Zuhause prahlen kannst?«
»Es ist, wie ich es sage, Chris. Wir –«
»Weißt du eigentlich, dass bei der Aktion auch jemand hätte verletzt werden können?«
»Chris –«
»Dass weiß Gott was hätte passieren können?«
»Chris, nun hör doch mal –«
»Wie scheiße es eigentlich von dir war, uns in diese Scheißgegend zu locken? Nur, um für deinen strunzdummen Aktionismus herzuhalten?«
»Chris, bitte, wir sollten schnellstens –«
»Hast du eine Ahnung, was –«
Doch weiter kam er nicht. Denn plötzlich lag Stille über dem Wald, schwere, fühlbare Stille, die sogar Chris zu spüren schien und zum Verstummen brachte. Sie wurde eingeleitet von einem Gurgeln, das leise, und doch laut zugleich war, und das ganz aus der Nähe kam.
Bob, Chris, Phil und Steve – sie alle wandten sich um und sahen zwischen den Baumstämmen in den Nebel.
Und dort stand, kaum auszumachen, eine Gestalt.
Bob glaubte, irgendwo wieder eine Eule zu hören.
»Was zur Hölle«, flüsterte Chris.
Dann gab die Gestalt urplötzlich einen Laut von sich – nicht mehr gurgelnd, sondern kreischend –, bevor sie taumelnd und schreiend auf sie zugestürmt kam.
Alles schlug in wilde Panik um.
Die Vier drehten sich um und rannten, rannten, wie ihre Beine sie trugen, blind den Hügel hinauf und in den dichten Nebel zwischen die Stämme, wo sie auseinanderstoben und sich verloren. Hinter sich hörte Bob unmenschliche Schreie und wildes Getrampel, und jedes Mal, wenn es kreischte, durchbrach gleichermaßen eine Windbö die Stille.
Dann erklang irgendwo neben ihm ein Schrei. Ein panischer, schmerzverzerrter Schrei. In seiner Eile konnte Bob nicht erkennen, wer es war, doch er sah die Schemen einer Person, die zu Boden fiel, schluchzte und bettelte – und dann von einer Windbö verschluckt wurde und verstummte.
Bob beschleunigte, getragen von Furcht und Panik.
Er rannte, eine blanke Ewigkeit schien er zu rennen, geplagt von Krämpfen und Seitenstichen, und erst nach einer Stunde, als er einfach nicht mehr konnte und schon von alleine langsamer wurde, blieb er stehen.
Er schnaufte. Alles schmerzte. Wellen der Angst durchzuckten seinen Körper. Es war noch immer stockfinster, noch immer komplett still. Sein Blut war getrocknet, sein Kopf und sein Kiefer dröhnten, alles schien verschwommen, unecht, nicht real. Nebel waberte zwischen seine Füße.
Er hockte sich hin, musste eine Pause machen.
Genau in dem Moment zerbrach ein Gewehrschuss die Stille.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.12.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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