Björn Bergstein

Experiment I Alpha: Testlauf Chinatown

Mit einem müden Gähnen drehte er den Kopf nach links und gab damit den Blick auf die metallisch glänzende Fläche hinter seinem Ohr frei. Der Mond spiegelte sich leicht im matten Glanz seines Ledermantels. Seine Augenlider folgten der Erschöpfung und schlossen sich in einer langsamen Bewegung. Die dreckige Luft des chinesischen Viertels war durchzogen von grau braunen Wolkenfetzen, die wie leise Drachen auf der Suche nach Nahrung durch die Straßen zogen. Der tiefe Atem füllte die unnatürliche Lunge und drückte den Oberkörper gegen den Brustpanzer. Die mit Fleischfetzen überzogene Hand strich behutsam durch das schüttere, schwarze Haar, das sofort wieder in die vorgesehene Form zurückfiel. Das Rasseln der Maschinen und Öfen untermalte die mit greller Neonschrift beleuchtete Kulisse. Ein Ablauf, der einem Ritual gleich kam, spielte sich vor dem Auge von John Grey ab.

Die Lider öffneten sich beim Zurückkehren des Kopfes und gaben eine fast perfekte, meeresblaue Retina preis. Sogar kleine Nuancen von Grün und Grau umspielten Teile der Linse. Das Tor zur Seele hatte keinen erkennbaren Makel. Die Freiheit seines Geistes war uneingeschränkt von der Programmierung seiner Väter vorgegeben. Ein Schicksal des Daseins, welches bereits bei der Geburt in klare Bahnen gelenkt werden sollte. Gedanken kreisten nicht umher, sondern gaben sich der stringenten Bahn der Logik seines Binärcodes hin. Die Farbe Grau war ihm unbekannt. Er war der Grund seines Lebens.

Sein Blick umklammerte den Menschen auf der anderen Straßenseite, worauf er sich mit bedächtigen Schritten in seine Richtung zog. Die kybernetischen Füße gaben dem Wunderwerk der Technik einen aufrechten Gang. Unzählige Jahrtausende hatte die Natur für etwas gebraucht, das der Mensch in wenigen Jahren selbst erschaffen konnte. In der Bibel heißt es, dass der Mensch nach Gottes Ebenbild geschaffen wurde. Ein Dogma, was im Angesicht dieses Wesens spürbar war. Die Herrschaft vom Geist über Materie hatte ihr Ziel erreicht.

Jetzt standen sie sich gegenüber. Einer der Väter und einer der Söhne. John Grey legte mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck die Hand auf die Schulter seines Sohnes.

Die Leichtigkeit, mit der die Klinge in den Körper des Mannes rammte, konnte man durchaus als Kunst bezeichnen. Eine Explosion an Schmerz und Übelkeit begleitete den kurzen Weg der scharfen Schneide zum Herzen. Mühelos durchschlug sie Muskeln und Sehnen auf ihrem blutbefleckten Pfad durch das Fleisch. Die Knochen seines Brustkorbes versuchten für einen Moment verzweifelt, den Einlass in das Heiligtum zu verwähren. Doch die konstante Wucht des Schlages zerschmetterte die Barriere mit einem leichten Knackgeräusch. Die toten menschlichen Augen des Mannes blickten in die Leere hinter der perfekt justierten Linse, die ohne zu blinzeln ihr Werk beobachtete und analysierte.

Die Firma hatte keinen Gebrauch mehr für seine Expertise.

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