Marcel Hartlage

Eisen

Und wieder hatte sein Vater ihn eingesperrt.
Dabei hatte er gar nichts Schlimmes getan, ehrlich nicht. Warum, um Himmels Willen, war sein Vater immer so gemein zu ihm? Und seine Mutter? Sie hatte es ihm verboten, heute am Mittagstisch zu sitzen, obwohl er doch gar nichts Schlimmes getan hatte. Ehrlich nicht.
Die Katze selbst hatte es so gewollt. Aber seine Eltern, und auch sein ältere Bruder, verstanden das nicht. Sie verstanden alles nicht, was er verstand. Sie hatten in der Katze nur ihr kleines, putziges Haustier gesehen. Nicht das, was er gesehen hatte. Er hatte ihr Leiden gespürt. Ihren Kummer. Ihre Schmerzen. Sie hatte zu jenem Zeitpunkt kaum noch laufen können, ihr Kopf hatte gezittert, das Futter in der Schale zu ihren Füßen hatte sie nicht eines Blickes gewürdigt. Obwohl sie es sonst so gerne gegessen hatte. Er hatte das erkannt. Seine Eltern, und sein älterer Bruder nicht.
Deswegen hatte er die Schere genommen. Weil er das Leiden, den Kummer, die Schmerzen, beenden wollte. Hatte die Schere genommen und sie am Hals des armen Tieres angesetzt. Nun war Leiden, Kummer haben und Schmerzen spüren, vorbei. Die Katze war nun an einem besseren Ort.
Er hatte ihr Blut getrunken und ihr das Herz entrissen.
Und auch das hatten seine Eltern und sein älterer Bruder nicht verstanden. Die Katze war jetzt an einem besseren Ort, aber sie musste auch noch auf Erden bleiben, damit sie nicht in Vergessenheit geriet. Sie durfte ja nicht vergessen werden. Damit sie auch weiterhin auf ihrer geistlichen Ebene existieren konnte, hatte er ihr Blut getrunken und ihr Herz gegessen. Jetzt war sie ein Teil von ihm, er war der Wärter, der Wächter, der Beschützer der Gestorbenen. Für die Katze. Und für die Hunde, Waschbären, Vögel und anderen Tiere von davor. Sie alle waren ein Teil von ihm.
Und genau das verstanden seine Eltern und sein älterer Bruder nicht.
Jetzt hatte ihn sein Vater in den Wandschrank eingesperrt, nachdem sie die tote Katze entdeckt hatten. Und sie hatten gewusst, dass er es gewesen war, natürlich, es war genauso, wie die Male davor. Er würde bis zum Abend im Wandschrank eingesperrt bleiben, und dann würde sein Vater ihn wieder fragen, warum er das gemacht hatte.
»Weil sie Leid, Kummer und Schmerz gespürt haben«, würde er sagen, so, wie er es immer sagte, wenn sein Vater ihn fragte. Er wusste um die Gedanken seiner Mutter, seines Vaters und seines Bruders Bescheid, o ja. Sie dachten, er wäre einer der Typen, die in einer dieser Anstalten eingeliefert wurden. Die Hilfe brauchten. Hilfe von einem Arzt.
Das war nicht so. Das konnte niemand so gut wissen, wie er selbst.
Und jetzt waren seine Eltern und sein Bruder auch von Kummer und Leid erfüllt.
Dem würde er natürlich Einhalt gebieten. Er wollte seine Familie nicht Leiden sehen, sie sollten keinen Kummer und erst Recht keinen Schmerz spüren. Sein Vater war kurz davor, einen Arzt zu rufen, wie bei den Typen, die in die Anstalt kamen.
Zum Glück fand sich im Wandschrank die alte Eisenstange.
Die hatte sein Vater hier mal reingestellt. Nachdem er sie im Zimmer von seinem jüngsten Kind gefunden hatte.
Jetzt war sie wieder an seiner Seite, die gute alte Eisenstange, das schöne, rostige, blutbefleckte Eisen. Blut von Katzen und Hunden und von den Waschbären und Vögeln klebte daran. Hiermit hatte er vielen schon den Weg gezeigt. Den richtigen Pfad in eine bessere Welt. Darauf war er sehr stolz. Das Blut vieler Hunderte klebte an diesem Eisen. Es war ein gutes Eisen.
Heute Abend würde es ihm einen weiteren Dienst erweisen.
Der kleine Junge in dem Wandschrank setzte sich hin und schloss die Augen. Er müsste nur warten, bis sein Vater heute Abend kommen würde, und dann würde er zuschlagen. Er wollte ihnen nichts Böses, ganz im Gegenteil, er wollte sie befreien von Kummer und Leid, damit sie keine Schmerzen spürten. Er selbst konnte ihnen nicht folgen. Er musste hier bleiben, als Wächter, als Beschützer. Er würde die Welt heilen, sodass es bald keinen Schmerz mehr geben würde.
Der Junge im Wandschrank schlief nicht. Er wartete geduldig, bis die Sonne sich dem Horizont näherte. Dann waren da auch schon die Schritte auf dem Flur.
Er kniff die Augen noch fester zusammen und umklammerte das Eisen.
»… psychische Hilfe in Betracht ziehen.«, hörte er seinen Vater reden, während der mit einem Schlüssel in der Hand auf den Wandschrank zukam.
Gleich würde er von seinem Leid befreit sein.
Vom Kummer.
Vom drohenden Schmerz.
»Schläfst du schon?« Der dumpfe Klang der Stimme vor der Tür. Sie klang besorgt. Ein Zeichen dafür, dass es schon höchste Zeit wurde für den Pfad.
»Nein«, sagte er und erhob sich. Die Augen hatte er noch immer geschlossen.
»Ich werde jetzt aufschließen.«
»Ja.«
»Aber vorher beantwortest du mir noch zwei Fragen.«
»Ja.«
Sein Vater machte eine kurze Pause. Er spürte die Übermacht des Kummers, des Leids, der Besorgnis in ihm.
»Fühlst du dich wohl?«, fragte sein Vater. »Geht es dir gut, oder … oder hast du vielleicht Schmerzen? Im Kopf? Hast du vielleicht oft Kopfschmerzen?«
»Nein.«
Wieder eine Pause. Dann: »Wirst du dich ändern? Wirst du aufhören, Tiere umzubringen und ihr das Blut … ihr H-herz … Wirst du damit aufhören?«
»Nein.«
Eine lange Pause. Das war kein gutes Zeichen. Kummer … Leid … vielleicht auch bald Schmerz, wenn jetzt nichts geschah. Er wollte seine Eltern ja nicht beunruhigen, aber er konnte sie doch auch nicht anlügen. Er wollte keine Sünden begehen.
»Junge«, sagte sein Vater besorgt. »Mein Junge, wir wollen dir doch nur helfen.«
»Ihr helft mir, wenn ihr mich hier rausholt.« Seine Stimme war kühl. Sie war rau und dunkel. Am Tag sagte er normalerweise nicht mehr als einen Satz oder ein Wort. Meistens Ja oder Nein, vielleicht auch Bitte und Danke.
So grob wollte er gar nicht sein, aber er war es trotzdem. Weil es so sein musste.
Dann hörte er seinen Vater seufzen. Dann das Klirren des Schlüssels. Dann das Drehen.
Er lockerte den Griff um das Eisen …
Die Tür wurde einen Spalt weit aufgeschoben und –
Blitzschnell raste der Junge, der sich selbst Corper nennt, nach vorne und durchbrach die Tür mit der Eisenstange. Holz barste, daraufhin folgte ein schmatzendes Geräusch, als das Eisen, sein schönes Eisen, in den Bauch seines Vaters eindrang und ihn durchstach. Blut spritze durch das Loch in den Wandschrank, Knochensplitter flogen zu Boden.
Corper zog das Eisen aus dem Körper seines Vaters und donnerte die Tür auf. Vor ihm sah er seinen erschrockenen Vater, aus dessen Wunde endlos viel Blut floss und sich auf dem Laminatboden verteilte. Sein Blick war leer, sein Mund stand offen. Er versuchte etwas zu sagen, Worte, die nie wieder jemand hören würde, doch er brachte es nicht zustande, denn nach zwei Sekunden brach er zusammen und war tot.
Corper stand vor der Leiche seines Vaters, mit dem Eisen in der Hand. Der Himmel draußen war blutrot. Unten hörte er seine Mutter am Herd singen. Sein Bruder hörte laut Musik in seinem Zimmer.
Er kniete sich nieder und trank das Blut, das auf dem Laminatboden davonlief wie ein rauschender Bach.
Um das Herz würde er sich später kümmern.
Jetzt musste er erst den Rest seiner Familie erlösen.
Mit entschlossenem Blick ging der fünfjährige Junge, der sich selbst Corper nannte und die Stärke eines fünfzehnjährigen und die Intelligenz eines zwanzigjährigen Menschen besaß, auf das Zimmer seines Bruders zu.
Auf den Weg dorthin warf er sich die Kapuze seines schwarzen Pullovers über den Kopf.
Kummer … Leid … Schmerz …
Er trieb es den Menschen und Tieren aus. Er selbst aber musste ihre Qualen erleiden, weil er bleiben musste. Und jetzt liefen Tränen über seine Wangen. Sein Vater war weg, war gegangen, und er würde nie wieder mit ihm sprechen können.
Nur sein Blut und sein Herz blieben ihm.
Corper hatte das Zimmer seines Bruders erreicht und machte die Tür auf.
 
Am nächsten Morgen war das Grundstück abgesperrt.
Officer Georg stand erschrocken und fasziniert vor der Leiche der Frau. Ihr Gesicht war verbrannt. Vermutlich passiert, als man sie von hinten aufgespießt hatte. War einfach mit dem Gesicht auf den Herd gelandet.
Der Junge sah auch nicht besser aus. Die Musik hatte noch gespielt, als die Polizei, der Krankenwagen und die Spurensicherung heute Morgen angekommen waren. Wahrscheinlich hatte er sich aber gewehrt. Denn er besaß zwei Löcher. In seinem Bauch und in seinem Kopf. Der Anblick war widerlich und krank gewesen. Der Bengel wäre nächstes Jahr neunzehn geworden. Er hatte das Leben noch vor sich gehabt.
Allen drei Familienmitgliedern fehlte das Herz.
»Haben sie schon den anderen Jungen gefunden?«, fragte der Officer einen seiner Kollegen.
»Die Jungs des Suchtrupps suchen schon nach ihm, Sir.«, sagte der Polizist. »Glauben Sie, der Junge ist heimlich geflohen, oder wurde er verfolgt?«
»Ich weiß es nicht.«, sagte Officer Georg und schaute aus dem Fenster der Küche in die Vorgärten der Nachbarhäuser.
»Ich weiß es wirklich nicht.«

 

Dies ist die Vorgeschichte zu meiner anderen Kurzgeschichte "Stahl", die auch in der Kategorie Horror zu finden ist. Ich wünsche viel Spaß beim Lesen!

Marcel Hartlage
Marcel Hartlage, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.12.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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